Otto Grotewohl
[über]
DIE VERFASSUNG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
[1949]
Der Deutsche Volkskongreß wendet sich mit der von ihm bestätigten Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik an alle
Deutschen und unterbreitet damit den Plan der Reorganisation des deutschen Staates auf
demokratischer Grundlage.
Wir sind bei dem Ausbau dieser Verfassung keinen fremden
Vorbildern gefolgt. Für uns gab es nur einen Lehrmeister: unsere eigene Geschichte, die
so reich an Erfahrungen, so reich an Fehlschlägen und Enttäuschungen ist. Alles, was gut
und gesund in unserer Vergangenheit war, soll leben und eine bessere Zukunft beflügeln.
Wir halten an der Gliederung Deutschlands in Länder fest; wir halten fest an den alten
Farben von 1848 und der Weimarer Republik: Schwarz-Rot-Gold. Wir
halten an der traditionellen Hauptstadt Berlin fest. Wir bekennen uns zu der
einheitlichen Staatsangehörigkeit. Das besagen die Anfangsartikel der Verfassung.
Wir haben und bemüht, die Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen, insbesondere die
Lehren aus den fehlgeschlagenen demokratischen Revolutionen von 1848 und 1918, die nicht
zur Bildung eines wahrhaften Nationalstaates auf demokratischer Grundlage geführt haben.
Das traditionelle deutsche Staatswesen hat nicht den Boden des Obrigkeitsstaates
verlassen, und das wurde unserem Volke zum Verhängnis. Unser Volk blieb in der
Vergangenheit immer von der Staatsmacht ausgeschlossen.
Der alte Obrigkeitsstaat muß daher durch einen wahrhaft demokratischen Staat abgelöst
werden; die Volksfremdheit des Staates muß ebenso überwunden werden wie die
Staatsfremdheit des Volkes. Der alte Obrigkeitsstaat hat das Volk in die Katastrophe
zweier Weltkriege geführt. Nur die feste Verankerung der Staatsgewalt im Volke ist die
Gewähr für die Stärke und die Lebensfähigkeit der Nation. So ergab sich für uns
die Notwendigkeit, den Grundsatz der Volkssouveränität allseitig auszubauen und zum
Eckstein des Verfassungsneubaues zu machen.
Entsprechend diesem Grundsatz der Volkssouveränität bekennt sich die Verfassung eindeutig und klar zur parlamentarischen
Republik. Die Volksvertretung, Volkskammer genannt, ist das höchste Organ der Republik.
Sie ist ein wahrhaftes Volksparlament, das unmittelbar aus dem Volke hervorgeht und vom
Volke aufgelöst werden kann, wenn es das Vertrauen des Volkes nicht mehr besitzt. Die
Volkskammer besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes, die in allgemeiner,
gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen
des Verhältniswahlrechtes auf die Dauer von vier Jahren gewählt werden.
Wahlberechtigt ist jeder Deutsche, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Das Recht,
Abgeordnete aufzustellen, haben alle Vereinigungen, die nach ihrer Satzung die
demokratische Gestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens der Republik
erstreben und deren Organisation das ganze Staatsgebiet umfaßt. Damit haben also nicht
nur die politischen Parteien, sondern auch die großen Massenorganisationen, wie etwa
Gewerkschaften, Frauen- und Jugendverbände, das Recht, ihre Vertretungen für die
Volkskammer aufzustellen.
Die Volkskammer - Volksvertretung im wahrsten Sinne des Wortes, berufene Repräsentanten
der großen demokratischen Parteien und Massenorganisationen - ist nicht, wie der
"Bundestag" des Bonner Grundgesetzes,
zur Machtlosigkeit verdammt. Sie steht auch nicht, wie der Reichstag der Weimarer
Republik, unter der Diktaturgewalt eines Reichspräsidenten, der die Volksvertretung
jederzeit auseinanderjagen und auf Grund eines Art. 48
[der Weimarer Reichsverfassung] selbstherrliche
Gesetze erlassen kann. Die Volkskammer ist vielmehr der
höchste Machtträger im Staate, der souveräne Gestalter des staatlichen,
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, durch nichts beschränkt als durch die Verfassung, die die Rechte des Volkes und jedes Bürgers
festlegt. Mit diesem Grundsatz der Parlamentshoheit bringen wir das demokratische Prinzip
zum Durchbruch, dessen Verwirklichung weder 1848 noch 1918 gelang.
