Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.
Vom 14. Juli 1933.
Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit
verkündet wird:
§ 1
(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen
Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der
ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine
Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten
leidet: |
- angeborenem Schwachsinn,
- Schizophrenie,
- zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
- erblicher Fallsucht,
- erblichem Beitstanz (Huntingtonsche Chorea),
- erblicher Blindheit,
- erblicher Taubheit,
- schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.
|
(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem
Alkoholismus leidet. |
§ 2
(1) Antragberechtigt ist derjenige, der unfruchtbar gemacht werden
soll. Ist dieser geschäftsunfähig oder wegen Geistesschwäche entmündigt oder hat er
das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet, so ist der gesetzliche Vertreter
antragsberechtigt; er bedarf dazu der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts. In den
übrigen Fällen beschränkter Geschäftfähigkeit bedarf der Antrag der Zustimmung des
gesetzlichen Vertreters. Hat ein Volljähriger einen Pfleger für seine Person erhalten,
so ist dessen Zustimmung erforderlich.
(2) Dem Antrag ist eine Bescheinigung eines für das Deutsche Reich approbierten
Arztes beizufügen, daß der Unfruchtbarzumachende über das Wesen und die Folgen der
Unfruchtbarmachung aufgeklärt worden ist.
(3) Der Antrag kann zurückgenommen werden.
§ 3
Die Unfruchtbarmachung können auch beantragen |
- der beamtete Arzt,
- für die Insassen einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt der
Anstaltsleiter.
|
§ 4
Der Antrag ist schriftlich oder zur Niederschrift der
Geschäftstelle des Erbgesundheitsgerichts zu stellen. Die dem Antrag zu Grunde liegenden
Tatsachen sind durch ein ärztliches Gutachten oder auf andere Weise glaubhaft zu machen.
Die Geschäftsstelle hat dem beamteten Arzt von dem Antrag Kenntnis zu geben.
§ 5
Zuständig für die Entscheidung ist das Erbgesundheitsgericht, in
dessen Bezirk der Unfruchtbarzumachende seinen allgemeinen Gerichtsstand hat.
§ 6
(1) Das Erbgesundheitsgericht ist einem Amtsgericht anzugliedern.
Es besteht aus einem Amtsrichter als Vorsitzenden, einem beamteten Arzt und einem weiteren
für das Deutsche Reich approbierten Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre besonders
vertraut ist. Für jedes Mitglied ist ein Vertreter zu bestellen.
(2) Als Vorsitzender ist ausgeschlossen, wer über einen Antrag auf
vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach § 2 Abs. 1 entschieden hat.
hat ein beamteter Arzt den Antrag gestellt, so9 kann er bei der Entscheidung nicht
mitwirken.
§ 7
(1) Das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht ist nicht
öffentlich.
(2) Das Erbgesundheitsgericht hat die notwendigen Ermittlungen anzustellen; es kann
Zeugen und Sachverständige vernehmen sowie das persönliche Erscheinen und die ärztliche
Untersuchung des Unfruchtbarzumachenden anordnen und ihn bei unentschuldigtem Ausbleiben
vorführen lassen. Auf die Vernehmung und Beeidigung der Zeugen und Sachverständigen
sowie auf die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen finden die Vorschriften
der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung. Ärzte, die als Zeugen oder
sachverständige vernommen werden, sind ohne Rücksicht auf das Berufsgeheimnis zur
Aussage verpflichtet. Gerichts- und Verwaltungsbehörden sowie Krankenanstalten haben dem
Erbgesundheitsgericht auf Ersuchen Auskunft zu erteilen.
§ 8
Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Ergebnisses
der Verhandlung und Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden. Die
Beschlußfassung erfolgt auf Grund mündlicher Beratung mit Stimmenmehrheit. Der Beschluß
ist schriftlich abzufassen und von den an der Beschlußfassung beteiligten Mitgliedern zu
unterschreiben. Er muß die Gründe angeben, aus denen die Unfruchtbarmachung beschlossen
oder angelehnt worden ist. Der Beschluß ist dem Antragsteller, dem beamteten Arzt sowie
demjenigen zuzustellen, dessen Unfruchtbarmachung beantragt worden ist, oder, falls dieser
nicht antragsberechtigt ist, seinem gesetzlichen Vertreter.
