Die Verfassung des Deutschen Reichs
["Weimarer Reichsverfassung"]
vom 11. August 1919
[ INHALTSVERZEICHNIS:
ERSTER HAUPTTEIL (Aufbau und Aufgaben des Reichs)
Erster Abschnitt: Reich und Länder (Artikel 1 bis 19)
Zweiter Abschnitt: Der Reichstag (Artikel 20 bis 40)
Dritter Abschnitt: Der Reichspräsident und die
Reichsregierung (Artikel 41 bis 59)
Vierter Abschnitt: Der Reichsrat (Artikel 60 bis 67)
Fünfter Abschnitt: Die Reichsgesetzgebung (Artikel 68 bis
77)
Sechster Abschnitt: Die Reichsverwaltung (Artikel 78 bis
101)
Siebenter Abschnitt: Die Rechtspflege (Artikel 102 bis 108)
ZWEITER HAUPTTEIL (Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen)
Erster Abschnitt: Die Einzelperson (Artikel 109 bis 118)
Zweiter Abschnitt: Das Gemeinschaftsleben (Artikel 119 bis
134)
Dritter Abschnitt: Religion und Religionsgesellschaften
(Artikel 135 bis 141)
Vierter Abschnitt: Bildung und Schule (Artikel 142 bis 150)
Fünfter Abschnitt: Das Wirtschaftsleben (Artikel 151 bis
165)
ÜBERGANGS- UND SCHLUßBESTIMMUNGEN (Artikel 166 bis
181)
SCHLAGWORTINDEX ]
Präambel
Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in
Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und dem äußeren
Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese
Verfassung gegeben.
ERSTER HAUPTTEIL
Aufbau und Aufgaben des Reichs
ERSTER ABSCHNITT
Reich und Länder
Artikel 1
(1) Das Deutsche Reich ist eine Republik.
(2) Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Artikel 2
(1) Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Andere Gebiete
können durch Reichsgesetz in das Reich aufgenommen werden, wenn es ihre Bevölkerung
kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt.
Artikel 3
(1) Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit
den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke.
Artikel 4
(1) Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile
des deutschen Reichsrechts.
Artikel 5
(1) Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reichs auf Grund
der Reichsverfassung, in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der
Landesverfassungen ausgeübt.
Artikel 6
(1) Das Reich hat die ausschließliche Gesetzgebung über:
1. die Beziehungen zum Ausland;
2. das Kolonialwesen;
3. die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, die Ein- und Auswanderung und die
Auslieferung;
4. die Wehrverfassung;
5. das Münzwesen;
6. das Zollwesen sowie die Einheit des Zoll- und Handelsgebiets und die Freizügigkeit des
Warenverkehrs;
7. das Post- und Telegraphenwesen einschließlich des Fernsprechwesens.
Artikel 7
(1) Das Reich hat die Gesetzgebung über:
1. das bürgerliche Recht;
2. das Strafrecht;
3. das gerichtliche Verfahren einschließlich des Strafvollzugs sowie die Amtshilfe
zwischen Behörden;
4. das Paßwesen und die Fremdenpolizei;
5. das Armenwesen und die Wandererfürsorge;
6. das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen;
7. die Bevölkerungspolitik, die Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge;
8. das Gesundheitswesen, das Veterinärwesen und den Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten
und Schädlinge;
9. das Arbeitsrecht, die Versicherung und den Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie
den Arbeitsnachweis;
10. die Einrichtung beruflicher Vertretungen für das Reichsgebiet;
11. die Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen;
12. das Enteignungsrecht;
13. die Vergesellschaftung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unternehmungen sowie
die Erzeugung, Herstellung, Verteilung und Preisgestaltung wirtschaftlicher Güter für
die Gemeinwirtschaft;
14. den Handel, das Maß- und Gewichtswesen, die Ausgabe von Papiergeld, das Bankwesen
sowie das Börsenwesen;
15. den Verkehr mit Nahrungs- und Genußmitteln sowie mit Gegenständen des täglichen
Bedarfs;
16. das Gewerbe und den Bergbau;
17. das Versicherungswesen;
18. die Seeschiffahrt, die Hochsee- und die Küstenfischerei;
19. die Eisenbahnen, die Binnenschiffahrt, den Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Lande, zu
Wasser und in der Luft, sowie den Bau von Landstraßen, soweit es sich um den allgemeinen
Verkehr und die Landesverteidigung handelt;
20. das Theater- und Lichtspielwesen.
Artikel 8
(1) Das Reich hat ferner die Gesetzgebung über die Abgaben und sonstigen Einnahmen,
soweit sie ganz oder teilweise für seine Zwecke in Anspruch genommen werden. Nimmt das
Reich Abgaben oder sonstige Einnahmen in Anspruch, die bisher den Ländern zustanden, so
hat es auf die Erhaltung der Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen.
Artikel 9
(1) Soweit ein Bedürfnis für den Erlaß einheitlicher Vorschriften vorhanden ist, hat
das Reich die Gesetzgebung über:
1. die Wohlfahrtspflege;
2. den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.
Artikel 10
(1) Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für:
1. die Rechte und Pflichten der Religionsgesellschaften;
2. das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens und das wissenschaftliche
Büchereiwesen;
3. das Recht der Beamten aller öffentlichen Körperschaften;
4. das Bodenrecht, die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und Heimstättenwesen, die
Bindung des Grundbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung;
5. das Bestattungswesen.
Artikel 11
(1) Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze über die Zulässigkeit und
Erhebungsart von Landesabgaben aufstellen, soweit sie erforderlich sind, um
1. Schädigung der Einnahmen oder der Handelsbeziehungen des Reichs,
2. Doppelbesteuerungen,
3. übermäßige oder verkehrshindernde Belastung der Benutzung öffentlicher Verkehrswege
und Einrichtungen mit Gebühren,
4. steuerliche Benachteiligungen eingeführter Waren gegenüber den eigenen Erzeugnissen
im Verkehre zwischen den einzelnen Ländern und Landesteilen oder
5. Ausfuhrprämien
auszuschließen oder wichtige Gesellschaftsinteressen zu wahren.
Artikel 12
(1) Solange und soweit das Reich von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht,
behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung. Dies gilt nicht für die ausschließliche
Gesetzgebung des Reichs.
(2) Gegen Landesgesetze, die sich auf Gegenstände des Artikel 7
Ziffer 13 beziehen, steht der Reichsregierung, sofern dadurch das Wohl der Gesamtheit im
Reiche berührt wird, ein Einspruchsrecht zu.
Artikel 13
(1) Reichsrecht bricht Landrecht.
(2) Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche
Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- oder
Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines
obersten Gerichtshofs des Reichs anrufen.
[Art. 13 Abs. 2 wurde durch Reichsgesetz
zur Ausführung des Artikel 13 Abs. 2 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 8. April
1920 konkretisiert.]
Artikel 14
(1) Die Reichsgesetze werden durch die Landesbehörden ausgeführt, soweit nicht die
Reichsgesetze etwas anderes bestimmen.
Artikel 15
(1) Die Reichsregierung übt die Aufsicht in den Angelegenheiten aus, in denen dem Reiche
das Recht der Gesetzgebung zusteht.
(2) Soweit die Reichsgesetze von den Landesbehörden auszuführen sind, kann die
Reichsregierung allgemeine Anweisungen erlassen. Sie ist ermächtigt, zur Überwachung der
Ausführung der Reichsgesetze zu den Landeszentralbehörden und mit ihrer Zustimmung zu
den unteren Behörden Beauftragte zu entsenden.
(3) Die Landesregierungen sind verpflichtet, auf Ersuchen der Reichsregierung Mängel, die
bei der Ausführung der Reichsgesetze hervorgetreten sind, zu beseitigen. Bei
Meinungsverschiedenheiten kann sowohl die Reichsregierung als die Landesregierung die
Entscheidung des Staatsgerichtshofs anrufen, falls nicht durch Reichsgesetz ein anderes
Gericht bestimmt ist.
Artikel 16
(1) Die mit der unmittelbaren Reichsverwaltung in den Ländern betrauten Beamten sollen in
der Regel Landesangehörige sein. Die Beamten, Angestellten und Arbeiter der
Reichsverwaltung sind auf ihren Wunsch in ihren Heimatgebieten zu verwenden, soweit dies
möglich ist und nicht Rücksichten auf ihre Ausbildung oder Erfordernisse des Dienstes
entgegenstehen.
Artikel 17
(1) Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volksvertretung muß in
allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern
und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Landesregierung
bedarf des Vertrauens der Volksvertretung.
