Gesetz über die Freizügigkeit.
Vom 1. November 1867.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen etc.
verordnen im Namen des Norddeutschen Bundes, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrathes
und des Reichstages, was folgt:
§. 1.
[1] Jeder Bundesangehörige hat das Recht, innerhalb
des Bundesgebietes: |
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1) an jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen, wo er eine eigene
Wohnung oder ein Unterkommen sich zu verschaffen im Stande ist;
2) an jedem Orte Grundeigenthum aller Art zu erwerben;
3) umherziehend oder an dem Orte des Aufenthalts, beziehungsweise der Niederlassung,
Gewerbe aller Art zu betreiben, unter den für Einheimische geltenden gesetzlichen
Bestimmungen. |
[2] In der Ausübung dieser
Befugnisse darf der Bundesangehörige, soweit nicht das gegenwärtige Gesetz Ausnahmen
zuläßt, weder durch die Obrigkeit seiner Heimath, noch durch die Obrigkeit des Ortes, in
welchem er sich aufhalten oder niederlassen will, gehindert oder durch lästige
Bedingungen beschränkt werden.
[3] Keinem Bundesangehörigen darf um des Glaubensbekenntnisses willen oder wegen
fehlender Landes- oder Gemeindeangehörigkeit, die Niederlassung, der Gewerbebetrieb oder
der Erwerb von Grundeigenthum verweigert werden. |
§. 2.
Wer die aus der Bundesangehörigkeit folgenden Befugnisse in
Anspruch nimmt, hat auf Verlangen den Nachweis seiner Bundesangehörigkeit und, sofern er
unselbstständig ist, den Nachweis der Genehmigung desjenigen, unter dessen (väterlicher,
vormundschaftlicher oder ehelicher) Gewalt er steht, zu erbringen.
§. 3.
[1] Insoweit bestrafte Personen nach den Landesgesetzen
Aufenthaltsbeschränkungen durch die Polizeibehörde unterworfen werden können, behält
es dabei sein Bewenden.
[2] Solchen Personen, welche derartigen Aufenthaltsbeschränkungen in einem
Bundesstaate unterliegen, oder welche in einem Bundesstaate innerhalb der letzten zwölf
Monate wegen wiederholten Bettelns oder wegen wiederholter Landstreicherei bestraft worden
sind, kann der Aufenthalt in jedem anderen Bundesstaate von der Landespolizeibehörde
verweigert werden.
[3] Die besonderen Gesetze und Privilegien einzelner Ortschaften und Bezirke,
welche Aufenthaltsbeschränkungen gestatten, werden hiermit aufgehoben.
§. 4.
[1] Die Gemeinde ist zur Abweisung eines neu Anziehenden nur dann
befugt, wenn sie nachweisen kann, daß derselbe nicht hinreichende Kräfte besitzt, um
sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den nothdürftigen Lebensunterhalt zu
verschaffen, und wenn er solchen weder aus eigenem Vermögen bestreiten kann, noch von
einem dazu verpflichteten Verwandten erhält. Den Landesgesetzen bleibt vorbehalten, diese
Befugniß der Gemeinden zu beschränken.
[2] Die Besorgniß vor künftiger Verarmung berechtigt den Gemeindevorstand nicht
zur Zurückweisung.
§. 5.
Offenbart sich nach dem Anzuge die Nothwendigkeit einer
öffentlichen Unterstützung, bevor der neu Anziehende an dem Aufenthaltsorte einen
Unterstützungswohnsitz (Heimathsrecht) erworben hat, und weist die
Gemeinde nach, daß die Unterstützung aus anderen Gründen, als wegen einer nur
vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit nothwendig geworden ist, so kann die Fortsetzung des
Aufenthalts versagt werden.
§. 6.
[1] Ist in den Fällen, wo die Aufnahme oder die Fortsetzung des
Aufenthalts versagt werden darf, die Pflicht zur Uebernahme der Fürsorge zwischen
verschiedenen Gemeinden eines und desselben Bundesstaates streitig, so erfolgt die
Entscheidung nach den Landesgesetzen.
