Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden
vom 22. August 1818
Carl, von Gottes Gnaden Großherzog zu Baden, Herzog zu Zähringen
etc.
Als Wir bereits im Jahr 1816 Unsern Unterthanen wiederholt bekannt machten, dem
Großherzogthum eine Landständische Verfassung geben zu wollen, so hegten Wir den Wunsch,
und die Hoffnung, daß sämmtliche Bundesglieder über eine unabänderliche, wesentliche
Grundlage dieser allen deutschen Völkern zugesicherten Einrichtungen übereinkommen und
nur in Entwicklung der aufgestellten Grundsätze ein jeder einzelner Staat seinen
besonderen Bedürfnissen, mit Rücksicht auf bestehende Verhältnisse, folgen möchte.
Da sich jedoch, nach den letzten, über diesen Gegenstand bey dem Bundestage
abgelegten Abstimmungen der Zeitpunkt noch nicht bestimmt voraussehen läßt, in welchem
die Gestaltung der Ständischen Verfassung einen Gegenstand gemeinschaftlicher Berathungen
bilden dürfte, so sehen Wir Uns nunmehr veranlaßt, die Unsern Unterthanen gegebene
Zusicherung auf die Art und Weise in Erfüllung zu setzen, wie sie Unserer innern freyen
und festen Ueberzeugung entspricht.
Von dem aufrichtigsten Wunsche durchdrungen, die Bande des Vertrauens zwischen Uns und
Unserm Volke immer fester zu knüpfen, und auf dem Wege, den Wir hierdurch bahnen, alle
Unsre Staats-Einrichtungen zu einer höhern Vollkommenheit zu bringen, haben Wir
nachstehende Verfassungsurkunde gegeben, und versprechen feierlich für Uns und Unsre
Nachfolger, sie treulich und gewissenhaft zu halten und halten zu lassen.
I. Von dem Großherzogthum und der Regierung im
Allgemeinen
§ 1 Das Großherzogthum bildet einen
Bestandtheil des deutschen Bundes.
§ 2 Alle organischen Beschlüsse der Bundes-Versammlung,
welche die verfassungsmäßigen Verhältnisse Deutschlands oder die Verhältnisse
deutscher Staatsbürger im Allgemeinen betreffen, machen einen Theil des badischen
Staatsrechts aus, und werden für alle Classen von Landesangehörigen verbindlich, nachdem
sie von dem Staatsoberhaupt verkündet worden sind.
§ 3 Das Großherzogthum ist untheilbar und unveräußerlich
in allen seinen Theilen.
§ 4 Die Regierung des Landes ist erblich in der
großherzoglichen Familie nach den Bestimmungen der Declaration vom 4. October 1817, die
als Grundlage des Hausgesetzes einen wesentlichen Bestandtheil der Verfassung bilden und
als wörtlich in gegenwärtiger Urkunde aufgenommen betrachtet werden soll.
§ 5 Der Großherzog vereinigt in Sich alle Rechte der
Staatsgewalt, und übt sie unter den in dieser Verfassungsurkunde festgesetzten
Bestimmungen aus.
Seine Person ist heilig und unverletzlich.
§ 6 Das Großherzogthum hat eine ständische Verfassung.
II. Staatsbürgerliche und politische Rechte der
Badener
und besondere Zusicherungen
§ 7 Die staatsbürgerlichen Rechte der
Badener sind gleich in jeder Hinsicht, wo die Verfassung nicht namentlich und
ausdrücklich eine Ausnahme begründet.
Die großherzoglichen Staatsminister und sämmtliche Staatsdiener sind für die
genaue Befolgung der Verfassung verantwortlich.
§ 8 Alle Badener tragen ohne Unterschied zu allen
öffentlichen Lasten bey. Alle Befreyungen von directen oder indirecten Abgaben bleiben
aufgehoben.
