[Begleitbrief des Bundespräsidenten Johannes Rau an den
Bundeskanzler und die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat bezüglich der
Unterzeichnung des Zuwanderungsgesetzes
vom 20. Juni 2002]
Bundespräsident Johannes Rau hat heute das Zuwanderungsgesetz unterzeichnet. Er hat aus diesem
Anlass einen Begleitbrief an die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten
Verfassungsorgane geschrieben, an den Bundeskanzler und an die Präsidenten von Bundestag
und Bundesrat. Nachfolgend wird der Brief an den Bundeskanzler wiedergegeben; die beiden
anderen Briefe sind wortgleich.
"Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
am 17. April 2002 ist mir das Zuwanderungsgesetz zur
Ausfertigung gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 1
des Grundgesetzes (GG) zugeleitet worden. Der
Deutsche Bundestag hat das Gesetz am 1. März 2002
verabschiedet. Am 22. März 2002 hat der Bundesrat beschlossen, dem Gesetz gemäß Art. 84 Abs. 1 GG zuzustimmen (vgl. Bundesrats-Drucksache 157/02
vom selben Tage). Gegen diesen Beschluss
sind verfassungsrechtliche Einwände erhoben worden. Sie betreffen die Frage, ob die vier
Stimmen des Landes Brandenburg vom Präsidenten des Bundesrates zu Recht als
"Ja"-Stimmen gewertet worden sind; wäre das nicht der Fall, hätte das Gesetz
die für eine Zustimmung des Bundesrates erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen nicht
erreicht. Das Gesetz wäre nicht zustande gekommen.
Ich habe das Zuwanderungsgesetz wie jedes andere
Gesetz sorgfältig auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Ich habe mich mit dem
tatsächlichen Ablauf der Sitzung und der Abstimmung und mit den sich daraus ergebenden
verfassungsrechtlichen Fragen eingehend befasst. Ich habe viele Gespräche geführt und
ich habe verfassungsrechtlichen Rat erfahren.
Nach Abwägung aller Gesichtspunkte habe ich das Zuwanderungsgesetz
heute morgen ausgefertigt und den Auftrag zur Verkündung im Bundesgesetzblatt erteilt.
Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und
nach der Staatspraxis ist der Bundespräsident nur dann berechtigt und verpflichtet, von
der Ausfertigung eines Gesetzes abzusehen, wenn er die sichere Überzeugung gewonnen hat,
dass zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Zu dieser Überzeugung
bin ich im vorliegenden Fall nicht gekommen.
I.
Ich möchte Ihnen die wichtigsten Gesichtspunkte für meine Entscheidung erläutern. Den
maßgeblichen Sachverhalt darf ich als bekannt voraussetzen; ich möchte ihn hier nur kurz
rekapitulieren:
Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, haben zunächst Minister Ziel
mit "Ja" und Minister Schönbohm mit "Nein" gestimmt. Daraufhin hat
der Präsident des Bundesrates auf das Gebot der einheitlichen Stimmabgabe hingewiesen und
an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg die Frage gerichtet, wie das Land
abstimme. Ministerpräsident Stolpe hat geantwortet: "Als Ministerpräsident des
Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja." Dem hat Minister Schönbohm angefügt:
"Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident." Der Präsident des Bundesrates
hat daraufhin die Stimmabgabe des Landes Brandenburg als "Ja" gewertet. Nach den
dagegen protestierenden Zwischenrufen anderer Mitglieder des Bundesrates hat der
Präsident des Bundesrates erneut Ministerpräsident Stolpe gefragt, dieser hat seine
Antwort wiederholt; Minister Schönbohm hat dem keine Äußerung mehr folgen lassen.
Kern des verfassungsrechtlichen Streits ist die Auslegung von Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG. Er enthält das Gebot, dass bei einer
Abstimmung im Bundesrat die Stimmen eines Landes "nur einheitlich abgegeben"
werden können. Zu dieser Vorschrift gibt es keine Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts. In der verfassungsrechtlichen Literatur ist ihre Auslegung
umstritten.
Die eine Meinung schließt aus dem Wortlaut der Vorschrift ("können nur"), dass
bei einem Verstoß gegen dieses Gebot die Stimmabgabe des Landes unmittelbar als ungültig
zu bewerten sei.
Die Gegenansicht weist darauf hin, dass das Grundgesetz
die Rechtsfolge eines Verstoßes nicht ausdrücklich festlege. Sie fragt danach, ob und
wie nach einer ersten uneinheitlichen Stimmabgabe noch eine der Verfassung gemäße Stimmabgabe zu erreichen sei.