(2) Die Grundsätze für die Wahlen zur Volksvertretung gelten auch für die
Gemeindewahlen. Jedoch kann durch Landesgesetz die Wahlberechtigung von der Dauer des
Aufenthalts in der Gemeinde bis zu einem Jahre abhängig gemacht werden.
Artikel 18
(1) Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des
Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung
des Volkes dienen. Die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern
innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz.
(2) Stimmen die unmittelbar beteiligten Länder zu, so bedarf es nur eines einfachen
Reichsgesetzes.
(3) Ein einfaches Reichsgesetz genügt ferner, wenn eines der beteiligten Länder nicht
zustimmt, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung
gefordert wird und ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischt.
(4) Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung festzustellen. Die Reichsregierung
ordnet die Abstimmung an, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner
des abzutrennenden Gebiets es verlangt.
(5) Zum Beschluß einer Gebietsänderung oder Neubildung sind drei Fünftel der
abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten
erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtrennung eines Teiles eines preußischen
Regierungsbezirkes, eines bayerischen Kreises oder in anderen Ländern eines
entsprechenden Verwaltungsbezirkes handelt, ist der Wille der Bevölkerung des ganzen in
Betracht kommenden Bezirkes festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des
abzutrennenden Gebiets mit dem Gesamtbezirke nicht besteht, kann auf Grund eines
besonderen Reichsgesetzes der Wille der Bevölkerung des abzutrennenden Gebiets als
ausreichend erklärt werden.
(6) Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung hat die Reichsregierung dem
Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlußfassung vorzulegen.
(7) Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit über die
Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der
Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich.
Artikel 19
(1) Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer
Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen
verschiedenen Ländern oder zwischen dein Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag
eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht
ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist.
(2) Der Reichspräsident vollstreckt das Urteil des Staatsgerichtshofs.
ZWEITER ABSCHNITT
Der Reichstag
Artikel 20
(1) Der Reichstag besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes.
Artikel 21
(1) Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen
unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.
Artikel 22
(1) Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von
den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der
Verhältniswahl gewählt. Der Wahltag muß ein Sonntag oder öffentlicher Ruhetag sein.
(2) Das Nähere bestimmt das Reichswahlgesetz.
Artikel 23
(1) Der Reichstag wird auf vier Jahre gewählt. Spätestens am sechzigsten Tage nach ihrem
Ablauf muß die Neuwahl stattfinden.
(2) Der Reichstag tritt zum ersten Male spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl
zusammen.
Artikel 24
(1) Der Reichstag tritt in jedem Jahre am ersten Mittwoch des November am Sitze der
Reichsregierung zusammen. Der Präsident des Reichstags muß ihn früher berufen, wenn es
der Reichspräsident oder mindestens ein Drittel der Reichstagsmitglieder verlangt.
(2) Der Reichstag bestimmt den Schluß der Tagung und den Tag des Wiederzusammentritts.
Artikel 25
(1) Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen
Anlaß.
(2) Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt.
Artikel 26
(1) Der Reichstag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und seine
Schriftführer. Er gibt sich seine Geschäftsordnung.
Artikel 27
(1) Zwischen zwei Tagungen oder Wahlperioden führen Präsident und Stellvertreter der
letzten Tagung ihre Geschäfte fort.
Artikel 28
(1) Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Reichstagsgebäude aus. Ihm
untersteht die Hausverwaltung; er verfügt über die Einnahmen und Ausgaben des Hauses
nach Maßgabe des Reichshaushalts und vertritt das Reich in allen Rechtsgeschäften und
Rechtsstreitigkeiten seiner Verwaltung.
Artikel 29
(1) Der Reichstag verhandelt öffentlich. Auf Antrag von fünfzig Mitgliedern kann mit
Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.
Artikel 30
(1) Wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des
Reichstags, eines Landtags oder ihrer Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit
frei.
Artikel 31
(1) Bei dem Reichstag wird ein Wahlprüfungsgericht gebildet. Es entscheidet auch über
die Frage, ob ein Abgeordneter die Mitgliedschaft verloren hat.
(2) Das Wahlprüfungsgericht besteht aus Mitgliedern des Reichstags, die dieser für die
Wahlperiode wählt, und aus Mitgliedern des Reichsverwaltungsgerichts, die der
Reichspräsident auf Vorschlag des Präsidiums dieses Gerichts bestellt.
(3) Das Wahlprüfungsgericht erkennt auf Grund öffentlicher mündlicher Verhandlung durch
drei Mitglieder des Reichstags und zwei richterliche Mitglieder.
(4) Außerhalb der Verhandlungen vor dem Wahlprüfungsgerichte wird das Verfahren von
einem Reichsbeauftragten geführt, den der Reichspräsident ernennt. Im übrigen wird das
Verfahren von dem Wahlprüfungsgerichte geregelt.
Artikel 32
(1) Zu einem Beschlusse des Reichstags ist einfache Stimmenmehrheit erforderlich, sofern
die Verfassung kein anderes Stimmenverhältnis vorschreibt. Für die vom Reichstag
vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen.
(2) Die Beschlußfähigkeit wird durch die Geschäftsordnung geregelt.
Artikel 33
(1) Der Reichstag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit des Reichskanzlers und
jedes Reichsministers verlangen.
(2) Der Reichskanzler, die Reichsminister und die von ihnen bestellten Beauftragten haben
zu den Sitzungen des Reichstags und seiner Ausschüsse Zutritt. Die Länder sind
berechtigt, in diese Sitzungen Bevollmächtigte zu entsenden, die den Standpunkt ihrer
Regierung zu dem Gegenstande der Verhandlung darlegen.
(3) Auf ihr Verlangen müssen die Regierungsvertreter während der Beratung, die Vertreter
der Reichsregierung auch außerhalb der Tagesordnung gehört werden.
(4) Sie unterstehen der Ordnungsgewalt des Vorsitzenden.
Artikel 34
(1) Der Reichstag hat das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die
Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher
Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Die
Öffentlichkeit kann vom Untersuchungsausschuß mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen
werden. Die Geschäftsordnung regelt das Verfahren des Ausschusses und bestimmt die Zahl
seiner Mitglieder.
(2) Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser
Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf
Verlangen vorzulegen.
(3) Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die
Vorschriften der Strafprozeßordnung sinngemäße Anwendung, doch bleibt das Brief-,
Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis unberührt.
Artikel 35
(1) Der Reichstag bestellt einen ständigen Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten,
der auch außerhalb der Tagung des Reichstags und nach der Beendigung der Wahlperiode oder
der Auflösung des Reichstags bis zum Zusammentritte des neuen Reichstags tätig werden
kann. Die Sitzungen dieses Ausschusses sind nicht öffentlich, wenn nicht der Ausschuß
mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit beschließt.
(2) Der Reichstag bestellt ferner zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber
der Reichsregierung für die Zeit außerhalb der Tagung und nach Beendigung einer
Wahlperiode einen ständigen Ausschuß.
[Neue Fassung des Absatzes 2 durch Reichsgesetz vom 15.12.1923 (RGBl. 1923 I, S. 1185):
(2) Der Reichstag bestellt ferner zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber
der Reichsregierung für die Zeit außerhalb der Tagung und nach Beendigung einer
Wahlperiode oder der Auflösung des Reichstags bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags
einen ständigen Ausschuß.]
(3) Diese Ausschüsse haben die Rechte von Untersuchungsausschüssen.
Artikel 36
(1) Kein Mitglied des Reichstags oder eines Landtags darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner
Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs getanen Äußerungen gerichtlich oder
dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen
werden.
Artikel 37
(1) Kein Mitglied des Reichstags oder eines Landtags kann ohne Genehmigung des Hauses, dem
der Abgeordnete angehört, während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten
Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß das Mitglied
bei Ausübung der Tat oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen ist.
(2) Die gleiche Genehmigung ist bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit
erforderlich, die die Ausübung des Abgeordnetenberufs beeinträchtigt.
(3) Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied des Reichstags oder eines Landtags und jede
Haft oder sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit wird auf Verlangen des
Hauses, dem der Abgeordnete angehört, für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.
Artikel 38
(1) Die Mitglieder des Reichstags und der Landtage sind berechtigt, über Personen, die
ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordneten Tatsachen anvertrauen, oder denen sie in
Ausübung ihres Abgeordnetenberufs solche anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen
selbst das Zeugnis zu verweigern. Auch in Beziehung auf Beschlagnahme von Schriftstücken
stehen sie den Personen gleich, die ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht haben.
(2) Eine Durchsuchung oder Beschlagnahme darf in den Räumen des Reichstags oder eines
Landtags nur mit Zustimmung des Präsidenten vorgenommen werden.
Artikel 39
(1) Beamte und Angehörige der Wehrmacht bedürfen zur Ausübung ihres Amtes als
Mitglieder des Reichstags oder eines Landtags keines Urlaubs.
