Gesetz über den Volksentscheid.
Vom 27. Juni 1921.
Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit
Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird:
§ 1
[1] Ein Volksentscheid findet statt, |
- wenn der Reichspräsident den Volksentscheid über ein vom Reichstag beschlossenes
Gesetz binnen eines Monats nach der Beschlußfassung angeordnet hat (Artikel 73 Abs. 1 der Reichsverfassung);
- wenn auf Verlangen eines Drittels des Reichstags die Verkündung eines Reichsgesetzes um
zwei Monate ausgesetzt ist und ein Zwangzigstel der Stimmberechtigten den Volksentscheid
beantragt hat (Artikel 71 und 73 Abs. 2 der Reichsverfassung);
- wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten unter Zugrundelegung eines ausgearbeiteten
Entwurf seine Vorlegung begehrt hat und der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag nicht
unverändert angenommen worden ist (Artikel 73 Abs. 3
der Reichsverfassung);
- wenn der Reichspräsident bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichstag und Reichsrat
über ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz den Volksentscheid darüber angeordnet hat
(Artikel 74 Abs. 3 der Reichsverfassung);
- wenn der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung
beschlossen und der Reichstag binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt hat (Artikel 76 Abs. 2 der Reichsverfassung).
|
[2] Über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze
und Besoldungsordnungen findet ein Volksentscheid nach Nr. 2 und 3 nicht statt (Artikel 73 Abs. 4 der Reichsverfassung). |
§ 2
Hat der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit die Absetzung des
Reichspräsidenten beantragt, so gelten für die Volksabstimmung (Artikel 43 Abs. 2 der Reichsverfassung)
die Vorschriften über den Volksentscheid entsprechend.
§ 3
[1] Gegenstand des Volksentscheids ist im Falle des § 1 Nr. 3 das begehrte und ein vom Reichstag beschlossenes abweichendes
Gesetz.
[2] Haben dem Reichstag mehrere Volksbegehren über denselben Gegenstand
vorgelegen, so ist auch ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz, durch welches einer der
begehrten Gesetzentwürfe unverändert angenommen wurde, zusammen mit den andern
begehrten Gesetzentwürfen dem Volksentscheide zu unterbreiten.
§ 4
Die Reichsregierung bestimmt den Abstimmungstag und
veröffentlicht ihn sowie den Gegenstand des Volksentscheids und den Abdruck des
Stimmzettels im Reichsanzeiger. Die Landesregierungen sorgen für ausreichende
Veröffentlichung.
§ 5
Abstimmungstag ist ein Sonntag oder öffentlicher Ruhetag.
§ 6
Die Abstimmung ist unmittelbar und geheim. Jeder Stimmberechtigte hat eine
Stimme.
§ 7
[1] Stimmberechtigt ist, wer das Wahlrecht zum Reichstag hat.
[2] Die Vorschriften des Reichswahlgesetzes
über das Ruhen des Wahlrechts und die Behinderung in seiner Ausübung gelten auch für
das Stimmrecht.
§ 8
Die Vorschriften des Reichswahlgesetzes
über die Bildung der Wahlbezirke und der Wahlvorstände, über die Wählerlisten und
Wahlkarteien, sowie über deren Auslegung und Berichtigung finden Anwendung. Die
Bezeichnungen "Wahlbezirke", "Wahlvorsteher",
"Wahlvorstände", "Wählerlisten", "Wahlkarteien"
werden durch die Bezeichnungen
"Stimmbezirke", "Abstimmungsvorsteher",
Abstimmungsvorstände", "Stimmlisten", "Stimmkarteien"
ersetzt.
§ 9
[1] Die Reichstagswahlkreise gelten als Stimmkreise.
[2] Für jeden Stimmkreis wird ein Abstimmungsleiter und ein Stellvertreter ernannt
und ein Abstimmungsausschuß gebildet.
[3] Die Ausschüsse bestehen aus dem Abstimmungsleiter als Vorsitzendem und vier
Beisitzern, die er aus den Stimmberechtigten beruft. Sie beschließen mit Stimmenmehrheit.
§ 10
Die Abstimmungshandlung und die Ermittlung des Ergebnisses sind öffentlich.
§ 11
Abstimmen kann nur, wer in eine Stimmliste oder Stimmkartei eingetragen ist oder
einen Stimmschein hat.