Sie sieht dafür die Entscheidung des jeweiligen Regierungschefs des Landes kraft seiner
Richtlinienkompetenz als ausschlaggebend an.
Beide Ansichten können gewichtige Gründe für ihren Standpunkt anführen. Ich habe mir
darüber in den vergangenen Wochen einen umfassenden Überblick verschafft. Namhafte
Verfassungsrechtler haben sich unabhängig von oder aus Anlass der Bundesratssitzung vom 22. März 2002
in dem einen oder in dem anderen Sinne geäußert. Sie kommen mit unterschiedlicher
Begründung zu gegenteiligen Ergebnissen - je nach ihrem rechtlichen Ausgangspunkt, aber
auch je nachdem, wie sie den tatsächlichen Ablauf und die Äußerungen in dieser Sitzung
bewerten.
Wer den Wortlaut der zitierten Grundgesetzvorschrift
für eindeutig hält, für den steht bereits nach der ersten gegensätzlichen Stimmabgabe
durch die Minister Ziel und Schönbohm das Ergebnis fest. Daran habe sich im Übrigen auch
im weiteren Verlauf nichts geändert, weil Minister Schönbohm auch gegenüber dem
späteren Votum von Ministerpräsident Stolpe seine ablehnende Haltung hinreichend
deutlich und rechtlich erheblich zum Ausdruck gebracht habe. Die Stimmen des Landes
Brandenburg seien ungültig.
Die strengen Vertreter dieser Ansicht sehen weder rechtlich noch
tatsächlich einen Grund für eine Nachfrage des Präsidenten des Bundesrates. Für eine
solche Befugnis wird dagegen angeführt, dass der Präsident des Bundesrates im Rahmen
seiner Sitzungsleitung (§ 20 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Bundesrates) die Aufgabe
habe, auf ein der Verfassung gemäßes
Abstimmungsverhalten hinzuwirken.
Eine weitere Frage ist dann, ob der Präsident des Bundesrates diese Nachfrage allein an
Ministerpräsident Stolpe richten und dessen - ausdrücklich auf diese Funktion und damit
auf seine Richtlinienkompetenz begründete - Stimmabgabe ("Ja") als maßgeblich
ansehen durfte. Diese Frage rührt an das Grundverständnis des Verfassungsorgans
Bundesrat, der Rechtsstellung seiner Mitglieder und betrifft auch das Zusammenwirken der
Verfassungsräume von Bund und Ländern. Sie wird von den Verfassungsrechtlern
unterschiedlich beurteilt:
Die eine Meinung führt an, der Ministerpräsident könne nicht kraft seiner auf
Landesverfassungsrecht beruhenden Richtlinienkompetenz das im Grundgesetz, also bundesverfassungsrechtlich
begründete Stimmrecht der anderen brandenburgischen Mitglieder des Bundesrates an sich
ziehen, weil sie ihm gleichrangig seien.
Die Gegenansicht hält dem entgegen, dass nicht die einzelnen, von ihren Ländern
entsandten Bundesratsmitglieder, sondern die Länder die "eigentlichen" Träger
des Stimmrechts seien. Sie verweist auf den Wortlaut des Grundgesetzes (vgl. Art. 51 Abs. 2 und 3 GG: "jedes Land") und auf die
Konstruktion des Bundesrates als Ländervertretung (im Gegensatz zu der so genannten
Senatslösung nach US-amerikanischem Vorbild, für die sich der Parlamentarische Rat
bewusst nicht entschieden hat). Die Bundesratsmitglieder seien nicht Inhaber eines freien
parlamentarischen Mandats wie etwa Abgeordnete des Bundestages; das zeige sich auch daran,
dass sie - das ist unstreitig - an Weisungen ihrer Landesregierung gebunden sind.
Die eine Meinung führt an, dass der Präsident des Bundesrates mit Blick auf mögliche
Unterschiede in den sechzehn Landesverfassungen gar nicht überprüfen könne, ob das
Votum des Ministerpräsidenten von seiner Richtlinienkompetenz getragen sei oder ob das
Landesverfassungsrecht die Entscheidung über die Stimmabgabe im Bundesrat der
Landesregierung als Kollegialorgan zuweise. Dem hält die Gegenansicht entgegen, dass auch
sonst das landesinterne Procedere zur Festlegung des Stimmverhaltens im Bundesrat nicht
überprüft werde, etwa ob die Stimmabgabe einem Kabinettsbeschluss entspreche.
