Verordnung des Reichspräsidenten über die Bildung
außerordentlicher Gerichte.
Vom 29. März 1921.
Auf Grund des Artikels 48 der Verfassung des Deutschen Reichs verordne ich zur Wiederherstellung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung folgendes:
§ 1
[1] In Bezirken, in denen auf Grund des Artikels 48 der Verfassung des Deutschen
Reichs die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einem
Regierungskommissar oder einem Militärbefehlshaber übertragen ist oder übertragen wird,
können außerordentliche Gerichte gebildet werden. Das gleiche gilt für Bezirke, in
denen zwar der Ausnahmezustand nicht verhängt ist, in denen aber strafbare Handlungen der
im § 9 genannten Art begangen sind oder begangen werden, die mit der
aufrührerischen Bewegung aus dem März 1921 in Verbindung stehen.
[2] Die Bildung der außerordentlichen Gerichte erfolgt auf Anordnung des
Reichsministers der Justiz, der auch die Amtsbezirke der einzelnen Gerichte und ihren Sitz
bestimmt.
[3] Die außerordentlichen Gerichte sind Gerichte des Reichs.
§ 2
Die außerordentlichen Gerichte entscheiden in der Besetzung mit
einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern. Für jedes Mitglied ist für den Fall seiner
Verhinderung ein Vertreter zu bestellen. Die Mitglieder und ihre Vertreter müssen zum
Richteramte befähigt sein; der Vorsitzende und sein Vertreter müssen beamtete Richter
sein.
§ 3
[1] Die Mitglieder der außerordentlichen Gerichte sowie die
Vertreter werden von dem Präsidenten des Landgerichts berufen, in
dessen Bezirk das Gericht seinen Sitz hat. Als Mitglied darf nur berufen werden, wer im
Bezirke des außerordentlichen Gerichts wohnt.
[2] Die Berufung darf nur aus den im § 35 Nr. 1 und 5 des
Gerichtsverfassungsgesetzes genannten Gründen abgelehnt werden. Über die Ablehnung
entscheidet der Präsident des Landgerichts.
[3] Von der Berufung hat der Präsident dem Reichsminister der Justiz unverzüglich
Anzeige zu erstatten.
§ 4
[1] Die Vertreter der Anklagebehörde werden durch den
Präsidenten des Landgerichts (§ 3) aus den im Bezirke des
außerordentlichen Gerichts wohnhaften, zum Richteramte befähigten Personen berufen. Die
Berufung soll sich tunlichst nur auf Personen erstrecken, die der Staatsanwaltschaft
angehören; § 3 Abs. 2, 3 finden entsprechende Anwendung. Besteht die
Anklagebehörde eines außerordentlichen Gerichts aus mehreren Beamten, so bezeichnet der
Präsident des Landgerichts einen derselben als ersten Beamten. Die übrigen Beamten
handeln als dessen Vertreter.
[2] Der Reichsminister der Justiz kann für sämtliche Anklagebehörden oder für
einen Teil derselben einen gemeinsamen Leiter bestellen. Die Vertreter der
Anklagebehörden haben den dienstlichen Anweisungen des gemeinsamen Leiters Folge zu
leisten.
§ 5
[1] Die Präsident des Landgerichts beruft die erforderlichen
Gerichtsschreiberei-, Sekretariats-, Kanzlei- und Unterbeamten. Die Berufung kann sich
auch auf die bei anderen als Gerichtsbehörden beschäftigten Sekretariats-, Kanzlei- und
Unterbeamten erstrecken. § 3 Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.
[2] Die Präsident des Landgerichts trifft die Anordnungen über die
Geschäftsräume und die Geschäftsbedürfnisse.
§ 6
Wer der Berufung durch den Präsidenten des Landgerichts nicht
Folge leistet oder ohne genügende Entschuldigung sich zu den Sitzungen nicht rechtzeitig
einfindet oder seinen Obliegenheiten in anderer Weise sich entzieht, ist zu einer
Ordnungsstrafe bis zu zehntausend Mark sowie in die verursachten Kosten zu verurteilen.
Die Verurteilung hat für jeden Fall der Zuwiderhandlung zu erfolgen. Sie wird vom
Präsidenten des Landgerichts ausgesprochen.
§ 7
Gegen die Berufung durch den Präsidenten des Landgerichts und die
sonstigen auf Grund der §§ 3 bis 6 ergehenden
Entscheidungen des Präsidenten findet eine Beschwerde nicht statt.
§ 8
Die Kosten der außerordentlichen Gerichte einschließlich die
Kosten der Untersuchungshaft und der Strafvollstreckung trägt das Reich; die gesetzlichen
Vorschriften über die Verpflichtung des Verurteilten und dritter Personen zur Tragung von
Kosten bleiben unberührt. Die auf Grund von Urteilen der außerordentlichen Gerichte
gezahlten oder beigetriebenen Geldstrafen und die von dem Präsidenten des Landgerichts
verhängten Ordnungsstrafen fließen in die Reichskasse.