§ 12
Ein Stimmberechtigter, der in eine Stimmliste
oder Stimmkartei eingetragen ist, ist auf Antrag mit einem Stimmschein zu versehen, |
- wenn er am Abstimmungstag außerhalb seines Wohnort sich aufhält oder ihn so
frühzeitig verlassen muß oder an ihn so spät zurückkehrt, daß er innerhalb der
Abstimmungszeit nicht mehr abstimmen kann;
- wenn er nach Ablauf der Frist zur Auslegung der Stimmlisten oder
Stimmkartei seine Wohnung in einen anderen Stimmbezirk verlegt;
- wenn er infolge eines körperlichen Leidens oder Gebrechens in seiner
Bewegungsfreiheit behindert ist und durch den Stimmschein die Wahlmöglichkeit erhält,
einen für ihn günstiger gelegenen Abstimmungsraum aufzusuchen.
|
§ 13
Stimmberechtigte, deren Namen in einer Stimmliste
oder Stimmkartei nicht eingetragen oder gestrichen worden sind, sind auf Antrag mit einem
Stimmschein zu versehen, |
- wenn sie wegen Ruhens des Stimmrechts oder wegen Behinderung in seiner Ausübung
gestrichen oder nicht eingetragen waren, der Grund hierfür aber nachträglich weggefallen
ist;
- wenn sie Auslandsdeutsche waren und ihren Wohnort nach Ablauf der Frist zur Auslegung
der Stimmlisten und Stimmkarteien in das Inland verlegt haben;
- wenn sie nachweisen, daß sie ohne ihr Verschulden die Frist zur Einlegung eines
Einspruchs gegen die Stimmliste oder Stimmkartei versäumt haben.
|
§ 14
Stimmberechtigten können nur in dem Stimmbezirk abstimmen, in
dessen Stimmliste oder Stimmkartei sie eingetragen sind. Inhaber von Stimmscheinen können
in jedem beliebigen Stimmbezirk abstimmen.
§ 15
Die Stimme lautet nur auf Ja oder auf Nein; Zusätze nicht zulässig.
§ 16
[1] Abgestimmt wird mit Stimmzetteln in amtlich gestempelten
Umschlägen.
[2] Die Landesregierungen liefern die Stimmzettel von weißem oder weißlichem
Papiere mit dem im Reichsanzeiger veröffentlichten Aufdruck und lassen sie in den
Abstimmungsräumen in ausreichender Zahl bereithalten.
§ 17
[1] Die Abstimmenden tragen in den Stimmzettel das Wort Ja oder Nein ein oder
durchkreuzen eines der für Ja und Nein vorgedruckten Vierecke oder streichen eines der
vorgedruckten Worte Ja und Nein.
[2] Abwesende können sich weder vertreten lassen noch sonst an der Abstimmung
teilnehmen.
§ 18
[1] Ungültig sind Stimmzettel, |
- die nicht amtlich geliefert sind;
- die keine Eintragung enthalten;
- aus deren Inhalt der Wille des Abstimmenden nicht unzweifelhaft zu erkennen ist;
- die außer den Worten Ja oder Nein einen Zusatz enthalten;
- die im Falle des § 1 Nr. 4 beide Fragen mit Ja oder mit Nein
beantworten;
- die mit einem Kennzeichen versehen sind.
|
[2] Mehrere in einem Umschlag enthaltene
Stimmzettel gelten als eine Stimme, wenn sie gleichlautend sind oder wenn nur einer von
ihnen eine Eintragung enthält; andernfalls sind sie ungültig. |
§ 19
Über die Gültigkeit der Stimmzettel entscheidet der
Abstimmungsvorstand mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit gibt der
Abstimmungsvorsteher den Ausschlag.
§ 20
[1] Im Stimmkreis stellt der Abstimmungsausschuß zur Ermittlung
des Abstimmungsergebnisses fest, wieviel Stimmen abgegeben sind und wieviel auf Ja und auf
Nein lauten.
[2] Das Gesamtergebnis stellt der Reichswahlausschuß fest.
§ 21
[1] Die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen entscheidet.
[2] Ein Beschluß des Reichstags kann durch eine Volksentscheid nur dann außer
Kraft gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung
beteiligt (Artikel 76 Abs. 1 Satz 4 der Reichsverfassung).
[3] Bei Gleichheit der Stimmen für die Bejahung und für die Verneinung einer
Frage gilt die Frage als verneint. Bei Gleichheit der Stimmen für die Bejahung zweier
Fragen entscheidet das Los, das der Reichswahlleiter zieht.