§ 9
Gegen den Beschluß können die im § 8 Satz 5
bezeichneten Personen binnen einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung
schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Erbgesundheitsgerichts
Beschwerde einlegen. Die Beschwerde hat aufschiebende Wirkung. Über die Beschwerde
entscheidet das Erbgesundheitsgericht. Gegen die Versäumung der Beschwerdefrist ist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in entsprechender Anwendung der Vorschriften der
Zivilprozeßordnung zulässig.
§ 10
(1) Das Erbgesundheitsobergericht wird einem Oberlandesgericht
angegliedert und umfaßt dessen Bezirk. Es besteht aus einem Mitglied des
Oberlandesgerichts, einem beamteten Arzt und einem weiteren für das Deutsche Reich
approbierten Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut ist. Für jedes
Mitglied ist ein Vertreter zu bestellen. § 6 Abs. 2 gilt entsprechend.
(2) Auf das Verfahren vor dem Erbgesundheitsobergericht finden §§ 7,
8 entsprechende Anwendung.
(3) Das Erbgesundheitsobergericht entscheidet endgültig.
§ 11
(1) Der zur Unfruchtbarmachung notwendige chirurgische Eingriff
darf nur in einer Krankenanstalt von einem für das Deutsche Reich approbierten Arzt
durchgeführt werden. Dieser darf den Eingriff erst vornehmen, wenn der die
Unfruchtbarmachung anordnende Beschluß endgültig geworden ist. Die oberste
Landesbehörde bestimmt die Krankenanstalten und Ärzte, denen die Ausführung der
Unfruchtbarmachung überlassen werden darf. Der Eingriff darf nicht durch den Arzt
vorgenommen werden, der den Antrag gestellt oder in dem Verfahren als Beisitzer mitgewirkt
hat.
(2) Der ausführende Arzt hat dem beamteten Arzt einen schriftlichen Bericht über
die Ausführung der Unfruchtbarmachung unter Angabe des angewendeten Verfahrens
einzureichen.
§ 12
(1) Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen,
so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht
dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die
erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist
die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.
(2) Ergeben sich Umstände, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhalts
erfordern, so hat das Erbgesundheitsgericht das Verfahren wieder aufzunehmen und die
Ausführung der Unfruchtbarmachung vorläufig zu untersagen. War der Antrag abgelehnt
worden, so ist die Wiederaufnahme nur zulässig, wenn neue Tatsachen eingetreten sind,
welche die Unfruchtbarmachung rechtfertigen.
§ 13
(1) Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens trägt die Staatskasse.
(2) Die Kosten des ärztlichen Eingriffs trägt bei den der Krankenversicherung
angehörenden Personen die Krankenkasse, bei anderen Personen im Falle der
Hilfsbedürftigkeit der Fürsorgeverband. In allen anderen Fällen trägt die Kosten bis
zur Höhe der Mindestsätze der ärztlichen Gebührenordnung und der durchschnittlichen
Pflegesätze in den öffentlichen Krankenanstalten die Staatskasse, darüber hinaus der
Unfruchtbargemachte.
§ 14
Eine Unfruchtbarmachung, die nicht nach den Vorschriften dieses
Gesetzes erfolgt, sowie eine Entfernung der Keimdrüsen sind nur dann zulässig, wenn ein
Arzt sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst zur Abwendung einer ernsten Gefahr für das
Leben oder die Gesundheit desjenigen, an dem er sie vornimmt, und mit dessen Einwilligung
vollzieht.
§ 15
(1) Die an dem Verfahren oder an der Ausführung des chirurgischen
Eingriffs beteiligten Personen sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.
(2) Wer der Schweigepflicht unbefugt zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu
einem Jahre oder mit Geldstrafe bestraft. Die Verfolgung tritt nut auf Antrag ein. Den
Antrag kann auch der Vorsitzende stellen.
§ 16
(1) Der Vollzug dieses Gesetzes liegt den Landesregierungen ob.
(2) Die obersten Landesbehörden bestimmen, vorbehaltlich der Vorschriften des § 6 Abs. 1 Satz 1 und des § 10 Abs. 1 Satz 1, Sitz und
Bezirk der entscheidenden Gerichte. Sie ernennen die Mitglieder und deren Vertreter.
§ 17
Der Reichsminister des Innern erläßt im Einvernehmen mit dem
Reichsminister der Justiz, die zur Durchführung dieses Gesetzes erforderlichen Rechts-
und Verwaltungsvorschriften.[1]
§ 18
Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 1934 in Kraft.[2]
Berlin, den 14. Juli 1933.
Der Reichskanzler
Adolf Hitler
Der Reichsminister des Innern
Frick
Der Reichsminister der Justiz
Dr. Gürtner
|