Auslieferungs-Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und Großbritannien.

Vom 14. Mai 1872.[1]


Nachdem Seine Majestät der Deutsche Kaiser, und Ihre Majestät die Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland behufs besserer Verwaltung der Rechtspflege und zur Verhütung von Verbrechen innerhalb der beiden Reiche und deren Gerichtsbarkeiten es für zweckmäßig befunden haben, daß Personen, welche der in diesem Vertrage aufgeführten strafbaren Handlungen beschuldigt oder wegen solcher verurtheilt und vor der Justiz flüchtig geworden sind, unter bestimmten Umständen gegenseitig ausgeliefert werden sollen; so haben Ihre eben gedachten Majestäten behufs Abschließung eines desfallsigen Vertrags zu Ihren Bevollmächtigten ernannt:

  Seine Majestät der Deutsche Kaiser,

Allerhöchstseinen Staats-Minister und Kämmerer, Albrecht Grafen von Bernstorff-Stintenburg, Ritter des hohen Ordens vom Schwarzen Adler, Großkreuz des Rothen Adler-Ordens mit Eichenlaub, Groß-Komthur des Kaiserlichen und Königlichen Haus-Ordens von Hohenzollern in Brillanten, Ritter des Kronen-Ordens dritter Klasse mit dem Rothen Kreuz, Großkreuz des Ordens der Bayerischen Krone und des Sachsen-Ernestinischen Haus-Ordens, Ritter des Ordens vom Goldenen Löwen des Hauses Naussau etc. etc. etc., außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafter Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät bei Ihrer Großbritannischen Majestät;

  und Ihre Majestät die Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland

den sehr ehrenwerthen Granville George Grafen Granville, Lord Leveson, Pair des Vereinigten Königreichs, Ritter des Höchstedlen Ordens vom Hosenband, Mitglied Ihrer Majestät Höchstehrenwerthen Geheimenrates, Lord Wardein der fünf Häfen, Schloßhauptmann von Dover, Kanzler der Universität London, Allerhöchstihren Haupt-Staatssekretair für die Auswärtigen Angelegenheiten;

welche, nachdem sie sich gegenseitig ihre Vollmachten mitgetheilt und dieselben in guter und gehöriger Form befunden, die folgenden Artikel vereinbart und abgeschlossen haben.

A r t.  I.

  Die hohen vertragenden Theile verpflichten sich, einander diejenigen Personen auszuliefern, welche wegen einer, auf dem Gebiete des einen Theils begangenen strafbaren Handlung beschuldigt oder verurtheilt sind und in dem Gebiete des anderen Theiles aufgefunden werden, sofern die in dem gegenwärtigen Vertrage angegebenen Fälle und Voraussetzungen vorhanden sind.

A r t.  II.

 

  Die strafbaren Handlungen, wegen deren die Auslieferung zu gewähren ist, sind folgende:
1) Mord, Mordversuch.
2) Todtschlag.
3) Nachmachen oder Verfälschen von Metallgeld, Verausgabung oder In-Verkehr-Bringen nachgemachten oder verfälschten Metallgeldes.
4) Nachmachen oder Verfälschen von Papiergeld, Banknoten oder anderen Werthpapieren, Fälschung oder Verfälschung anderer öffentlicher oder Privat-Urkunden, ingleichen Verausgabung oder In-Verkehr-Bringen oder wissentliches Gebrauchen solcher nachgemachten oder gefälschten Papiere.
5) Diebstahl und Unterschlagung.
6) Erlangung von Geld oder anderen Sachen durch falsche Vorspiegelungen.
7) Strafbarer Bankerutt, unter welchen Begriff alle diejenigen strafbaren Handlungen fallen, die nach den bezüglichen Bestimmungen des deutschen Strafgesetzbuchs gerichtlich geahndet werden.
8) Untreue seitens eines Verwalters und Beauftragten, Banquiers, Agenten, Prokuristen, Vormundes oder Kurators, Vorstandes, Mitgliedes oder Beamten irgend einer Gesellschaft, soweit dieselbe nach den bestehenden Gesetzen mit Strafe bedroht ist.
9) Nothzucht.
10) Entführung.
11) Kinderraub.
12) Einbrechen und Eindringen in ein Wohnhaus oder dazu gehöriges Nebengebäude mit der Absicht, ein Verbrechen zu begehen, zur Tages- (house-breaking) oder Nachtzeit (burglary).
13) Vorsätzliche Brandstiftung.
14) Raub mit Gewaltthätigkeiten.
15) Erpressung.
16) Vorsätzliche Versenkung oder Zerstörung eines Schiffes zur See, oder Versuch dieses Verbrechens.
17) Angriffe auf Personen an Bord eines Schiffes auf hoher See in der Absicht zu tödten oder eine schwere Körperverletzung zu verüben.
18) Widerstand mit Thätlichkeiten (revolt) gegen den Schiffsführer auf hoher See, wenn dieser von zwei oder mehreren Personen verübt wird, oder Verschwörung zu einem solchen Widerstande.