§ 22
Nach der Feststellung durch den Reichswahlausschuß prüft das
Wahlprüfungsgericht beim Reichstag das Abstimmungsergebnis.
§ 23
Wird die ganze Abstimmung für ungültig erklärt, so findet eine neue
Abstimmung statt.
§ 24
[1] Ist in einzelnen Stimmbezirken die Abstimmung nicht
ordnungsgemäß vorgenommen worden, so kann das Wahlprüfungsgericht dort die Wiederholung
der Abstimmung beschließen. Der Reichsminister des Innern hat den Beschluß alsbald
auszuführen.
[2] Ist die Behinderung der ordnungsgemäßen Abstimmung in einzelnen
Stimmbezirken zweifelsfrei festgestellt, so kann der Reichsminister des Innern auf Antrag
des Abstimmungsausschusses des Stimmkreises und mit Zustimmung des Reichswahlausschusses
dort die Wiederholung der Abstimmung anordnen.
[3] Die Anordnung des Reichsministers unterliegt im Prüfungsverfahren der
Nachprüfung durch das Wahlprüfungsgericht.
[4] Die Wiederholung der Abstimmung darf nicht später als sechs Wochen
nach der Hauptabstimmung stattfinden.
[5] Bei der Wiederholung der Abstimmung wird auf Grund derselben Stimmlisten oder
Stimmkarteien abgestimmt wie bei der Hauptabstimmung.
§ 25
Der Reichsminister des Innern veröffentlicht nach Abschluß des
Prüfungsverfahrens das Abstimmungsergebnis im Reichsanzeiger.
§ 26
Anträge und Begehren nach § 1 Nr. 2 und 3
unterliegen einem besonderen Zulassungs- und Eintragungsverfahren.
§ 27
[1] Der Zulassungsantrag ist schriftlich an den Reichsminister des
Innern zu richten. Er bedarf der Unterschriften von fünftausend Stimmberechtigten. Dabei
ist das Stimmrecht der Unterzeichner des Antrags durch eine Bestätigung der
Gemeindebehörde ihres Wohnorts nachzuweisen.
[2] Von der Beibringung der Unterschriften von fünftausend Stimmberechtigten kann
abgesehen werden, wenn die Vorstandschaft einer Vereinigung den Antrag stellt und
glaubhaft macht, daß ihn hunderttausend ihrer stimmberechtigten Mitglieder unterstützen.
§ 28
Der Volksentscheid über ein Gesetz, dessen Verkündung ausgesetzt
ist, muß innerhalb zweier Wochen nach dem Tage beantragt sein, an dem im Reichstag die
Aussetzung verlangt worden ist.
§ 29
Anträge auf Zulassung eines Volksbegehrens zugunsten eines
ausgearbeiteten Gesetzentwurfs können erst nach Ablauf eines Jahres von neuem gestellt
werden.
§ 30
Der Reichsminister des Innern prüft, ob die Voraussetzungen der
§§ 27 bis 29 erfüllt sind. Er entscheidet über den
Antrag auf Zulassung.
§ 31
[1] Wird dem Zulassungsantrag stattgegeben, so veröffentlicht ihn
der Reichsminister des Innern in der zugelassenen Form im Reichsanzeiger und setzt dabei
Beginn und Ende der Eintragungsfrist fest.
[2] Die Frist beginnt frühestens zwei Wochen nach Veröffentlichung der Zulassung;
sie soll in der Regel vierzehn Tage umfassen.
§ 32
Nach der Zulassung kann der Zulassungsantrag nicht mehr
geändert, aber bis zum Ablauf der Eintragungszeit jederzeit zurückgenommen werden. Die
Zurücknahmeerklärung ist gültig, wenn sie von mehr als der Hälfte der
Antragsunterzeichner oder von der Vorstandschaft der Vereinigung, die den Antrag gestellt
hat, abgegeben ist.
§ 33
Eintragungsberechtigt ist, wer am Tage der Eintragung zum Reichstag wählen
kann.
§ 34
[1] Die Gemeindebehörden müssen den Eintragungsberechtigten
während der Eintragungsfrist Gelegenheit geben, sich in die vorschriftsmäßigen
Eintragungslisten, die ihnen von den Antragstellern übergeben werden, eigenhändig
einzutragen.