§ 9 Alle Staatsbürger von den drey christlichen
Confessionen haben zu allen Civil- und Militärstellen und Kirchenämtern gleiche
Ansprüche.
Alle Ausländer, welchen Wir ein Staatsamt conferiren, erhalten durch diese
Verleihung unmittelbar das Indigenat.
§ 10 Unterschied in der Geburt und der Religion begründet,
mit der für die standesherrlichen Familien durch die Bundesacte
gemachten Ausnahme, keine Ausnahme der Militärdienstpflicht.
§ 11 Für die bereits für ablöslich erklärten
Grundlasten und Dienstpflichten und alle aus der aufgehobenen Leibeigenschaft
herrührenden Abgaben soll durch ein Gesetz ein angemessener Abkaufsfuß regulirt werden.
§ 12 Das Gesetz vom 14. August 1817, über die
Wegzugsfreyheit, wird als ein Bestandtheil der Verfassung angesehen.
§ 13 Eigenthum und persönliche Freyheit der Badener stehen
für alle auf gleicher Weise unter dem Schutze der Verfassung.
§ 14 Die Gerichte sind unabhängig innerhalb der Grenzen
ihrer Competenz.
Alle Erkenntnisse in bürgerlichen Rechtssachen müssen von den ordentlichen
Gerichten ausgehen.
Der großherzogliche Fiscus nimmt in allen aus privatrechtlichen Verhältnissen
entspringenden Streitigkeiten Recht vor den Landesgerichten.
Niemand kann gezwungen werden, sein Eigenthum zu öffentlichen
Zwecken abzugeben, als nach Berathung und Entscheidung des Staatsministeriums, und nach
vorgängiger Entschädigung.
§ 15 Niemand darf in Criminalsachen seinem ordentlichen
Richter entzogen werden.
Niemand kann anders als in gesetzlicher Form verhaftet und länger als zweymal 24
Stunden im Gefängniß festgehalten werden, ohne über den Grund seiner Verhaftung
vernommen zu seyn.
Der Großherzog kann erkannte Strafen mildern oder ganz nachlassen, aber nicht
schärfen.
§ 16 Alle Vermögens-Confiscationen sollen abgeschafft
werden.
§ 17 Die Preßfreyheit wird nach den künftigen
Bestimmungen der Bundesversammlung gehandthabt werden.
§ 18 Jeder Landeseinwohner genießt der ungestörten
Gewissensfreyheit und in Ansehung der Art seiner Gottesverehrung des gleichen Schutzes.
§ 19 Die politischen Rechte (der drey christlichen
Religionstheile) sind gleich.
§ 20 Das Kirchengut und die eigenthümlichen Güter und
Einkünfte der Stiftungen, Unterrichts- und Wohlthätigkeitsanstalten dürfen ihrem Zwecke
nicht entzogen werden.
§ 21 Die Dotationen der beyden Landesuniversitäten und
anderer höherer Lehranstalten, sie mögen in eigenthümlichen Gütern und Gefällen oder
in Zuschüssen aus der allgemeinen Staatscasse bestehen, sollen ungeschmälert bleiben.
§ 22 Jede, von Seite des Staats gegen seine Gläubiger
übernommene Verbindlichkeit ist unverletzlich.
Das Institut der Amortisationscasse wird in seiner Verfassung aufrecht erhalten.
§ 23 Die Berechtigungen, die durch das Edict vom 23. April
1818 den dem Großherzogthum angehörigen, ehemaligen Reichsständen und Mitgliedern der
vormaligen unmittelbaren Reichsritterschaft verliehen worden sind, bilden einen
Bestandtheil der Staatsverfassung.
§ 24 Die Rechtsverhältnisse der Staatsdiener sind in der
Art, wie sie das Gesetz vom Heutigen festgestellt hat, durch die Verfassung garantirt.
§ 25 Die Institut der weltlichen und geistlichen
Witwencasse und der Brandversicherung sollen in ihrer bisherigen Verfassung fortbestehen
und unter den Schutz der Verfassung gestellt seyn.