(2) Bewerben sie sich um einen Sitz in diesen Körperschaften, so ist ihnen der zur
Vorbereitung ihrer Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren.
Artikel 40
(1) Die Mitglieder des Reichstags erhalten das Recht zur freien Fahrt auf allen deutschen
Eisenbahnen sowie Entschädigung nach Maßgabe eines Reichsgesetzes.
[Artikel 40a eingefügt durch Gesetz zur Ergänzung der Reichsverfassung vom 22.05.1926
(RGBl. 1926 I, S. 243):
Artikel 40a
(1) Die Vorschriften der Artikel 36, 37, 38 Abs. 1 und 39 Abs. 1 gelten für den
Präsidenten des Reichstags, seine Stellvertreter und die ständigen und ersten
stellvertretenden Mitglieder der im Artikel 35 bezeichneten Ausschüsse auch für die Zeit
zwischen zwei Tagungen (Sitzungsperioden) oder Wahlperioden des Reichstags.
(2) Das gleiche gilt für den Präsidenten eines Landtags, seine Stellvertreter und die
ständigen und ersten stellvertretenden Mitglieder von Ausschüssen eines Landtags, wenn
sie nach der Landesverfassung außerhalb der Tagung (Sitzungsperiode) oder Wahlperiode
tätig werden können.
(3) Soweit Artikel 37 eine Mitwirkung des Reichstags oder eines Landtags vorsieht, tritt
der Ausschuß zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung an die Stelle des Reichstags und,
falls Ausschüsse des Landtags fortbestehen, der vom Landtag bestimmte Ausschuß an die
Stelle des Landtags.
(4) Die im Abs. 1 bezeichneten Personen haben zwischen zwei Wahlperioden die im Artikel 40
bezeichneten Rechte.]
DRITTER ABSCHNITT
Der Reichspräsident und die Reichsregierung
Artikel 41
(1) Der Reichspräsident wird vom ganzen deutschen Volke gewählt.
(2) Wählbar ist jeder Deutsche, der das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet hat.
(3) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.
Artikel 42
(1) Der Reichspräsident leistet bei der Übernahme seines Amtes vor dem Reichstag
folgenden Eid:
(2) Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen
Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Verfassung und die Gesetze des Reichs wahren,
meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.
(3) Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig.
Artikel 43
(1) Das Amt des Reichspräsidenten dauert sieben Jahre. Wiederwahl ist zulässig.
(2) Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des Reichstags durch
Volksabstimmung abgesetzt werden. Der Beschluß des Reichstags erfordert
Zweidrittelmehrheit. Durch den Beschluß ist der Reichspräsident an der ferneren
Ausübung des Amtes verhindert. Die Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt
als neue Wahl und hat die Auflösung des Reichstags zur Folge.
(3) Der Reichspräsident kann ohne Zustimmung des Reichstags nicht strafrechtlich verfolgt
werden.
Artikel 44
(1) Der Reichspräsident kann nicht zugleich Mitglied des Reichstags sein.
Artikel 45
(1) Der Reichspräsident vertritt das Reich völkerrechtlich. Er schließt im Namen des
Reichs Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten. Er beglaubigt und
empfängt die Gesandten.
(2) Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen durch Reichsgesetz.
(3) Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der
Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstags.
Artikel 46
(1) Der Reichspräsident ernennt und entläßt die Reichsbeamten und die Offiziere, soweit
nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Er kann das Ernennungs- und
Entlassungsrecht durch andere Behörden ausüben lassen.
Artikel 47
(1) Der Reichspräsident hat den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reichs.
Artikel 48
(1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden
Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten
Macht anhalten.
(2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und
Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit
Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in
den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123,
124 und 153 festgesetzten
Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.
(3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der
Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf
Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen.
(4) Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen
der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des
Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen.
(5) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.
Artikel 49
(1) Der Reichspräsident übt für das Reich das Begnadigungsrecht aus.
(2) Reichsamnestien bedürfen eines Reichsgesetzes.
Artikel 50
(1) Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete
der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler
oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung
übernommen.
Artikel 51
(1) Der Reichspräsident wird im Falle seiner Verhinderung durch den Reichskanzler
vertreten. Dauert die Verhinderung voraussichtlich längere Zeit, so ist die Vertretung
durch ein Reichsgesetz zu regeln.
[Neue Fassung des Absatzes 1 durch Reichsgesetz zur Änderung der Reichsverfassung vom
17.12.1931 (RGBl. 1932 I, S. 547):
(1) Der Reichspräsident wird im Falle seiner Verhinderung durch den Präsidenten des
Reichsgerichts vertreten.]
(2) Das gleiche gilt für den Fall einer vorzeitigen Erledigung der Präsidentschaft bis
zur Durchführung der neuen Wahl.
Artikel 52
(1) Die Reichsregierung besteht aus dem Reichskanzler und den Reichsministern.
Artikel 53
(1) Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom
Reichspräsidenten ernannt und entlassen.
Artikel 54
(1) Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des
Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag
durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.
Artikel 55
(1) Der Reichskanzler führt den Vorsitz in der Reichsregierung und leitet ihre Geschäfte
nach einer Geschäftsordnung, die von der Reichsregierung beschlossen und vom
Reichspräsidenten genehmigt wird.
Artikel 56
(1) Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber
dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister
den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig und unter eigener Verantwortung
gegenüber dem Reichstag.
Artikel 57
(1) Die Reichsminister haben der Reichsregierung alle Gesetzentwürfe, ferner
Angelegenheiten, für welche Verfassung oder Gesetz dieses vorschreiben, sowie
Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die den Geschäftsbereich mehrerer Reichsminister
berühren, zur Beratung und Beschlußfassung zu unterbreiten.
Artikel 58
(1) Die Reichsregierung faßt ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit
entscheidet die Stimme des Vorsitzenden.
Artikel 59
(1) Der Reichstag ist berechtigt, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die
Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, daß sie
schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt haben. Der Antrag
auf Erhebung der Anklage muß von mindestens hundert Mitgliedern des Reichstags
unterzeichnet sein und bedarf der Zustimmung der für Verfassungsänderungen
vorgeschriebenen Mehrheit. Das Nähere regelt das Reichsgesetz über den
Staatsgerichtshof.
VIERTER ABSCHNITT
Der Reichsrat
Artikel 60
(1) Zur Vertretung der deutschen Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs
wird ein Reichsrat gebildet.
Artikel 61
(1) Im Reichsrat hat jedes Land mindestens eine Stimme. Bei den größeren Ländern
entfällt auf eine Million Einwohner eine Stimme. Ein Überschuß, der mindestens der
Einwohnerzahl des kleinsten Landes gleichkommt, wird einer vollen Million gleichgerechnet
39. Kein Land darf durch mehr als zwei Fünftel aller Stimmen vertreten sein.
[Neue Fassung des Absatzes 1 durch Reichsgesetz
über die Vertretung der Länder im Reichsrat vom 24.03.1921 (RGBl. 1921, S. 440):
(1) Im Reichsrat hat jedes Land mindestens eine Stimme. Bei den größeren Ländern
entfällt auf 700000 Einwohner eine Stimme. Ein Überschuß von mindestens 350000
Einwohnern wird 700000 gleichgerechnet. Kein Land darf durch mehr als zwei Fünftel aller
Stimmen vertreten sein.]
(2) Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der
Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin
haben die Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme.
(3) Die Stimmenzahl wird durch den Reichsrat nach jeder allgemeinen Volkszählung neu
festgesetzt.
Artikel 62
(1) In den Ausschüssen, die der Reichsrat aus seiner Mitte bildet, führt kein Land mehr
als eine Stimme.
Artikel 63
(1) Die Länder werden im Reichsrat durch Mitglieder ihrer Regierungen vertreten. Jedoch
wird die Hälfte der preußischen Stimmen nach Maßgabe eines Landesgesetzes von den
preußischen Provinzialverwaltungen bestellt.
(2) Die Länder sind berechtigt, so viele Vertreter in den Reichsrat zu entsenden, wie sie
Stimmen führen.
Artikel 64
(1) Die Reichsregierung muß den Reichsrat auf Verlangen von einem Drittel seiner
Mitglieder einberufen.
Artikel 65
(1) Den Vorsitz im Reichsrat und in seinen Ausschüssen führt ein Mitglied der
Reichsregierung. Die Mitglieder der Reichsregierung haben das Recht und auf Verlangen die
Pflicht, an den Verhandlungen des Reichsrats und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie
müssen während der Beratung auf Verlangen jederzeit gehört werden.
Artikel 66
(1) Die Reichsregierung sowie jedes Mitglied des Reichsrats sind befugt, im Reichsrat
Anträge zu stellen.
