G e s e t z
über die Gewährung von Straffreiheit.
Vom 31. Dezember 1949.
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
§ 1
Für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, die vor dem 15.
September 1949 begangen sind, wird nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Straffreiheit
gewährt:
§ 2
(1) Rechtskräftige Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten und
daneben ausgesprochene Geldstrafen bis zu 5.000 Deutsche Mark sowie rechtskräftige
Geldstrafen, bei denen die Ersatzfreiheitsstrafe nicht mehr als sechs Monate beträgt,
werden erlassen, soweit die Freiheitsstrafe noch nicht verbüßt oder die Geldstrafe noch
nicht gezahlt worden ist.
(2) Noch nicht verbüßte Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr und daneben
ausgesprochene, nicht gezahlte Geldstrafen bis zu 5.000 Deutsche Mark, auf die
rechtskräftig erkannt worden ist oder künftig erkannt wird, werden erlassen unter der
Bedingung, daß der Täter nicht binnen eines Zeitraumes von drei Jahren seit dem 15.
September 1949 ein Verbrechen oder ein vorsätzliches Vergehen verübt. Dies gilt nicht,
wenn der Täter aus Grausamkeit, aus ehrloser Gesinnung oder aus Gewinnsucht gehandelt
hat.
(3) Ist auf Jugendarrest rechtskräftig erkannt worden, so wird der noch nicht
verbüßte Arrest erlassen.
(4) Der Erlaß erstreckt sich nur auf Nebenstrafen, soweit sie noch nicht
vollstreckt sind, auf gesetzliche Nebenfolgen sowie auf rückständige Bußen, die in die
Staatskasse fließen, und auf rückständige Kosten.
§ 3
(1) Verfahren, die bei einem Gericht oder einer Staatsanwaltschaft
anhängig sind oder künftig anhängig werden, sind dort einzustellen, wenn eine
Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten allein oder in Verbindung mit einer Geldstrafe bis zu
5000 Deutsche Mark oder eine Geldstrafe zu erwarten ist, bei der die Ersatzfreiheitsstrafe
nicht mehr als sechs Monate beträgt.
(2) Verfahren, in denen auf Jugendarrest zu erkennen wäre, sind einzustellen.
(3) Ungeachtet der Einstellung kann in einem selbständigen Verfahren über
Einziehung, Abführung des Mehrerlöses, Verfallserklärung, Unbrauchbarmachung und die
Befugnis zur Beseitigung eines gesetzwidrigen Zustandes entschieden werden. Die §§ 430
bis 432 der Strafprozeßordnung sind anzuwenden.
§ 4
(1) Ist wegen mehrerer selbständiger Handlungen auf eine
Gesamtstrafe erkannt oder eine solche nachträglich zu bilden, so tritt Straferlaß ein,
wenn die Gesamtstrafe die in § 2 Absatz 1 genannte Grenze nicht
übersteigt. Eine höhere Gesamtstrafe ist bedingt zu erlassen, wenn sie die in § 2 Absatz 2 genannte Grenze nicht übersteigt.
(2) Eine Gesamtstrafe, die nach Absatz 1 erlassen werden könnte, aber teilweise
aus Einzelstrafen für eine nach dem 14. September begangene Tat gebildet wurde, ist
angemessen herabzusetzen. Die Entscheidung (§ 458 der Strafprozeßordnung) trifft das
Gericht, das die Gesamtstrafe ausgesprochen hat, durch unanfechtbaren Beschluß.
(3) Ist eine Gesamtstrafe, die nach Absatz 1 bedingt erlassen werden könnte,
teilweise aus Einzelstrafen für eine nach dem 14. September 1949 begangene Tat gebildet,
dann bestimmt das Gericht, welcher Teil der Strafe zu vollstrecken ist.
(4) Absatz 1 gilt sinngemäß für anhängige oder künftig anhängig werdende
Verfahren.
§ 5
(1) Das Gericht entscheidet über die Einstellung der bei ihm
anhängigen Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung durch Beschluß, gegen den sofortige
Beschwerde stattfindet, sofern nicht die Staatsanwaltschaft der Einstellung zustimmt.
(2) Ist ein Verfahren nach Absatz 1 eingestellt worden, so kann wegen der Tat nur
auf Grund neuer Tatsachen und Beweismittel, die zur Verurteilung zu einer über der
Straffreiheitsgrenze des § 2 Absatz 1 liegenden Strafe führen können,
Anklage erhoben werden.
§ 6
(1) Zieht das Gericht in der Hauptverhandlung die Einstellung des
Verfahrens gemäß § 3 in Erwägung, so ist dem Angeklagten Gelegenheit
zur Stellungnahme zu geben. Er kann, wenn er seine Unschuld behauptet, die Durchführung
des Verfahrens beantragen. Ebenso kann ein Beschuldigter, wenn das Gericht außerhalb der
Hauptverhandlung das Verfahren eingestellt hat, binnen einer Woche nach Zustellung des
Einstellungsbeschlusses die Durchführung des Verfahrens beantragen.