Entscheidend sei allein das tatsächlich abgegebene Votum. Wenn ein Ministerpräsident
kraft seiner Richtlinienkompetenz für das Land abstimme - ohne oder gegen einen
Kabinettsbeschluss oder unter Verstoß gegen den (verfassungsrechtlich ohnehin
unerheblichen) Koalitionsvertrag - , dann habe er dafür die Verantwortung nach der
Landesverfassung zu tragen und auch mögliche politische Konsequenzen.
Wer die Position vertritt, dass die Stimmabgabe von Ministerpräsident Stolpe kraft seiner
Richtlinienkompetenz als Regierungschef ausschlaggebend war, für den ist die
anschließende Äußerung von Minister Schönbohm rechtlich nicht mehr erheblich.
Zur Gültigkeit der brandenburgischen Stimmen gelangt auch, wer in der Äußerung von
Minister Schönbohm, dass seine Auffassung bekannt sei, kein förmliches "Nein"
sieht.
Zu demselben Ergebnis gelangt schließlich, wer darauf abstellt, dass Minister Schönbohm
jedenfalls nach der erneuten Frage des Präsidenten des Bundesrates dem wiederholten
"Ja" seines Regierungschefs nicht mehr widersprochen habe.
II.
Ich stelle also fest - und nur darauf kommt es an: Bei der Beurteilung der Abstimmung im Bundesrat am 22. März
2002 kann man in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht jeweils mit guten Gründen
zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen.
Ich wäre aber nur dann berechtigt und verpflichtet, das Gesetz
nicht auszufertigen, wenn ich davon überzeugt wäre, dass zweifelsfrei und offenkundig
ein Verfassungsverstoß vorliegt. Mit Blick auf die kontroversen Auffassungen in dieser
verfassungsrechtlichen Frage habe ich diese Überzeugung nicht gewinnen können.
Angesichts einer verfassungsrechtlichen Zweifelsfrage so zu entscheiden, wie ich
entschieden habe, ergibt sich aus folgendem:
Das Recht und die Pflicht des Bundespräsidenten, ein Gesetz vor der Ausfertigung
verfassungsrechtlich zu überprüfen, steht in Konkurrenz und bedarf der sinnvollen
Abgrenzung zur Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Die Staatspraxis, wie meine
Amtsvorgänger sie geprägt haben, hat diese Abgrenzung in dem von mir dargestellten
Prüfungsmaßstab gefunden.
Ich verweise konkret auf zwei Entscheidungen der Bundespräsidenten Karl Carstens und Roman Herzog. Auch da ging
es um formelle und verfahrensrechtliche Fragen des Zustandekommens eines Gesetzes. Diese
Entscheidungen haben den Prüfungsmaßstab des Bundespräsidenten deutlich gemacht:
Bundespräsident Karl Carstens hat im Jahr 1981 das Staatshaftungsgesetz ausgefertigt und
das damit begründet, dass für ihn ein Verfassungsverstoß nicht "zweifelsfrei und
offenkundig" feststehe (so sein Begleitbrief an die
beteiligten Verfassungsorgane vom 26. Juni 1981). Bundespräsident Roman Herzog hat im
Jahr 1994 ein Gesetz ausgefertigt, in dem es unter anderem um eine Vorschrift des
Atomgesetzes ging. Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder hatte ihn
damals gebeten, das Gesetz nicht auszufertigen, weil es der Zustimmung des Bundesrates
bedürfe. Roman Herzog ist dieser Bitte nicht gefolgt; er hat das damit begründet, dass
er nicht zu der Überzeugung gelangt sei, dass ein Verfassungsverstoß "zweifelsfrei
und offenkundig" vorliege (so die Pressemitteilung des
Bundespräsidialamtes vom 21. Juli 1994).
Ich habe meine Entscheidung in Respekt vor der Kompetenzordnung des Grundgesetzes getroffen, und sie steht in der
Kontinuität der Staatspraxis meiner Amtsvorgänger. Nach unserer Verfassungsordnung ist
es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, über solche verfassungsrechtlichen
Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen. Die verbindliche Entscheidung
über die Auslegung des Grundgesetzes ist dem
Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Wer von den Antragsberechtigten im vorliegenden Fall
eine solche Entscheidung für notwendig hält, dem steht der Weg dazu jetzt offen.
Ich werde meine Entscheidung heute öffentlich machen. Dabei werde ich einige weitere
Anmerkungen machen, wie Sie aus dem beigefügten Text ersehen können.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Johannes Rau"
|