(2) Der Reichsrat regelt seinen Geschäftsgang durch eine Geschäftsordnung.
(3) Die Vollsitzungen des Reichsrats sind öffentlich. Nach Maßgabe der Geschäftsordnung
kann die Öffentlichkeit für einzelne Beratungsgegenstände ausgeschlossen werden.
(4) Bei der Abstimmung entscheidet die einfache Mehrheit der Abstimmenden.
Artikel 67
(1) Der Reichsrat ist von den Reichsministerien über die Führung der Reichsgeschäfte
auf dem Laufenden zu halten. Zu Beratungen über wichtige Gegenstände sollen von den
Reichsministerien die zuständigen Ausschüsse des Reichsrats zugezogen werden.
FÜNFTER ABSCHNITT
Die Reichsgesetzgebung
Artikel 68
(1) Die Gesetzesvorlagen werden von der Reichsregierung oder aus der Mitte des Reichstags
eingebracht.
(2) Die Reichsgesetze werden vom Reichstag beschlossen.
Artikel 69
(1) Die Einbringung von Gesetzesvorlagen der Reichsregierung bedarf der Zustimmung des
Reichsrats. Kommt eine Übereinstimmung zwischen der Reichsregierung und dem Reichsrat
nicht zustande, so kann die Reichsregierung die Vorlage gleichwohl einbringen, hat aber
hierbei die abweichende Auffassung des Reichsrats darzulegen.
(2) Beschließt der Reichsrat eine Gesetzesvorlage, welcher die Reichsregierung nicht
zustimmt, so hat diese die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunkts beim Reichstag
einzubringen.
Artikel 70
(1) Der Reichspräsident hat die verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetze
auszufertigen und binnen Monatsfrist im Reichs-Gesetzblatt zu verkünden.
Artikel 71
(1) Reichsgesetze treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem vierzehnten Tage
nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Reichs-Gesetzblatt in der Reichshauptstadt
ausgegeben worden ist.
Artikel 72
(1) Die Verkündung eines Reichsgesetzes ist um zwei Monate auszusetzen, wenn es ein
Drittel des Reichstags verlangt. Gesetze, die der Reichstag und der Reichsrat für
dringlich erklären, kann der Reichspräsident ungeachtet dieses Verlangens verkünden.
Artikel 73
(1) Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid
zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt.
(2) Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags
ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der
Stimmberechtigten es beantragt.
(3) Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten
das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muß ein
ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen. Er ist von der Regierung unter Darlegung
ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt,
wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist.
(4) Über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen kann nur der
Reichspräsident einen Volksentscheid veranlassen.
(5) Das Verfahren beim Volksentscheid und beim Volksbegehren regelt ein Reichsgesetz.
[Vgl. dazu Reichsgesetz über den Volksentscheid
(27.06.1921)]
Artikel 74
(1) Gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze steht dem Reichsrat der Einspruch zu.
(2) Der Einspruch muß innerhalb zweier Wochen nach der Schlußabstimmung im Reichstag bei
der Reichsregierung eingebracht und spätestens binnen zwei weiteren Wochen mit Gründen
versehen werden.
(3) Im Falle des Einspruchs wird das Gesetz dem Reichstag zur nochmaligen Beschlußfassung
vorgelegt. Kommt hierbei keine Übereinstimmung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande,
so kann der Reichspräsident binnen drei Monaten über den Gegenstand der
Meinungsverschiedenheit einen Volksentscheid anordnen. Macht der Präsident von diesem
Rechte keinen Gebrauch, so gilt das Gesetz als nicht zustande gekommen. Hat der Reichstag
mit Zweidrittelmehrheit entgegen dem Einspruch des Reichsrats beschlossen, so hat der
Präsident das Gesetz binnen drei Monaten in der vom Reichstag beschlossenen Fassung zu
verkünden oder einen Volksentscheid anzuordnen.
Artikel 75
(1) Durch den Volksentscheid kann ein Beschluß des Reichstags nur dann außer Kraft
gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt.
Artikel 76
(1) Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen
Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel
der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden
zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer
Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch
Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der
Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich.
(2) Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung
beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der
Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt.
Artikel 77
(1) Die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen
Verwaltungsvorschriften erläßt, soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen, die
Reichsregierung. Sie bedarf dazu der Zustimmung des Reichsrats, wenn die Ausführung der
Reichsgesetze den Landesbehörden zusteht.
SECHSTER ABSCHNITT
Die Reichsverwaltung
Artikel 78
(1) Die Pflege der Beziehungen zu den auswärtigen Staaten ist ausschließlich Sache des
Reichs.
(2) In Angelegenheiten, deren Regelung der Landesgesetzgebung zusteht, können die Länder
mit auswärtigen Staaten Verträge schließen; die Verträge bedürfen der Zustimmung des
Reichs.
(3) Vereinbarungen mit fremden Staaten über Veränderung der Reichsgrenzen werden nach
Zustimmung des beteiligten Landes durch das Reich abgeschlossen. Die Grenzveränderungen
dürfen nur auf Grund eines Reichsgesetzes erfolgen, soweit es sich nicht um bloße
Berichtigung der Grenzen unbewohnter Gebietsteile handelt.
(4) Um die Vertretung der Interessen zu gewährleisten, die sich für einzelne Länder aus
ihren besonderen wirtschaftlichen Beziehungen oder ihrer benachbarten Lage zu auswärtigen
Staaten ergeben, trifft das Reich im Einvernehmen mit den beteiligten Ländern die
erforderlichen Einrichtungen und Maßnahmen.
Artikel 79
(1) Die Verteidigung des Reichs ist Reichssache. Die Wehrverfassung des deutschen Volkes
wird unter Berücksichtigung der besonderen landsmannschaftlichen Eigenarten durch ein
Reichsgesetz einheitlich geregelt.
Artikel 80
(1) Das Kolonialwesen ist ausschließlich Sache des Reichs.
Artikel 81
(1) Alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine einheitliche Handelsflotte.
Artikel 82
(1) Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von einer gemeinschaftlichen
Zollgrenze.
(2) Die Zollgrenze fällt mit der Grenze gegen das Ausland zusammen. An der See bildet das
Gestade des Festlandes und der zum Reichsgebiet gehörigen Inseln die Zollgrenze. Für den
Lauf der Zollgrenze an der See und an anderen Gewässern können Abweichungen bestimmt
werden.
(3) Fremde Staatsgebiete oder Gebietsteile können durch Staatsverträge oder
Übereinkommen dem Zollgebiete angeschlossen werden.
(4) Aus dem Zollgebiete können nach besonderem Erfordernis Teile ausgeschlossen werden.
Für Freihäfen kann der Ausschluß nur durch ein verfassungsänderndes Gesetz aufgehoben
werden.
(5) Zollausschlüsse können durch Staatsverträge oder Übereinkommen einem fremden
Zollgebiet angeschlossen werden.
(6) Alle Erzeugnisse der Natur sowie des Gewerbe- und Kunstfleißes, die sich im freien
Verkehre des Reichs befinden, dürfen über die Grenze der Länder und Gemeinden ein-,
aus- oder durchgeführt werden. Ausnahmen sind auf Grund eines Reichsgesetzes zulässig.
Artikel 83
(1) Die Zölle und Verbrauchssteuern werden durch Reichsbehörden verwaltet.
(2) Bei der Verwaltung von Reichsabgaben durch Reichsbehörden sind Einrichtungen
vorzusehen, die den Ländern die Wahrung besonderer Landesinteressen auf dem Gebiete der
Landwirtschaft, des Handels, des Gewerbes und der Industrie ermöglichen.
Artikel 84
(1) Das Reich trifft durch Gesetz die Vorschriften über:
1. die Einrichtung der Abgabenverwaltung der Länder, soweit es die einheitliche und
gleichmäßige Durchführung der Reichsabgabengesetze erfordert;
2. die Einrichtung und Befugnisse der mit der Beaufsichtigung der Ausführung der
Reichsabgabengesetze betrauten Behörden;
3. die Abrechnung mit den Ländern;
4. die Vergütung der Verwaltungskosten bei Ausführung der Reichsabgabengesetze.
Artikel 85
(1) Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen für jedes Rechnungsjahr veranschlagt
und in den Haushaltsplan eingestellt werden.
(2) Der Haushaltsplan wird vor Beginn des Rechnungsjahrs durch ein Gesetz festgestellt.
(3) Die Ausgaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt; sie können in besonderen
Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden. Im übrigen sind Vorschriften im
Reichshaushaltsgesetz unzulässig, die über das Rechnungsjahr hinausreichen oder sich
nicht auf die Einnahmen und Ausgaben des Reichs oder ihre Verwaltung beziehen.