  Die Auslieferung findet auch wegen Theilnahme an einer der vorbezeichneten strafbaren Handlungen statt, sofern diese nach der Gesetzgebung beider vertragenden Theile mit Strafe bedroht ist.

A r t.  III.

  Kein Deutscher wird von Seiten der Regierungen des Deutschen Reichs an die Regierung des Vereinigten Königreichs und von Seiten dieser kein englischer Unterthan an eine Regierung des Deutschen Reichs ausgeliefert.

A r t. IV.

  [1] Die Auslieferung soll nicht stattfinden, wenn die von einer Regierung des Deutschen Reichs verfolgte Person im Vereinigten Königreich, oder die seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs verfolgte Person in einem der Staaten des Deutschen Reichs wegen derselben strafbaren Handlung, wegen deren die Auslieferung beantragt wird, in Untersuchung gewesen und außer Verfolgung gesetzt worden, oder sich noch in Untersuchung befindet, oder bereits bestraft worden ist.
  [2] Wenn die von einer Regierung des Deutschen Reichs verfolgte Person im Vereinigten Königreich, oder wenn die seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs verfolgte Person in einem der Staaten des Deutschen Reichs wegen einer anderen strafbaren Handlung in Untersuchung ist, so soll ihre Auslieferung bis zur Beendigung dieser Untersuchung und vollendeter Vollstreckung der etwa gegen sie erkannten Strafe aufgeschoben werden.

A r t.  V.

  Die Auslieferung soll nicht stattfinden, wenn seit der begangenen strafbaren Handlung, oder der Einleitung der strafgerichtlichen Verfolgung, oder der erfolgten Verurtheilung nach den Gesetzen des ersuchten Staats Verjährung der strafgerichtlichen Verfolgung oder der erkannten Strafe eingetreten ist.

A r t.  VI.

  Ein flüchtiger Verbrecher soll nicht ausgeliefert werden, wenn die strafbare Handlung, wegen deren seine Auslieferung verlangt wird, einen politischen Charakter an sich trägt, oder wenn er beweisen kann, daß der Antrag auf seine Auslieferung in Wirklichkeit mit der Absicht gestellt worden ist, ihn wegen eines Verbrechens oder Vergehens politischer Natur zu verfolgen und zu bestrafen.

A r t.  VII.

  [1] Die ausgelieferte Person darf in dem Staate, an welchen die Auslieferung erfolgt ist, keinenfalls wegen einer anderen strafbaren Handlung oder auf Grund anderer Thatsachen, als derjenigen, wegen deren die Auslieferung erfolgt ist, in Haft gehalten oder zur Untersuchung gezogen werden.
  [2] Auf strafbare Handlungen, welche nach erfolgter Auslieferung verübt sind, findet diese Bestimmung keine Anwendung.

A r t.  VIII.

  [1] Die Anträge auf Auslieferung sollen durch die diplomatischen Agenten der hohen vertragenden Theile gestellt werden.
  [2] Mit dem Antrage auf Auslieferungen eines Beschuldigten müssen ein Haftbefehl, welcher von der zuständigen Behörde des die Auslieferung begehrenden Staates erlassen ist, und solche Beweise beigebracht werden, welche nach den Gesetzen des Ortes, wo der Beschuldigte aufgefunden wird, dessen Verhaftung rechtfertigen würden, wenn die strafbare Handlung dort begangen wäre.
  [3] Betrifft der Antrag eine bereits verurtheilte Person, so muß das Straf-Urtheil beigebracht werden, welches von dem zuständigen Gericht des die Auslieferung begehrenden Staates gegen den Verurtheilten erlassen ist.
  [4] Auf Straf-Urtheile, welche von Ungehorsams wegen (in contumaciam) erlassen sind, kann der Auslieferungs-Antrag nicht gegründet werden.

A r t.  IX.

  [1] Wenn das Auslieferungsgesuch nach den vorstehenden Bestimmungen begründet ist, so sollen die zuständigen Behörden des ersuchten Staates zur Festnahme des Flüchtlings schreiten.
  [2] Der Ergriffene wird sodann vor den dazu gesetzlich berufenen richterlichen Beamten gebracht, welcher ihn ebenso zu verhören und den Straffall vorläufig zu untersuchen hat, als wenn die Ergreifung wegen einer im Inlande begangenen strafbaren Handlung erfolgt wäre.

A r t.  X.

  Die Auslieferung erfolgt nicht vor Ablauf von 15 Tagen, seit der Ergreifung und nur dann, wenn die Beweise für genügend befunden worden sind, um nach den Gesetzen des ersuchten Staats entweder die Verweisung des Ergriffenen zur Hauptuntersuchung zu rechtfertigen, falls die strafbare Handlung im Gebiet dieses Staates begangen wäre, oder darzuthun, daß der Ergriffene mit der von den Gerichten des ersuchenden Staats verurtheilten Person identisch ist.

A r t.  XI.