(2) Wird nach Durchführung des Verfahrens gemäß Absatz 1 nicht auf Freispruch,
sondern auf Einstellung des Verfahrens nach § 3 erkannt, so hat der
Angeklagte die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Beteiligten wie ein
Verurteilter zu tragen.
§ 7
(1) War das Verfahren auf Privatklage eingeleitet, so werden die
Kosten des Verfahrens niedergeschlagen. Privatkläger und Beschuldigter tragen ihre
eigenen Kosten.
(2) Entsprechendes gilt im Falle der Nebenklage.
§ 8
(1) Ist ein Verfahren wegen übler Nachrede, Verleumdung oder
falscher Anschuldigung nach diesem Gesetz eingestellt, so kann die Staatsanwaltschaft oder
der Privatkläger in einem besonderen Verfahren die Wahrheit, die Unwahrheit oder die
Nichterweisbarkeit der behaupteten ehrenrührigen Tatsache feststellen lassen.
(2) Die §§ 430 bis 432 der Strafprozeßordnung sind entsprechend anzuwenden. Der
Beschuldigte steht den im § 431 Absatz 2 der Strafprozeßordnung genannten Personen
gleich.
(3) Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bemißt sich nach den §§ 464
bis 474 der Strafprozeßordnung; dabei steht die Feststellung der Wahrheit der
ehrenrührigen Tatsache dem Freispruch, die Feststellung ihrer Unwahrheit oder
Nichterweisbarkeit der Verurteilung des Beschuldigten gleich.
§ 9
(1) Ohne Rücksicht auf die Art und Höhe der Strafe werden ferner
erlassen Strafen für Handlungen auf politischer Grundlage, die nach dem 8. Mai 1945
begangen und auf die besonderen politischen Verhältnisse der letzten Jahre
zurückzuführen sind.
(2) In demselben Umfange werden anhängige und künftig anhängig werdende
Strafverfahren eingestellt.
(3) Dies gilt nicht für Straftaten nach den §§ 168, 211 bis 213, 234, 249 bis
252, 306, 307 StGb., für Verbrechen nach dem Sprengstoffgesetz vom 9. Juni 1884 und für
Verbrechen, die aus Grausamkeit, aus ehrloser Gesinnung oder aus Gewinnsucht verübt
worden sind.
§ 10
(1) Für Straftaten die zwischen dem 10. Mai 1945 und dem
Inkrafttreten dieses Gesetzes zur Verschleierung des Personenstandes aus politischen
Gründen begangen wurden, wird, auch wenn sie nach dieser Zeit fortdauern, Straffreiheit
ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe gewährt, wenn der Täter bis
spätestens 31. März 1950 bei der Polizeibehörde seines Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes
freiwillig seine unwahren Angaben widerruft und bisher entgegen gesetzlicher Vorschrift
unterlassene Angaben nachholt.
(2) Dies gilt nicht für Straftaten nach den §§ 211 bis 213 StGB. und nicht für
Verbrechen, die aus Grausamkeit, aus ehrloser Gesinnung oder aus Gewinnsucht verübt
worden sind.
§ 11
(1) Rechtskräftig verhängte Ordnungsstrafen und Bußgelder bis
10 000 Deutsche Mark werden erlassen.
(2) Anhängige Verfahren sind einzustellen, wenn eine Ordnungsstrafe oder ein
Bußgeld bis zu 10 000 Deutsche Mark zu erwarten ist. § 3 Absatz 3 Satz
1 ist entsprechend anzuwenden.
(3) Die Zuständigkeit für die nach Absatz 1, 2 zu treffenden Feststellungen und
Entscheidungen und ihre Anfechtbarkeit bestimmt sich nach den für die Verhängung der
Ordnungsstrafe oder des Bußgeldes geltenden Vorschriften.
§ 12
Straffreiheit wird nicht gewährt für Steuervergehen
einschließlich der Vergehen nach Artikel IX des Anhangs zum Gesetz Nr. 64 der
Militärregierungen; die Gewährung von Straffreiheit für diese Straftaten nach anderen
gesetzlichen Vorschriften bleibt unberührt.
§ 13
Gesetze der Länder, die eine weitergehende Straffreiheit gewährt haben,
bleiben unberührt.
§ 14
Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft.
Das vorstehende Gesetz wird, nachdem der Bundesrat von seinem Einspruchsrecht
keinen Gebrauch gemacht hat, hiermit verkündet.
Bonn, den 31. Dezember 1949.
Der Bundespräsident
Theodor Heuss
Der Bundeskanzler
Adenauer
Der Bundesminister der Justiz
Dehler
|