§ 9
Die außerordentlichen Gerichte sind zuständig: |
- für die im Teil II Abschnitt 1, 6, 7, 20, 27 des Strafgesetzbuchs bezeichneten
Verbrechen und Vergehen,
- für die Verbrechen und Vergehen gegen die §§ 211 bis 215 des Strafgesetzbuchs,
- für die Verbrechen und Vergehen gegen das Gesetz gegen den verbrecherischen und
gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen vom 9. Juni 1884 (Reichs-Gesetzbl. S. 61),
- für die Verbrechen und Vergehen gegen das Gesetz über die Entwaffnung der
Bevölkerung vom 7. August 1920 (Reichs-Gesetzbl. S. 1553),
|
soweit die Tat nach dem 10. März 1921 begangen oder
fortgesetzt worden ist.[1]
Zusammenhängende Strafsachen können verbunden bei dem außerordentlichen Gericht
anhängig gemacht werden, wenn bezüglich einer der Strafsachen die Zuständigkeit des
außerordentlichen Gerichts begründet ist.
Fälle, deren schleunige Erledigung keine Bedeutung hat oder undurchführbar ist,
sind im ordentlichen Verfahren zu erledigen. Die Anklagebehörde und, soweit das Verfahren
beim außerordentlichen Gericht anhängig ist, dieses Gericht können die Verweisung zum
ordentlichen Verfahren anordnen. In diesem Falle sind die Akten an die nach §§ 7 ff. der
Strafprozeßordnung zuständige Staatsanwaltschaft zu übersenden. War im
außerordentlichen Verfahren ein Haftbefehl ergangen, so hat die Staatsanwaltschaft
unverzüglich eine Entscheidung des ordentlichen Gerichts über die Fortdauer der Haft
herbeizuführen. |
§ 10
Auf das Verfahren vor den außerordentlichen Gerichten finden,
soweit nicht etwas anderes bestimmt ist, die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes
und der Strafprozeßordnung über das Verfahren vor den Landgerichten entsprechende
Anwendung.[2]
§ 11
Ein Gerichtsstand ist auch bei demjenigen außerordentlichen
Gericht begründet, in dessen Bezirk der Beschuldigte ergriffen wird oder sich in Haft
befindet.
Das Gericht bestimmt nach freiem Ermessen den Ort seiner Sitzungen und ist dabei an
seinen Amtssitz nicht gebunden.
§ 12
Über die Ablehnung eines Richters (§ 24 der Strafprozeßordnung)
entscheidet das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, nachdem an die Stelle des
abgelehnten Richters dessen Vertreter getreten ist. Eine Ablehnung des Vertreters ist
unzulässig. Die Entscheidung des Gerichts über die Ablehnung ist endgültig.
§ 13
Wer wegen einer im § 9 bezeichneten strafbaren
Handlung vorläufig festgenommen wird, ist unverzüglich dem zuständigen
außerordentlichen Gericht oder dem Amtsrichter des Bezirkes vorzuführen, in dem die
Festnahme erfolgt ist. Der Vorsitzende des außerordentlichen Gerichts oder der
Amtsrichter haben den Festgenommenen spätestens am Tage nach seiner Vorführung zu
vernehmen. Halten sie die Festnahme nicht für gerechtfertigt oder die Gründe derselben
für beseitigt, so ordnen sie die Freilassung an. Andernfalls erlassen sie einen
Haftbefehl.
§ 14
[1] Der Amtsrichter hat die Akten nach der Vernehmung
unverzüglich der Anklagebehörde beim außerordentlichen Gericht zuzuleiten. Hat der
Amtsrichter einen Haftbefehl erlassen, so hat die Anklagebehörde, wenn sie die Verhaftung
für begründet hält, die Akten alsbald dem Vorsitzenden des außerordentlichen Gerichts
zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft vorzulegen; andernfalls
beantragt sie beim Amtsgerichte die Aufhebung des Haftbefehls.
[2] Solange keine Entscheidung des Vorsitzenden des außerordentlichen Gerichts
ergangen und zur Kenntnis des Amtsrichters gelangt ist, finden auf den vom Amtsrichter
erlassenen Haftbefehl die Vorschriften des § 126 der Strafprozeßordnung Anwendung.
§ 15
Der Vorsitzende des außerordentlichen Gerichts kann mit seiner
Vertretung bei Entscheidungen über Erlaß eines Haftbefehls und die Fortdauer der
Untersuchungshaft einen Beisitzer beauftragen.