Es gibt nur einen Garanten gegen die volksfeindliche Politik der Staatsmacht, und dieser
Garant ist das Volk selbst. Darum ist in dieser Verfassung
die staatliche Exekutivgewalt und damit der gesamte Staatsapparat der Volksvertretung
nicht übergeordnet, sondern untergeordnet. Auch die Regierung ist nichts als ein
Vertrauensgremium der Volkskammer selbst und wird aus den Vertrauensleuten der in der
Volkskammer vertretenen Parteien und Organisationen zusammengesetzt, und zwar - auch das
ist etwas Neues - daß jede Fraktion, die die Stärke von 40 Mann erreicht hat, durch
die Verfassung zur Mitarbeit an der Regierung
verpflichtet wird.
Es darf keine verantwortungslose Opposition im Parlament der neuen deutschen Demokratie
geben, die ihre ganze Funktion nur darin sieht, Obstruktion zu treiben. Es darf sich
keine Partei oder Organisation, wenn sie ihre Listen zur Parlamentswahl einreicht, vor der
Mitarbeit und Mitverantwortung in der Regierung drücken. Wer in das Parlament einzieht,
der muß mitarbeiten; den die Volksvertretung, die wir schaffen müssen, die selbst
alle wichtigen gesetzgebenden, administrativen und auch wirtschaftlichen Entscheidungen
trifft und deren Ausführung überwacht, soll ein arbeitendes Parlament sein.
Der Parlament der Weimarer Verfassung konnte gegen die
allmächtige Staatsbürokratie mit dem Reichspräsidenten an der Spitze, der den Reichstag
jederzeit auflösen konnte, nichts ausrichten. Es konnte gegen die Justiz nichts
ausrichten, die seinen Gesetzen den Gehorsam verweigerte und deren Rechtsprechung oft ein
Hohn auf die Demokratie war. Das Parlament der Weimarer Republik konnte schließlich auch
gegen die herrschenden Wirtschaftsmächte nichts ausrichten, weil der Reichspräsident
sich schützend vor sie stellte. Die Volkskammer unserer Verfassung
hingegen ist dieser Dreieinigkeit Staatsapparat, Justiz und Wirtschaft - nicht
untergeordnet, sondern übergeordnet, denn sie ist Träger der höchsten Staatsmacht. Die
Volkskammer ernennt die Regierung, bestimmt die Richtlinien ihrer Politik und kontrolliert
die Regierung in ihrer gesamten staatlichen Tätigkeit, sie trägt also für die gesamte
Regierungstätigkeit die Verantwortung vor dem Volke. Die Volkskammer ernennt weiterhin
die Richter des höchsten Gerichts und den höchsten Staatsanwalt und kann sie unter
gewissen Voraussetzungen abberufen, wenn sie gegen die Verfassung
und die Gesetze verstoßen und ihre Pflichten als Richter oder als Staatsanwalt gröblich
verletzten. Die Volkskammer trägt also für die Rechtsprechung die höchste
Verantwortung.
Die Gestaltung der Wirtschaftspolitik schafft gleichzeitig die Grundlagen für ein reale
Demokratie, weil sie das Aufkommen neuer Machtpositionen des Monopolkapitals verhindert.
Die Verfassung besagt, daß die Wirtschaft allen ein
menschenwürdiges Dasein zu sichern und dem Wohle des ganzen Volkes und der Deckung seines
Bedarfes zu dienen habe. Dieses Recht der Bürger wie auch das Recht eines jeden auf
Arbeit zu verwirklichen, ist die Aufgabe der Volkskammer. Sie hat zu diesem Zweck den
Wirtschaftsplan aufzustellen und seine Durchführung zu überwachen. So steigt die
Volksvertretung zu einer machtvollen Institution empor, zu dem wahrhaften Herrn im Staate
und zum souveränen Gestalter des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Ganzem. In der Hand der Volksvertretung liegt es, das staatliche, wirtschaftliche und
gesellschaftliche Leben so zu gestalten, wie es dem Willen der Nation und dem Wohle des
Volkes entspricht. Sie hat ferner das Recht der Nationalisierung von Industriezweigen,
wenn es das Interesse des deutschen Volkes erheischt. Hier stößt die Verfassung in die Grundfragen menschlichen Schaffens und
Lebens vor und versucht, den Menschen herauszulösen aus den quälenden Bedingungen einer
Wirtschaft, die ihn von Krise zu Krise jagt und ihm schließlich nur noch die Möglichkeit
gibt, auf diesem oder jenem Schlachtfelde sinnlos zu verbluten.