(4) Der Reichstag kann im Entwurfe des Haushaltsplans ohne Zustimmung des Reichsrats
Ausgaben nicht erhöhen oder neu einsetzen.
(5) Die Zustimmung des Reichsrats kann gemäß den Vorschriften des Artikel 74 ersetzt werden.
Artikel 86
(1) Über die Verwendung aller Reichseinnahmen legt der Reichsfinanzminister in dem
folgenden Rechnungsjahre zur Entlastung der Reichsregierung dem Reichsrat und dem
Reichstag Rechnung. Die Rechnungsprüfung wird durch Reichsgesetz geregelt.
Artikel 87
(1) Im Wege des Kredits dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der
Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden. Eine solche Beschaffung
sowie die Übernahme einer Sicherheitsleistung zu Lasten des Reichs dürfen nur auf Grund
eines Reichsgesetzes erfolgen.
Artikel 88
(1) Das Post- und Telegraphenwesen samt dem Fernsprechwesen ist ausschließlich Sache des
Reichs.
(2) Die Postwertzeichen sind für das ganze Reich einheitlich.
(3) Die Reichsregierung erläßt mit Zustimmung des Reichsrats die Verordnungen welche
Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Verkehrseinrichtungen festsetzen. Sie
kann diese Befugnis mit Zustimmung des Reichsrats auf den Reichspostminister übertragen.
(4) Zur beratenden Mitwirkung in Angelegenheiten des Post-, Telegraphen- und
Fernsprechverkehrs und der Tarife errichtet die Reichsregierung mit Zustimmung des
Reichsrats einen Beirat.
(5) Verträge über den Verkehr mit dem Ausland schließt allein das Reich.
[Die Absätze 2 und 3 wurden durch den §15 Abs. 2 des Reichspostfinanzgesetzes vom
18.03.1924 gestrichen (RGBl. 1924 I, S. 287). Durch das Gesetz wurde das selbständige
Unternehmen "Deutsche Reichspost" geschaffen.]
Artikel 89
(1) Aufgabe des Reichs ist es, die dem allgemeinen Verkehre dienenden Eisenbahnen in sein
Eigentum zu übernehmen und als einheitliche Verkehrsanstalt zu verwalten.
(2) Die Rechte der Länder, Privateisenbahnen zu erwerben, sind auf Verlangen dem Reiche
zu übertragen.
Artikel 90
(1) Mit dem Übergang der Eisenbahnen übernimmt das Reich die Enteignungsbefugnis und die
staatlichen Hoheitsrechte, die sich auf das Eisenbahnwesen beziehen. Über den Umfang
dieser Rechte entscheidet im Streitfall der Staatsgerichtshof.
Artikel 91
(1) Die Reichsregierung erläßt mit Zustimmung des Reichsrats die Verordnungen, die den
Bau, den Betrieb und den Verkehr der Eisenbahnen regeln. Sie kann diese Befugnis mit
Zustimmung des Reichsrats auf den zuständigen Reichsminister übertragen.
Artikel 92
(1) Die Reichseisenbahnen sind, ungeachtet der Eingliederung ihres Haushalts und ihrer
Rechnung in den allgemeinen Haushalt und die allgemeine Rechnung des Reichs, als ein
selbständiges wirtschaftliches Unternehmen zu verwalten, das seine Ausgaben
einschließlich Verzinsung und Tilgung der Eisenbahnschuld selbst zu bestreiten und eine
Eisenbahnrücklage anzusammeln hat. Die Höhe der Tilgung und der Rücklage sowie die
Verwendungszwecke der Rücklage sind durch besonderes Gesetz zu regeln.
Artikel 93
(1) Zur beratenden Mitwirkung in Angelegenheiten des Eisenbahnverkehrs und der Tarife
errichtet die Reichsregierung für die Reichseisenbahnen mit Zustimmung des Reichsrats
Beiräte.
Artikel 94
(1) Hat das Reich die dem allgemeinen Verkehre dienenden Eisenbahnen eines bestimmten
Gebiets in seine Verwaltung übernommen, so können innerhalb dieses Gebiets neue, dem
allgemeinen Verkehre dienende Eisenbahnen nur vom Reiche oder mit seiner Zustimmung gebaut
werden. Berührt der Bau neuer oder die Veränderung bestehender Reichseisenbahnanlagen
den Geschäftsbereich der Landespolizei, so hat die Reichseisenbahnverwaltung vor der
Entscheidung die Landesbehörden anzuhören.
(2) Wo das Reich die Eisenbahnen noch nicht in seine Verwaltung übernommen hat, kann es
für den allgemeinen Verkehr oder die Landesverteidigung als notwendig erachtete
Eisenbahnen kraft Reichsgesetzes auch gegen den Widerspruch der Länder, deren Gebiet
durchschnitten wird, jedoch unbeschadet der Landeshoheitsrechte, für eigene Rechnung
anlegen oder den Bau einem anderen zur Ausführung überlassen, nötigenfalls unter
Verleihung des Enteignungsrechts.
(3) Jede Eisenbahnverwaltung muß sich den Anschluß anderer Bahnen auf deren Kosten
gefallen lassen.
Artikel 95
(1) Eisenbahnen des allgemeinen Verkehrs, die nicht vom Reiche verwaltet werden,
unterliegen der Beaufsichtigung durch das Reich.
(2) Die der Reichsaufsicht unterliegenden Eisenbahnen sind nach den gleichen vom Reiche
festgesetzten Grundsätzen anzulegen und auszurüsten. Sie sind in betriebssicherem
Zustand zu erhalten und entsprechend den Anforderungen des Verkehrs auszubauen. Personen-
und Güterverkehr sind in Übereinstimmung mit dem Bedürfnis zu bedienen und
auszugestalten.
(3) Bei der Beaufsichtigung des Tarifwesens ist auf gleichmäßige und niedrige
Eisenbahntarife hinzuwirken.
Artikel 96
(1) Alle Eisenbahnen, auch die nicht dem allgemeinen Verkehre dienenden, haben den
Anforderungen des Reichs auf Benutzung der Eisenbahnen zum Zwecke der Landesverteidigung
Folge zu leisten.
Artikel 97
(1) Aufgabe des Reichs ist es, die dem allgemeinen Verkehre dienenden Wasserstraßen in
sein Eigentum und seine Verwaltung zu übernehmen.
(2) Nach der Übernahme können dem allgemeinen Verkehre dienende Wasserstraßen nur noch
vom Reiche oder mit seiner Zustimmung angelegt oder ausgebaut werden.
(3) Bei der Verwaltung, dem Ausbau oder dem Neubau von Wasserstraßen sind die
Bedürfnisse der Landeskultur und der Wasserwirtschaft im Einvernehmen mit den Ländern zu
wahren. Auch ist auf deren Förderung Rücksicht zu nehmen.
(4) Jede Wasserstraßenverwaltung hat sich den Anschluß anderer Binnenwasserstraßen auf
Kosten der Unternehmer gefallen zu lassen. Die gleiche Verpflichtung besteht für die
Herstellung einer Verbindung zwischen Binnenwasserstraßen und Eisenbahnen.
(5) Mit dem Übergange der Wasserstraßen erhält das Reich die Enteignungsbefugnis, die
Tarifhoheit sowie die Strom- und Schiffahrtspolizei.
(6) Die Aufgaben der Strombauverbände in bezug auf den Ausbau natürlicher Wasserstraßen
im Rhein-, Weser- und Elbgebiet sind auf das Reich zu übernehmen.
Artikel 98
(1) Zur Mitwirkung in Angelegenheiten der Wasserstraßen werden bei den
Reichswasserstraßen nach näherer Anordnung der Reichsregierung unter Zustimmung des
Reichsrats Beiräte gebildet.
Artikel 99
(1) Auf natürlichen Wasserstraßen dürfen Abgaben nur für solche Werke, Einrichtungen
und sonstige Anstalten erhoben werden, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt sind.
Sie dürfen bei staatlichen und kommunalen Anstalten die zur Herstellung und Unterhaltung
erforderlichen Kosten nicht übersteigen. Die Herstellungs- und Unterhaltungskosten für
Anstalten, die nicht ausschließlich zur Erleichterung des Verkehrs, sondern auch zur
Förderung anderer Zwecke bestimmt sind, dürfen nur zu einem verhältnismäßigen Anteil
durch Schiffahrtsabgaben aufgebracht werden. Als Herstellungskosten gelten die Zinsen und
Tilgungsbeträge für die aufgewandten Mittel.
(2) Die Vorschriften des vorstehenden Absatzes finden Anwendung auf die Abgaben, die für
künstliche Wasserstraßen sowie für Anstalten an solchen und in Häfen erhoben werden.
