[Begleitbrief des Bundespräsidenten Karl Carstens an den
Bundeskanzler und die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat bezüglich der
Unterzeichnung des Staatshaftungsgesetzes.
vom 26. Juni 1981.]
Bundespräsident Karl Carstens hat am 26. Juni 1981 das
Staatshaftungsgesetz unterzeichnet, das der Deutsche Bundestag am 12. Februar 1981
verabschiedet und dem der Bundesrat am 13. März 1981 seine Zustimmung versagt hatte.
In einem Begleitbrief vom gleichen Tage an den Bundeskanzler, den Präsidenten des
Deutschen Bundestages und den Bundesratspräsidenten hat Bundespräsident Carstens Zweifel
an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes geäußert und die Auffassung vertreten, daß
erhebliche Gründe für die Notwendigkeit einer Zustimmung durch den Bundesrat sprächen.
Der Begleitbrief hat folgenden Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Die Bundesregierung hat mir das Staatshaftungsgesetz zur Unterzeichnung zugeleitet, das
der Deutsche Bundestag am 12. Februar 1981 verabschiedet und dem der Bundesrat in seiner
Sitzung vom 13. März 1981 die Zustimmung versagt hat. Der Bundesrat steht auf dem
Strandpunkt, daß dem Bund die Kompetenz für dieses Gesetz fehle, daß es also einer
Änderung des Grundgesetzes bedürfe, bevor das Staatshaftungsgesetz durch den
Bundesgesetzgeber erlassen werden könne. Außerdem macht der Bundesrat geltend, daß,
selbst wenn man die Gesetzgebungskompetenz des Bundes bejahen sollte, zwei Bestimmungen
des Gesetzes (§ 10 Abs. 3 und § 11) nur mit Zustimmung des Bundesrates ergehen könnten
und daß daher das Gesetz insgesamt seiner Zustimmung bedürfe.
Der Bundesminister des Innern und der Bundesminister der Justiz haben mir Gutachten
vorgelegt, die zu dem Ergebnis kommen, daß die Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegeben
sei und daß das vorliegende Gesetz der Zustimmung des Bundesrates nicht bedürfe.
Nach meiner eigenen Auffassung bestehen erhebliche Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz
des Bundes. Sie wird auf Artikel 74 Nr. 1 des Grundgesetzes gestützt. Danach hat der Bund
die (konkurierende) Gesetzgebungskompetenz für "das bürgerliche Recht". Unter
bürgerlichem Recht werden allgemein die Rechtsnormen verstanden, die herkömmlicherweise
diesem Rechtsgebiet zugerechnet worden sind. Um die Zuständigkeit des Bundes für den
Erlaß des Staatshaftungsgesetzes zu begründen, wird auf § 839 des Bürgerlichen
Gesetzbuches verwiesen, der die Haftung von Beamten für schuldhaftes Handeln gegenüber
den betroffenen Bürgern vorsieht.
Hier handelt es sich unstreitig um eine Norm des bürgerlichen Rechts. Der
bürgerlich-rechtliche Charakter der Amtshaftung ist auch nicht dadurch verlorengegangen,
daß § 839 BGB schon durch Artikel 131 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und später durch Artikel 34 des Grundgesetzes
ergänzt worden ist und daß seitdem an Stelle des Beamten der Staat haftet.
Aber die Bestimmungen des Staatshaftungsgesetzes gehen weit über die bisher durch § 839
BGB, Artikel 131 WRV
und Artikel 34 GG gezogenen Rahmen hinaus. In Zukunft tritt an die
Stelle der Überleitung der Haftung eine originäre Haftung des Staates, und zwar ohne
Rücksicht darauf, ob einen Amtsträger ein Verschulden trifft, und der Staat soll nicht
nur zum Schadenersatz in Geld, sondern auch zur Beseitigung der durch den fehlerhaften Akt
entstandenen Folgen verpflichtet werden. Es kann daher sehr wohl die Ansicht vertreten
werden, daß durch das Staatshaftungsgesetz ein neues Rechtsinstitut geschaffen wird, das
mit dem bürgerlichen Recht im herkömmlichen Sinne keinen hinreichenden Zusammenhang mehr
aufweist.
Auch sprechen nach meiner Auffassung erhebliche Gründe für die Ansicht, daß, selbst
wenn die Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegeben ist, das vorliegende Gesetz nur mit
Zustimmung des Bundesrates erlassen werden kann.
Die gegen das verfassungsmäßige Zustandekommen des Gesetzes erhobenen Bedenken wiegen
schwer; doch reichen sie, da auch Argumente zugunsten der Verfassungsmäßigkeit des
Gesetzes vorgetragen werden, denen ein gewisses Gewicht nicht abzusprechen ist, nach
meiner Ansicht nicht aus, um die Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten
abzulehnen. Zu einem solchen Verhalten würde ich mich nur veranlaßt sehen, wenn die
Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz für mich offenkundig und zweifelsfrei
wäre.
Bei meiner Entscheidung berücksichtige ich auch, daß die Feststellung, ob ein
Bundesgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, mit verbindlicher Wirkung für alle nur
durch das Bundesverfassungsgericht getroffen werden kann. Es entscheidet in dem besonders
dafür vorgesehenen Normenkontrollverfahren, nachdem es allen Beteiligten, d. h. dem
Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und sämtlichen Landesregierungen,
Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im
Normenkontrollverfahren ist aber nur möglich, wenn das Gesetz vom Bundespräsidenten
unterzeichnet und verkündet worden ist.
Unter Berücksichtigung dieser Gründe habe ich das Gesetz unterzeichnet.
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Karl Carstens
Bundespräsident
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