  Die Behörden des ersuchten Staats haben bei der Prüfung, welche ihnen nach den vorstehenden Bestimmungen obliegt, den beeidigten Zeugen-Aussagen, welche in dem anderen Staate zu Protokoll genommen sind, ingleichen den Abschriften solcher Original-Zeugen-Aussagen, und ebenso den Haftbefehlen und Straf-Urtheilen volle Beweiskraft beizulegen, vorausgesetzt, daß diese Schriftstücke durch einen Richter, eine obrigkeitliche Person oder einen anderen Beamten dieses Staats unterzeichnet oder bescheinigt oder durch einen beeidigten Zeugen oder durch Beidrückung des Amtssiegels des Justiz- oder eines anderen Staatsministers beglaubigt sind.

A r t.  XII.

  Wenn die zur Auslieferung genügenden Beweise nicht binnen 2 Monaten von dem Tage der Ergreifung des Flüchtigen an beigebracht werden, so ist der Ergriffene auf freien Fuß zu setzen.

A r t.  XIII.

  Alle in Beschlag genommenen Gegenstände, welche sich zur Zeit der Ergreifung im Besitze des Auszuliefernden befinden, sollen, wenn die zuständige Behörde des um die Auslieferung ersuchten Staats die Ausantwortung derselben angeordnet hat, bei Vollziehung der Auslieferung mit übergeben werden, und es soll sich diese Ueberlieferung nicht blos auf die entfremdeten Gegenständen, sondern auf Alles erstrecken, was zum Beweise der strafbaren Handlung dienen kann.

A r t.  XIV.

  Die hohen vertragenden Theile verzichten darauf, die Erstattung derjenigen Kosten, welche ihnen aus der Festnahme und dem Unterhalt des Auszuliefernden und seinem Transport bis zur Einschiffung erwachsen, in Anspruch zu nehmen, willigen vielmehr gegenseitig darin, diese Kosten selbst zu tragen.

A r t.  XV.

  [1] Die Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages sollen auf die Kolonien und auswärtigen Besitzungen Ihrer Großbritannischen Majestät Anwendung finden.
  [2] Der Antrag auf Auslieferung eines flüchtigen Verbrechers, welcher in einer dieser Kolonien oder auswärtigen Besitzungen Zuflucht gefunden hat, soll an den Statthalter oder die oberste Behörde dieser Kolonie oder Besitzung durch den obersten Konsular-Beamten des Deutschen Reiches in dieser Kolonie oder Besitzung gerichtet werden.
  [3] Ueber solche Anträge soll der gedachte Statthalter oder die gedachte oberste Behörde soviel als möglich nach den Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrags befinden, jedoch soll denselben freistehen, entweder die Auslieferung zu bewilligen oder über den Fall an ihre Regierung zu berichten.
  [4] Ihre Großbritannische Majestät soll es jedoch freistehen, in den britischen Kolonien und auswärtigen Besitzungen über die Auslieferung deutscher Verbrecher, welche innerhalb dieser Kolonien und auswärtigen Besitzungen Zuflucht gefunden haben, auf möglichst gleicher Grundlage mit den Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages besondere Anordnungen zu treffen.
  [5] Anträge, betreffend die Auslieferung von Verbrechern, welche aus einer Kolonie oder auswärtigen Besitzung Ihrer Großbritannischen Majestät geflüchtet sind, sollen nach den Bestimmungen der vorstehenden Artikel des gegenwärtigen Vertrages behandelt werden.

A r t.  XVI.

  [1] Der gegenwärtige Vertrag soll zehn Tage nach seiner in Gemäßheit der durch die Gesetzgebung der hohen vertragenden Theile vorgeschriebenen Formen erfolgten Veröffentlichung in Kraft treten. Der Vertrag kann von jedem der beiden hohen vertragenden Theile aufgekündigt werden, bliebt jedoch nach erfolgter Auskündigung noch 6 Monate in Kraft.
  [2] Der Vertrag wird ratifizirt und die Ratifikationen werden nach vier Wochen, oder wo möglich früher, in London ausgewechselt werden.


  Zu Urkund dessen haben die beiderseitigen Bevollmächtigten die gegenwärtige Uebereinkunft unterzeichnet und mit ihren Wappen untersiegelt.

  So geschehen zu London am 14. Mai im Jahre des Herrn 1872.[2]

(L. S.)

(L. S.)

Bernstorff.

Granville.

  Vorstehender Vertrag ist ratifizirt, die Auswechslung der Ratifikations-Urkunden am 11. Juni d. J. in London, und die amtliche Veröffentlichung des Vertrages in Großbritannien am 28. Juni d. J. bewirkt worden.

 

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Anmerkung:
[1] Der im Original ebenfalls abgedruckte englische Text des Vertrages wird hier nicht wiedergegeben.


Quelle: Reichs-Gesetzblatt 1872, S. 229-237.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Auslieferungs-Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und Großbritannien (14.05.1872), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/ksr/1872/auslieferungsvertrag_deutsches-reich_grossbritannien.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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