(3) Im Bereiche der Binnenschiffahrt können für die Bemessung der Befahrungsabgaben die
Gesamtkosten einer Wasserstraße, eines Stromgebiets oder eines Wasserstraßennetzes
zugrunde gelegt werden.
(4) Diese Bestimmungen gelten auch für die Flößerei auf schiffbaren Wasserstraßen.
(5)Auf fremde Schiffe und deren Ladungen andere oder höhere Abgaben zu legen als auf
deutsche Schiffe und deren Ladungen, steht nur dem Reiche zu.
(6)Zur Beschaffung von Mitteln für die Unterhaltung und den Ausbau des deutschen
Wasserstraßennetzes kann das Reich die Schiffahrtsbeteiligten auch auf andere Weise durch
Gesetz zu Beiträgen heranziehen.
Artikel 100
(1) Zur Deckung der Kosten für Unterhaltung und Bau von Binnenschiffahrtswegen kann durch
ein Reichsgesetz auch herangezogen werden, wer aus dem Bau von Talsperren in anderer Weise
als durch Befahrung Nutzen zieht, sofern mehrere Länder beteiligt sind oder das Reich die
Kosten der Anlage trägt.
Artikel 101
(1) Aufgabe des Reichs ist es, alle Seezeichen, insbesondere Leuchtfeuer, Feuerschiffe,
Bojen, Tonnen und Baken in sein Eigentum und seine Verwaltung zu übernehmen. Nach der
Übernahme können Seezeichen nur noch vom Reiche oder mit seiner Zustimmung hergestellt
oder ausgebaut werden.
SIEBENTER ABSCHNITT
Die Rechtspflege
Artikel 102
(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.
Artikel 103
(1) Die ordentliche Gerichtsbarkeit wird durch das Reichsgericht und durch die Gerichte
der Länder ausgeübt.
Artikel 104
(1) Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden auf Lebenszeit ernannt. Sie
können wider ihrer Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen
und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes
enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die
Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung Richter in den Ruhestand
treten.
(2) Die vorläufige Amtsenthebung, die kraft Gesetzes eintritt, wird hierdurch nicht
berührt.
(3) Bei einer Veränderung in der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke kann die
Landesjustizverwaltung unfreiwillige Versetzungen an ein anderes Gericht oder Entfernungen
vom Amte, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehalts, verfügen.
(4) Auf Handelsrichter, Schöffen und Geschworene finden diese Bestimmungen keine
Anwendung.
Artikel 105
(1) Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen
werden. Die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte und Standgerichte werden
hiervon nicht berührt. Die militärischen Ehrengerichte sind aufgehoben.
Artikel 106
(1) Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, außer für Kriegszeiten und an Bord der
Kriegsschiffe. Das Nähere regelt ein Reichsgesetz.
Artikel 107
(1) Im Reiche und in den Ländern müssen nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte
zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden
bestehen.
Artikel 108
(1) Nach Maßgabe eines Reichsgesetzes wird ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich
errichtet.
ZWEITER HAUPTTEIL
Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen
ERSTER ABSCHNITT
Die Einzelperson
Artikel 109
(1) Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich
dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.
(2) Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind
aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr
verliehen werden.
(3) Titel dürfen nur verliehen werden, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen;
akademische Grade sind hierdurch nicht betroffen.
(4) Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden.
(5) Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen.
Artikel 110
(1) Die Staatsangehörigkeit im Reiche und in den Ländern wird nach den Bestimmungen
eines Reichsgesetzes erworben und verloren. Jeder Angehörige eines Landes ist zugleich
Reichsangehöriger.
(2) Jeder Deutsche hat in jedem Lande des Reichs die gleichen Rechte und Pflichten wie die
Angehörigen des Landes selbst.
Artikel 111
(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hat das Recht, sich an
beliebigem Orte des Reichs aufzuhalten und niederzulassen, Grundstücke zu erwerben und
jeden Nahrungszweig zu betreiben. Einschränkungen bedürfen eines Reichsgesetzes.
Artikel 112
(1) Jeder Deutsche ist berechtigt, nach außerdeutschen Ländern auszuwandern. Die
Auswanderung kann nur durch Reichsgesetz beschränkt werden.
(2) Dem Ausland gegenüber haben alle Reichsangehörigen inner- und außerhalb des
Reichsgebiets Anspruch auf den Schutz des Reichs.
(3) Kein Deutscher darf einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung
überliefert werden.
Artikel 113
(1) Die fremdsprachigen Volksteile des Reichs dürfen durch die Gesetzgebung und
Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch
ihrer Muttersprache beim Unterricht, sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege
beeinträchtigt werden.
Artikel 114
(1) Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der
persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen
zulässig.
(2) Personen, denen die Freiheit entzogen wird, sind spätestens am darauffolgenden Tage
in Kenntnis zu setzen, von welcher Behörde und aus welchen Gründen die Entziehung der
Freiheit angeordnet worden ist; unverzüglich soll ihnen Gelegenheit gegeben werden,
Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen.
Artikel 115
(1) Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich. Ausnahmen
sind nur auf Grund von Gesetzen zulässig.
Artikel 116
(1) Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit
gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.
Artikel 117
(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind
unverletzlich. Ausnahmen können nur durch Reichsgesetz zugelassen werden.
Artikel 118
(1) Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine
Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An
diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf
ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
(2) Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende
Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur
sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen
gesetzliche Maßnahmen zulässig.
ZWEITER ABSCHNITT
Das Gemeinschaftsleben
Artikel 119
(1) Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der
Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung
der beiden Geschlechter.
(2) Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats
und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge.
(3) Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats.
Artikel 120
(1) Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen
Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren
Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht.
Artikel 121
(1) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre
leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen
Kindern.
Artikel 122
(1) Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche
Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu
treffen.
(2) Fürsorgemaßregeln im Wege des Zwanges können nur auf Grund des Gesetzes angeordnet
werden.
Artikel 123
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich
und unbewaffnet zu versammeln.
(2) Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht
und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.
Artikel 124
(1) Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen,
Vereine oder Gesellschaften zu bilden. Dies Recht kann nicht durch Vorbeugungsmaßregeln
beschränkt werden. Für religiöse Vereine und Gesellschaften gelten dieselben
Bestimmungen.
(2) Der Erwerb der Rechtsfähigkeit steht jedem Verein gemäß den Vorschriften des
bürgerlichen Rechts frei. Er darf einem Vereine nicht aus dem Grunde versagt werden, daß
er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt.
Artikel 125
(1) Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis sind gewährleistet. Das Nähere bestimmen die
Wahlgesetze.
Artikel 126
(1) Jeder Deutsche hat das Recht, sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die
zuständige Behörde oder an die Volksvertretung zu wenden. Dieses Recht kann sowohl von
einzelnen als auch von mehreren gemeinsam ausgeübt werden.
Artikel 127
(1) Gemeinden und Gemeindeverbände haben das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der
Schranken der Gesetze.
Artikel 128
(1) Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend
ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen.
(2) Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt.
(3) Die Grundlagen des Beamtenverhältnisses sind durch Reichsgesetz zu regeln.
Artikel 129
(1) Die Anstellung der Beamten erfolgt auf Lebenszeit, soweit nicht durch Gesetz etwas
anderes bestimmt ist. Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung werden gesetzlich geregelt.
Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich. Für die vermögensrechtlichen
Ansprüche der Beamten steht der Rechtsweg offen.
(2) Die Beamten können nur unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen und Formen
vorläufig ihres Amtes enthoben, einstweilen oder endgültig in den Ruhestand oder in ein
anderes Amt mit geringerem Gehalt versetzt werden.
(3) Gegen jedes dienstliche Straferkenntnis muß ein Beschwerdeweg und die Möglichkeit
eines Wiederaufnahmeverfahrens eröffnet sein. In die Nachweise über die Person des
Beamten sind Eintragungen von ihm ungünstigen Tatsachen erst vorzunehmen, wenn dem
Beamten Gelegenheit gegeben war, sich über sie zu äußern. Dem Beamten ist Einsicht in
seine Personalnachweise zu gewähren.
(4) Die Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte und die Offenhaltung des Rechtswegs
für die vermögensrechtlichen Ansprüche werden besonders auch den Berufssoldaten
gewährleistet. Im übrigen wird ihre Stellung durch Reichsgesetz geregelt.
Artikel 130
(1) Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.
(2) Allen Beamten wird die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die
Vereinigungsfreiheit gewährleistet.
(3) Die Beamten erhalten nach näherer reichsgesetzlicher Bestimmung besondere
Beamtenvertretungen.