Eine Sonderheit der Verfassung, die sie von allen
bisherigen deutschen Verfassungen abhebt, bedarf noch der besonderen Hervorhebung: die
Grundrecht der Bürger und des Volkes und ihre Garantie. Der zweite und zentrale Abschnitt der Verfassung befaßt sich mit den Grundrechten der Bürger
und des Volkes, die - ganz im Gegensatz zu den "Grundrechten" des Bonner Grundgesetzes - als umfassende
Herrschaftsrechte des souveränen Volkes ausgebaut sind. Sie beginnen mit den
persönlichen Grundrechten, das heißt den Rechten der Bürger auf persönliche Freiheit
gegenüber die Willkür der Staatsgewalt. Hier ist festgelegt der Grundsatz der
Gleichheit, der persönlichen Freiheit, des Rechts auf freie Meinungsäußerung, des
Versammlungsrechts, des Vereinigungsrechts und anderes mehr.
Die politische Betätigung und Meinungsbildung ist frei, aber nicht so frei wie in der
Weimarer Republik, die den wütenden Feinden der Demokratie, dem politischen
Verbrechertum, die Freiheit seiner Entwicklung gewährte. Hemmungslosigkeit ist keine
Freiheit. Wir brauchen eine Demokratie, die sich gegen ihre Feinde zu verteidigen versteht
und dazu auch über die nötigen Mittel und Organe verfügt. Wir dürfen faschistische
Tendenzen im politischen Leben unserer künftigen Republik niemals wieder dulden. Parteien
oder Gruppierungen, die sich auf der Grundlage solcher Ideologien bilden, sind nicht nur
mit politischen Mitteln zu bekämpfen, sondern sie sind durch die Strafgewalt des Staates
zu unterdrücken. Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen,
Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß,
militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen
die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.
Es folgen die sozialistischen Grundrechte, die Rechte gegenüber wirtschaftlicher
Willkür. Hier stehen an der Spitze das Koalitionsrecht und das Streikrecht; es folgen das
Recht auf Arbeit, das der Staat durch Wirtschaftslenkung zu sichern hat, das Recht
auf Urlaub und Erholung, auf Versorgung bei Krankheit und im Alter, das
Mitbestimmungsrecht der Arbeiter bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie
der Produktion. Sodann setzt die Verfassung auch
die Grundsätze für ein einheitliches Arbeitsrecht fest.
Die weiteren Abschnitte der Grundrechte behandeln Familie und Mutterschaft. Ausführlich
werden Fragen der Erziehung und Bildung behandelt. Hier ist das Recht jedes Bürgers auf
Bildung und auf die freie Wahl seines Berufes ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche
Position festgelegt. Schließlich werden Religion- und Religionsgemeinschaften behandelt.
Alle Bürger genießen Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung
steht unter dem Schutz der Republik. Die Religionsgemeinschaften behalten die
privilegierte Stellung, die sie bisher in Deutschland hatten.
Alle diese Grundrecht der Bürger und des Volkes, so sehr sie im einzelnen auch denen der Weimarer Verfassung ähneln mögen, sind in einem von dieser Verfassung doch grundlegend verschieden: sie haben reale
Garantien. Während die Grundrechte der Weimarer Verfassung
in der Luft hingen, bestimmt unserer Verfassung, daß
alle in ihr festgelegten Prinzipien der Gesetzgebung sofort unmittelbar geltendes Recht
sind.
Das Neuartige der Verfassung besteht darin, daß die
Grundrechte der Bürger und des Volkes zum Inhalt der Staatsgewalt selbst erhoben sind.
Verläßt die Staatsgewalt den Boden der Verfassung oder
weigert sie sich, die Verfassung durchzuführen, so
tritt das heilige Recht des Volkes auf Widerstand gegen die Machtursurpation und Willkür
in Kraft. So treten die Hoheit und die Souveränität des Volkes in der Verfassung selbst hervor.
Schaffen wir eine Verfassung, die den innersten Interessen unseres Volkes entspricht, dem
Drang nach einem freien, friedlichen, aufbauenden Leben, nach Teilnahme des Volkes an der
Gestaltung seines eigenen Staates und seiner Gemeinschaft! Heben wir unseres Volk selbst
in die Staatsmacht, legen wir in seine Hand die Verwirklichung eines solchen Lebens, sagen
wie dem verfluchten Untertanengeist, der alle Aktivitäten und Lebensfreude erstickt,
unseren erbarmungslosen Kampf an, dann brauchen wir um die Verwirklichung dieser Verfassung und um die Wiedergeburt des deutschen Volkes zu
einer freien, friedlichen und in der Welt geachteten Nation nicht mehr in Sorge
zu sein.
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