§ 16
[1] Ist die Verhaftung oder die Fortdauer der Haft von dem
Vorsitzenden des außerordentlichen Gerichts angeordnet, so sind, solange die öffentliche
Klage nicht erhoben worden ist, die Akten nach Ablauf je eines Monats dem
außerordentlichen Gerichte zur Entscheidung darüber vorzulegen, ob die Verhaftung
aufrecht zu erhalten ist.
[2] Der vor der Erhebung der öffentlichen Klage erlassene Haftbefehl ist
aufzuheben, wenn die Anklagebehörde es beantragt.
§ 17
[1] Gegen den vom Amtsrichter erlassenen Haftbefehl findet eine
Beschwerde nicht statt.
[2] Gegen die Entscheidung des Vorsitzenden des außerordentlichen Gerichts über
den Erlaß eines Haftbefehls und die Fortdauer der Haft ist die Beschwerde zulässig.
Über die Beschwerde entscheidet das außerordentlichen Gericht endgültig.
[3] Die Untersuchungshaft wird in Gefängnissen der Länder vollstreckt.
§ 18
Eine gerichtliche Voruntersuchung findet nicht statt. Die Frist
des § 216 der Strafprozeßordnung wird auf 24 Stunden[3]
festgesetzt; sie läuft von der Stunde der Mitteilung des Hauptverhandlungstermins an. Ein
Beschluß des außerordentlichen Gerichts über die Eröffnung des Hauptverfahrens ergeht
nicht. Der Vorsitzende des außerordentlichen Gerichts ordnet, wenn er keine Bedenken hat,
auf Antrag der Anklagebehörde die Hauptverhandlung an. Andernfalls bedarf es eines
Gerichtsbeschlusses. Nach dem Ermessen der Anklagebehörde kann von einer schriftlichen
Anklage angesehen werden.[4] Geschieht dies, so hat
der Vertreter der Anklage in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Beschuldigten die
diesem zur Last gelegten Tatsachen vorzutragen.[4]
Das Gericht bestimmt den Umfang der Beweisaufnahme nach freiem Ermessen.[5]
§ 19
[1] Gegen die Entscheidung des außerordentlichen Gerichts ist
kein Rechtsmittel zulässig.
[2] Über Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidet das im
ordentlichen Verfahren zuständige Gericht. Die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten
findet auch dann statt, wenn Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die es
notwendig erscheinen lassen, die Sache im ordentlichen Verfahren nachzuprüfen. Die
Vorschrift des § 403 der Strafprozeßordnung bleibt unberührt. Ist der Antrag auf
Wiederaufnahme begründet, so ist die Hauptverhandlung vor dem zuständigen ordentlichen
Gericht anzuordnen.
§ 20
[1] Die Strafvollstreckung erfolgt durch die Anklagebehörde; die
erforderlichen Einrichtungen und Strafanstalten stellen die Länder.
[2] Die Todesstrafe wird auf Ersuchen der Anklagebehörde von der Militärbehörde
durch Erschießen vollstreckt. Die Vollstreckung ist erst dann zulässig, wenn die
Entschließung des Reichspräsidenten ergangen ist, von dem Begnadigungsrecht keinen
Gebrauch machen zu wollen.
§ 21
[1] Die Tätigkeit der außerordentlichen Gerichte endet mit der
Außerkraftsetzung dieser Verordnung. Schon vorher kann ein außerordentliches Gericht
durch Anordnung des Reichsministers der Justiz aufgehoben werden.
[2] Endet die Tätigkeit der außerordentlichen Gerichte allgemein oder für einen
bestimmten Bezirk, so ist in den dort anhängigen Sachen das ordentliche Verfahren
einzuleiten; das gleiche gilt für Sachen, in denen ein Todesurteil erlassen worden ist,
es sei denn, daß bereits eine Entschließung des Reichspräsidenten über die Ausübung
seines Begnadigungsrecht ergangen ist. Für die örtliche Zuständigkeit gelten die
Vorschriften der §§ 7 ff. der Strafprozeßordnung.
[3] Die Strafvollstreckung geht auf die Strafvollstreckungsbehörde über, in deren
Bezirk das außerordentlichen Gericht seinen Sitz gehabt hat.
§ 22
Diese Verordnung tritt mit dem heutigen Tage in Kraft.
Zugleich tritt die Verordnung
des Reichspräsidenten, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit nötigen Maßnahmen auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, vom
30. Mai 1920 (Reichs-Gesetzbl. S. 1147) außer Kraft. Für die bisher begangenen
strafbaren Handlungen bleiben die Strafvorschriften des § 1 der Verordnung vom 30. Mai 1920
maßgebend; die zur Zeit der Außerkraftsetzung dieser Verordnung bei den
außerordentlichen Gerichten noch anhängigen Verfahren werden von ihnen erledigt.
Berlin, den 29. März 1921.
Der Reichspräsident
Ebert
Der Reichsminister der Justiz
Dr. Heinze
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