Artikel 131
(1) Verletzt ein Beamter in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt die ihm
einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit
grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienste der Beamte steht. Der
Rückgriff gegen den Beamten bleibt vorbehalten. Der ordentliche Rechtsweg darf nicht
ausgeschlossen werden.
(2) Die nähere Regelung liegt der zuständigen Gesetzgebung ob.
Artikel 132
(1) Jeder Deutsche hat nach Maßgabe der Gesetze die Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher
Tätigkeiten.
Artikel 133
(1) Alle Staatsbürger sind verpflichtet, nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste
für den Staat und die Gemeinde zu leisten.
(2) Die Wehrpflicht richtet sich nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes. Dieses
bestimmt auch, wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und
zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind.
Artikel 134
(1) Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen
öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei.
DRITTER ABSCHNITT
Religion und Religionsgesellschaften
Artikel 135
(1) Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens und Gewissensfreiheit. Die
ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter
staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.
Artikel 136
(1) Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die
Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.
(2) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu
öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.
(3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden
haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu
fragen als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete
statistische Erhebung dies erfordert.
(4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an
religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.
Artikel 137
(1) Es besteht keine Staatskirche.
(2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der
Zusammenschluß von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen
Beschränkungen.
(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig
innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne
Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.
(4) Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen
Vorschriften des bürgerlichen Rechtes.
(5) Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit
sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche
Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die
Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche
Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine
öffentlich-rechtliche Körperschaft.
(6) Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind,
sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der
landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.
(7) Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die
gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.
(8) Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt
diese der Landesgesetzgebung ob.
Artikel 138
(1) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an
die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze
hierfür stellt das Reich auf.
(2) Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an
ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten,
Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet.
Artikel 139
(1) Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe
und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.
Artikel 140
(1) Den Angehörigen der Wehrmacht ist die nötige freie Zeit zur Erfüllung ihrer
religiösen Pflichten zu gewähren.
Artikel 141
(1) Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern,
Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die
Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang
fernzuhalten ist.
VIERTER ABSCHNITT
Bildung und Schule
Artikel 142
(1) Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz
und nimmt an ihrer Pflege teil.
Artikel 143
(1) Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer
Einrichtung wirken Reich, Länder und Gemeinden zusammen.
(2) Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein
gelten, für das Reich einheitlich zu regeln.
(3) Die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten.
Artikel 144
(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates; er kann die Gemeinden
daran beteiligen. Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch
vorgebildete Beamte ausgeübt.
Artikel 145
(1) Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die
Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis
zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre. Der Unterricht und die Lernmittel in den
Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich.
Artikel 146
(1) Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle
gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen
Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine
bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.
(2) Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen
ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein
geordneter Schulbetrieb, auch im Sinne des Abs. 1, nicht beeinträchtigt wird. Der Wille
der Erziehungsberechtigten ist möglichst zu berücksichtigen. Das Nähere bestimmt die
Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgesetzes.
(3) Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sind durch
Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere
Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittleren und
höheren Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung der Ausbildung.
Artikel 147
(1) Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des
Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die
Privatschulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen
Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine
Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die
Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der
Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
(2) Private Volksschulen sind nur zuzulassen, wenn für eine Minderheit von
Erziehungsberechtigten, deren Wille nach Artikel 146 Abs. 2 zu
berücksichtigen ist, eine öffentliche Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer
Weltanschauung in der Gemeinde nicht besteht oder die Unterrichtsverwaltung ein besonderes
pädagogisches Interesse anerkennt.
(3) Private Vorschulen sind aufzuheben.
(4) Für private Schulen, die nicht als Ersatz für öffentliche Schulen dienen, verbleibt
es bei dem geltenden Recht.
Artikel 148
(1) In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und
berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu
erstreben.
(2) Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen
Andersdenkender nicht verletzt werden.
(3) Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler
erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.
(4) Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern
und Gemeinden gefördert werden.
Artikel 149
(1) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der
bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der
Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den
Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des
Staates erteilt.
(2) Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen
bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern
und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der
über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat.
(3) Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.
Artikel 150
(1) Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen
den Schutz und die Pflege des Staates.
(2) Es ist Sache des Reichs, die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes in das Ausland zu
verhüten.
FÜNFTER ABSCHNITT
Das Wirtschaftsleben
Artikel 151
(1) Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem
Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen
Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.
(2) Gesetzlicher Zwang ist nur zulässig zur Verwirklichung bedrohter Rechte oder im
Dienst überragender Forderungen des Gemeinwohls.
(3) Die Freiheit des Handels und Gewerbes wird nach Maßgabe der Reichsgesetze
gewährleistet.
Artikel 152
(1) Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze.
(2) Wucher ist verboten. Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, sind
nichtig.
Artikel 153
(1) Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken
ergeben sich aus den Gesetzen.
(2) Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage
vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein
Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. Wegen der Höhe der Entschädigung ist im Streitfalle
der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offen zu halten, soweit Reichsgesetze nichts
anderes bestimmen. Enteignung durch das Reich gegenüber Ländern, Gemeinden und
gemeinnützigen Verbänden kann nur gegen Entschädigung erfolgen.
(3) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.
Artikel 154
(1) Das Erbrecht wird nach Maßgabe des bürgerlichen Rechtes gewährleistet.
(2) Der Anteil des Staates am Erbgut bestimmt sich nach den Gesetzen.
Artikel 155
(1) Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht,
die Mißbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und
allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen
entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern. Kriegsteilnehmer sind bei dem
zu schaffenden Heimstättenrecht besonders zu berücksichtigen.
(2) Grundbesitz, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung
der Siedlung und Urbarmachung oder zur Hebung der Landwirtschaft nötig ist, kann
enteignet werden. Die Fideikommisse sind aufzulösen.
[Fideikommiss: unverkäufliches, unbelastbares und nur im Ganzen vererbliches Landgut.]
(3) Die Bearbeitung und Ausnutzung des Bodens ist eine Pflicht des Grundbesitzers
gegenüber der Gemeinschaft. Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne eine Arbeits- oder
Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen.
(4) Alle Bodenschätze und alle wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte stehen unter
Aufsicht des Staates. Private Regale sind im Wege der Gesetzgebung auf den Staat zu
überführen.
Artikel 156
(1) Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer
Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung
geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen. Es kann
sich selbst, die Länder oder die Gemeinden an der Verwaltung wirtschaftlicher
Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in anderer Weise einen
bestimmenden Einfluß sichern.
(2) Das Reich kann ferner im Falle dringenden Bedürfnisses zum Zwecke der
Gemeinwirtschaft durch Gesetz wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände auf der
Grundlage der Selbstverwaltung zusammenschließen mit dem Ziele, die Mitwirkung aller
schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Verwaltung zu
beteiligen und Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein-
und Ausfuhr der Wirtschaftsgüter nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen zu regeln.
(3) Die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und deren Vereinigungen sind auf ihr
Verlangen unter Berücksichtigung ihrer Verfassung und Eigenart in die Gemeinwirtschaft
einzugliedern.
Artikel 157
(1) Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs.
(2) Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.
Artikel 158
(1) Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder und der Künstler genießt
den Schutz und die Fürsorge des Reichs.
(2) Den Schöpfungen deutscher Wissenschaft, Kunst und Technik ist durch
zwischenstaatliche Vereinbarung auch im Ausland Geltung und Schutz zu verschaffen.
Artikel 159
(1) Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle
Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen,
sind rechtswidrig.
Artikel 160
(1) Wer in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis als Angestellter oder Arbeiter steht, hat
das Recht auf die zur Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und, soweit dadurch der
Betrieb nicht erheblich geschädigt wird, zur Ausübung ihm übertragener öffentlicher
Ehrenämter nötige freie Zeit. Wieweit ihm der Anspruch auf Vergütung erhalten bleibt,
bestimmt das Gesetz.
Artikel 161
(1) Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und
zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des
Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung
der Versicherten.
Artikel 162
(1) Das Reich tritt für eine zwischenstaatliche Regelung der Rechtsverhältnisse der
Arbeiter ein, die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines
Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt.
Artikel 163
(1) Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht,
seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit
erfordert.
(2) Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit
seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen
werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. Das Nähere wird durch
besondere Reichsgesetze bestimmt.
Artikel 164
(1) Der selbständige Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel ist in
Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu
schützen.
Artikel 165
(1) Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit
den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten
wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen
Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.
(2) Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und
wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in
nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem
Reichsarbeiterrat.
(3) Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten
wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der
Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter
Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die
Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, daß alle
wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin
vertreten sind.
(4) Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung
sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur
Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche
Gesetzesvorlagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung nicht zu, so hat sie
trotzdem die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunkts beim Reichstag einzubringen. Der
Reichswirtschaftsrat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag
vertreten lassen.
(5) Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten
Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen werden.