[2] Erklärt ein Eintragungsberechtigter, daß er nicht schreiben kann, so wird
seine Unterschrift durch die Feststellung dieser Erklärung ersetzt.
§ 35
Die Eintragung (§ 34) muß enthalten |
- Vor- und Zunamen, bei verheirateten oder verheiratet gewesenen Frauen auch den
Geburtsnamen,
- Stand, Beruf oder Gewerbe,
- Bezeichnung der Wohnung.
|
§ 36
Zur Eintragung ist nur zugelassen, |
|
a) wer in die zuletzt abgeschlossene Wählerliste (Stimmliste) oder
Wahlkartei (Stimmkartei) eingetragen ist, es sei denn, daß das Wahl- oder Stimmrecht
inzwischen verloren gegangen ist oder während der Eintragungsfrist ruht,
b) wer einen Eintragungsschein hat. |
§ 37
Für die Ausstellung eines Eintragungsschein gelten die
Vorschriften der §§ 12 und 13 entsprechend. Ein
Eintragungsschein ist ferner auszustellen, wenn der Eintragungsberechtigte nachweist, daß
er erst nach der zuletzt stattgefundenen Wahl oder Abstimmung stimmberechtigt geworden
ist.
§ 38
Gegen die Ablehnung der Zulassung zur Eintragung oder gegen die
Versagung eines Eintragungsscheins ist Einspruch zulässig. Gibt die Gemeindebehörde dem
Einspruch alsbald nicht statt, so entscheidet ihre Aufsichtsbehörde binnen einer Woche.
§ 39
Ungültig sind Eintragungen, die |
- die Person des Eintragenden nicht zweifelsfrei erkennen lassen,
- von nicht eintragungsberechtigten Personen herrühren,
- nicht in vorschriftsmäßige Eintragungslisten gemacht sind.
|
§ 40
[1] Nach Ablauf der Eintragungsfrist beurkunden die
Gemeindebehörden auf den Eintragungslisten, ob die Eintragenden am Tage der Eintragung
eintragungsberechtigt waren und in der Gemeinde ihren Wohnsitz oder Aufenthalt hatten oder
Eintragungsscheine übergeben haben.
[2] § 9 gilt entsprechend.
§ 41
[1] Der Abstimmungsausschuß stellt fest, wieviel
Eintragungsberechtigte im Stimmkreis sich für den Antrag oder das Begehren gültig
eingetragen haben. Das Ergebnis wird dem Reichswahlleiter mitgeteilt.
[2] Der Reichswahlausschuß stellt das Eintragungsergebnis im Reiche fest. Das
Gesamtergebnis wird vom Reichswahlleiter im Reichsanzeiger veröffentlicht und dem
Reichsminister des Innern mitgeteilt.
§ 42
Als Zahl der sämtlichen Stimmberechtigten ist die amtlich
ermittelte Zahl bei der letzten Reichstags- oder Reichspräsidentenwahl oder allgemeinen
Volksabstimmung maßgebend.
§ 43
[1] Dem Antrag auf Volksentscheid nach § 1 Nr. 2
ist Folge zu geben, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten gültige Unterschriften
dafür abgegeben hat, daß ein Gesetz, dessen Verkündung ausgesetzt ist, dem
Volksentscheide zu unterbreiten sei.
[2] Das Begehren nach § 1 Nr. 3 ist zustande gekommen, wenn ein
Zehntel der Stimmberechtigten gültige Unterschriften dafür abgegeben hat, daß ein
ausgearbeiteter Gesetzentwurf dem Reichstag unterbreitet werde.
[3] Die Reichsregierung hat unverzüglich in den Fällen des Abs. 1 einen
Volksentscheid nach § 4 einzuleiten, in den Fällen des Abs. 2 den
begehrten Gesetzentwurf einzubringen.
§ 44
Für die Verteilung der Kosten des Zulassungs- und
Eintragungsverfahrens, soweit sie nicht den Antragstellern zur Last fallen, sowie der
Kosten des Volksentscheids gelten die Vorschriften des Reichswahlgesetzes entsprechend.
§ 45
Der Reichsminister des Innern erläßt mit Zustimmung des Reichsrats die
Bestimmungen zur Ausführung des Gesetzes.
Berlin, den 27. Juni 1921.
Der Reichspräsident
Ebert
Der Reichsminister des Innern
Dr. Gradnauer
|