[2] Die thatsächliche Ausweisung aus einem Dorfe darf niemals erfolgen, bevor
nicht entweder die Annahme-Erklärung der in Anspruch genommenen Gemeinde oder eine
wenigstens einstweilen vollstreckbare Entscheidung über die Fürsorgepflicht erfolgt ist.
§. 7.
[1] Sind in den in §. 5. bezeichneten Fällen
verschiedene Bundesstaaten betheiligt, so regelt sich das Verfahren nach dem Vertrage
wegen gegenseitiger Verpflichtung zur Uebernahme der Auszuweisenden d. d. Gotha, den 15.
Juli 1851, sowie nach den späteren, zur Ausführung dieses Vertrages getroffenen
Verabredungen.
[2] Bis zur Uebernahme Seitens des verpflichteten Staates ist der Aufenthaltsstaat
zur Fürsorge für den Auszuweisenden am Aufenthaltsorte nach den für die öffentliche
Armenpflege in seinem Gebiete gesetzlich bestehenden Grundsätzen verpflichtet. Ein
Anspruch auf Ersatz der für diesen Zweck verwendeten Kosten findet gegen Staats-,
Gemeinde- oder andere öffentliche Kassen desjenigen Staates, welchem der Hülsbedürftige
angehört, sofern nicht anderweitige Verabredungen bestehen, nur insoweit statt, als die
Fürsorge für den Auszuweisenden länger als drei Monate gedauert hat.
§. 8.
Die Gemeinde ist nicht befugt, von neu Anziehenden wegen des
Anzugs eine Abgabe zu erheben. Sie kann dieselben, gleich den übrigen Gemeindeeinwohnern,
zu den Gemeindelasten heranziehen. Uebersteigt die Dauer des Aufenthalts nicht den
Zeitraum von drei Monaten, so sind die neu Anziehenden diesen Lasten nicht unterworfen.
§. 9.
Was vorstehend von den Gemeinden bestimmt ist, gilt an denjenigen
Orten, wo die Last der öffentlichen Armenpflege verfassungsmäßig nicht der örtlichen
Gemeinde, sondern anderen gesetzlich anerkannten Verbänden (Armenkommunen) obliegt, auch
von diesen, sowie von denjenigen Gutsherrschaften, deren Gutsbezirk sich nicht in einem
Gemeindeverbande befindet.
§. 10.
Die Vorschriften über die Anmeldung der neu Anziehenden bleiben
den Landesgesetzen mit der Maaßgabe vorbehalten, daß die unterlassene Meldung nur mit
einer Polizeistrafe, niemals aber mit dem Verluste des Aufenthaltsrechts (§. 1.)
geahndet werden darf.
§. 11.
[1] Durch den bloßen Aufenthalt oder die bloße Niederlassung,
wie sie das gegenwärtige Gesetz gestattet, werden andere Rechtsverhältnisse, namentlich
die Gemeindeangehörigkeit, das Ortsbürgerrecht, die Theilnahme an den Gemeindesitzungen
und der Armenpflege, nicht begründet.
[2] Wenn jedoch nach den Landesgesetzen durch den Aufenthalt oder die
Niederlassung, wenn solche eine bestimmte Zeit hindurch ununterbrochen fortgesetzt worden,
das Heimathsrecht (Gemeindeangehörigkeit, Unterstützungswohnsitz) erworben wird, behält
es dabei sein Bewenden.
§. 12.
[1] Die polizeiliche Ausweisung Bundesangehöriger aus dem Orte
ihres dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts in anderen, als in den durch dieses
Gesetz vorgesehenen Fällen, ist unzulässig.
[2] Im Uebrigen werden die Bestimmungen über die Fremdenpolizei durch dieses
Gesetz nicht berührt.
§. 13.
Dies Gesetz tritt am 1. Januar 1868. in Kraft.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem
Bundes-Insiegel.
Gegeben Schloß Blankenburg, den 1. November 1867.
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(L. S.) Wilhelm.
Gr. v. Bismarck-Schönhausen.
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