(6) Aufbau und Aufgabe der Arbeiter- und Wirtschaftsräte sowie ihr Verhältnis zu anderen
sozialen Selbstverwaltungskörpern zu regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs.
ÜBERGANGS- UND SCHLUßBESTIMMUNGEN
Artikel 166
(1) Bis zur Errichtung des Reichsverwaltungsgerichts tritt an seine Stelle für die
Bildung des Wahlprüfungsgerichts das Reichsgericht.
Artikel 167
(1) Die Bestimmungen des Artikel 18 Abs. 3 bis 6 treten erst
zwei Jahre nach Verkündung der Reichsverfassung in Kraft.
[Absätze 2 und 3 eingefügt durch Reichsgesetz vom 27.11.1920 (RGBl. 1920, S. 1987):
(2) In der preußischen Provinz Oberschlesien findet innerhalb zweier Monate, nachdem die
deutschen Behörden die Verwaltung des zur Zeit besetzten Gebiets wieder übernommen
haben, eine Abstimmung nach Artikel 18 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5
darüber statt, ob ein Land Oberschlesien gebildet werden soll.
(3) Wird die Frage bejaht, so ist das Land unverzüglich einzurichten, ohne daß es eines
weiteren Reichsgesetzes bedarf. Dabei gelten folgende Bestimmungen:
1. Es ist eine Landesversammlung zu wählen, die binnen drei Monaten nach der amtlichen
Feststellung des Abstimmungsergebnisses zur Einsetzung der Landesregierung und zur
Beschlußfassung über die Landesverfassung einzuberufen ist. Der Reichspräsident
erläßt die Wahlordnung nach den Grundsätzen des Reichswahlgesetzes und bestimmt den
Wahltag.
2. Der Reichspräsident bestimmt im Benehmen mit der oberschlesischen Landesversammlung,
wann das Land als eingerichtet gilt.
3. Die oberschlesische Staatsangehörigkeit erwerben:
a) die volljährigen Reichsangehörigen, die am Tage der Einrichtung des Landes
Oberschlesien (Nr. 2) in seinem Gebiete Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, mit
diesem Tage;
b) sonstige volljährige preußische Staatsangehörige, die im Gebiete der Provinz
Oberschlesien geboren sind und innerhalb eines Jahres nach Einrichtung des Landes (Nr. 2)
der Landesregierung erklären, daß sie die oberschlesische Staatsangehörigkeit erwerben
wollen, am Tage des Einganges dieser Erklärung;
c) alle Reichsangehörigen, die durch Geburt, Legitimation oder Eheschließung der
Staatsangehörigkeit einer der unter a und b bezeichneten Personen folgen.]
Artikel 168
(1) Bis zum Erlaß des im Artikel 63 vorgesehenen
Landesgesetzes, aber höchstens bis zum 1. Juli 1921, können die sämtlichen preußischen
Stimmen im Reichsrat von Mitgliedern der Regierung abgegeben werden.
[Die festgesetzte Dauer von einem Jahr durch Reichsgesetz vom 06.08.1920 verlängert
(RGBl. 1920, S. 1565)]
Artikel 169
(1) Der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung im Artikel 83
Abs. 1 wird durch die Reichsregierung festgesetzt.
(2) Für eine angemessene Übergangszeit kann die Erhebung und Verwaltung der Zölle und
Verbrauchssteuern den Ländern auf ihren Wunsch belassen werden.
Artikel 170
(1) Die Post- und Telegraphenverwaltungen Bayerns und Württembergs gehen spätestens am
1. April 1921 auf das Reich über.
(2) Soweit bis zum 1. Oktober 1920 noch keine Verständigung über die Bedingungen der
Übernahme erzielt ist, entscheidet der Staatsgerichtshof.
(3) Bis zur Übernahme bleiben die bisherigen Rechte und Pflichten Bayerns und
Württembergs in Kraft. Der Post- und Telegraphenverkehr mit den Nachbarstaaten des
Auslandes wird jedoch ausschließlich vom Reiche geregelt.
Artikel 171
(1) Die Staatseisenbahnen, Wasserstraßen und Seezeichen gehen spätestens am 1. April
1921 auf das Reich über.
(2) Soweit bis zum 1. Oktober 1920 noch keine Verständigung über die Bedingungen der
Übernahme erzielt ist, entscheidet der Staatsgerichtshof.
Artikel 172
(1) Bis zum Inkrafttreten des Reichsgesetzes über den Staatsgerichtshof übt seine
Befugnisse ein Senat von sieben Mitgliedern aus, wovon der Reichstag vier und das
Reichsgericht aus seiner Mitte drei wählt. Sein Verfahren regelt er selbst.
Artikel 173
(1) Bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes gemäß Artikel 138
bleiben die bisherigen auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden
Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften bestehen.
Artikel 174
(1) Bis zum Erlaß des in Artikel 146 Abs. 2 vorgesehenen
Reichsgesetzes bleibt es bei der bestehenden Rechtslage. Das Gesetz hat Gebiete des
Reichs, in denen eine nach Bekenntnissen nicht getrennte Schule gesetzlich besteht,
besonders zu berücksichtigen.
Artikel 175
(1) Die Bestimmung des Artikel 109 findet keine Anwendung auf
Orden und Ehrenzeichen, die für Verdienste in den Kriegsjahren 1914-1919 verliehen werden
sollen.
Artikel 176
(1) Alle öffentlichen Beamten und Angehörigen der Wehrmacht sind auf diese Verfassung zu
vereidigen. Das Nähere wird durch Verordnung des Reichspräsidenten bestimmt. [Vgl. dazu Verordnung des Reichspräsidenten Ebert
über die Vereidigung der öffentlichen Beamten vom 14. August 1919]
Artikel 177
(1) Wo in den bestehenden Gesetzen die Eidesleistung unter Benutzung einer religiösen
Eidesform vorgesehen ist, kann die Eidesleistung rechtswirksam auch in der Weise erfolgen,
daß der Schwörende unter Weglassung der religiösen Eidesform erklärt: ",ich
schwöre". Im übrigen bleibt der in den Gesetzen vorgesehene Inhalt des Eides
unberührt.
Artikel 178
(1) Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871
und das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom
10. Februar 1919 sind aufgehoben.
(2) Die übrigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben in Kraft, soweit ihnen diese
Verfassung nicht entgegensteht. Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles
unterzeichneten Friedensvertrags werden durch die Verfassung nicht berührt.
[Satz 3 eingefügt durch Reichsgesetz vom 06.08.1920 (RGBl. 1920, S. 1566):
Mit Rücksicht auf die Verhandlungen bei dem Erwerbe der Insel Helgoland kann zugunsten
ihrer einheimischen Bevölkerung eine von Artikel 17 Abs. 2
abweichende Regelung getroffen werden.]
(3) Anordnungen der Behörden, die auf Grund bisheriger Gesetze in rechtsgültiger Weise
getroffen waren, behalten ihre Gültigkeit bis zur Aufhebung im Wege anderweiter Anordnung
oder Gesetzgebung.
Artikel 179
(1) Soweit in Gesetzen oder Verordnungen auf Vorschriften und Einrichtungen verwiesen ist,
die durch diese Verfassung aufgehoben sind, treten an ihre Stelle die entsprechenden
Vorschriften und Einrichtungen dieser Verfassung. Insbesondere treten an die Stelle der
Nationalversammlung der Reichstag, an die Stelle des Staatenausschusses der Reichsrat, an
die Stelle des auf Grund des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt gewählten
Reichspräsidenten der auf Grund dieser Verfassung gewählte Reichspräsident.
(2) Die nach den bisherigen Vorschriften dem Staatenausschuß zustehende Befugnis zum
Erlaß von Verordnungen geht auf die Reichsregierung über; sie bedarf zum Erlaß der
Verordnungen der Zustimmung des Reichsrats nach Maßgabe dieser Verfassung.
Artikel 180
Bis zum Zusammentritt des ersten Reichstags gilt die Nationalversammlung als Reichstag.
Bis zum Amtsantritt des ersten Reichspräsidenten wird sein Amt von dem auf Grund des
Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt gewählten Reichspräsidenten geführt.
[Art. 180 erhielt durch Reichsgesetz zur Änderung des
Artikel 180 der Reichsverfassung vom 27. Oktober 1922 eine neue Fassung.]
Artikel 181
(1) Das deutsche Volk hat durch seine Nationalversammlung diese Verfassung beschlossen und
verabschiedet. Sie tritt mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft.
Schwarzburg, den 11. August 1919.
Der Reichspräsident:
Friedrich Ebert
Das Reichsministerium:
Bauer,
Erzberger, Hermann Müller, Dr. David, Noske,
Schmidt, Schlicke, Giesberts, Dr. Mayer, Dr. Bell
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