III. Ständeversammlung. Rechte und Pflichten der
Ständeglieder
§ 26 Die Landstände sind in zwey Kammern
abgetheilt.
§ 27 Die erste Kammer besteht:
1. aus den Prinzen des großherzoglichen Hauses,
2. aus den Häuptern der standesherrlichen Familien,
3. aus dem Landesbischoff und einem vom Großherzog
lebenslänglich ernannten protestantischen Geistlichen mit dem Range eines Prälaten,
4. aus acht Abgeordneten des grundherrlichen Adels,
5. aus zwey Abgeordneten der Landes-Universitäten,
6. aus den vom Großherzog, ohne Rücksicht auf Stand und
Geburt zu Mitgliedern dieser Kammer ernannten Personen.
§ 28 Die Prinzen des Hauses und die Standesherren treten,
nach erlangter Volljährigkeit, in die Ständeversammlung ein. Von denjenigen
standesherrlichen Familien, die in mehrere Zweige sich theilen, ist das Haupt eines jeden
Familienzweigs, der im Besitz einer Standesherrschaft sich befindet, Mitglied der ersten
Kammer.
Während der Minderjährigkeit des Besitzers einer Standesherrschaft ruhet dessen
Stimme.
Die Häupter der adelichen Familien, welchen der Großherzog eine Würde des hohen
Adels verleihet, treten, gleich den Standesherren, als erbliche Landstände in die erste
Kammer. Sie müssen aber ein nach dem Rechte der Erstgeburt und der Linealerbfolge
erbliches Stamm- oder Lehngut besitzen, das in der Grund- und Gefällsteuer, nach Abzug
des Lastencapitals, wenigstens zu 300 000 Gulden angeschlagen ist.
§ 29 Bey der Wahl der grundherrlichen Abgeordneten sind
sämmtliche adeliche Besitzer von Grundherrschaften, die das 21. Lebensjahr zurückgelegt
und im Lande ihren Wohnsitz haben, stimmfähig. Wählbar sind alle stimmfähige
Grundherren, die das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben. Jede Wahl gilt für acht Jahre.
Alle vier Jahre tritt die Hälfte der grundherrlichen Deputirten aus.
Adelichen Güterbesitzern kann der Großherzog die Stimmfähigkeit und Wählbarkeit
bey der Grundherrenwahl beylegen, wenn sie ein Stamm- oder Lehngut besitzen, das in der
Grund- und Gefällsteuer, nach Abzug des Lastencapitals, wenigstens auf 60 000 Gulden
angeschlagen ist, und nach dem Rechte der Erstgeburt nach der Linealerbfolge vererbt wird.
§ 30 In Ermangelung des Landesbischoffs tritt der
Bisthumsverweser in die Ständeversammlung.
§ 31 Jede der beyden Landesuniversitäten wählt ihren
Abgeordneten auf vier Jahre aus der Mitte der Professoren oder aus der Zahl der Gelehrten
oder Staatsdiener des Landes nach Willkühr. Nur die ordentlichen Professoren sind
stimmfähig.
§ 32 Die Zahl der vom Großherzog ernannten Mitglieder der
ersten Kammer darf niemals acht Personen übersteigen.
§ 33 Die zweyte Kammer besteht aus 63 Abgeordneten der
Städte und Aemter nach der dieser Verfassungsurkunde angehängten Vertheilungsliste.
§ 34 Diese Abgeordneten werden von erwählten Wahlmännern
erwählt.
§ 35 Wer wirkliches Mitglied der ersten Kammer oder bey der
Wahl der Grundherren stimmfähig oder wählbar ist, kann weder bey Ernennung der
Wahlmänner ein Stimmrecht ausüben, noch als Wahlmann oder Abgeordneter der Städte und
Aemter gewählt werden.
§ 36 Alle übrigen Staatsbürger, die das 25. Lebensjahr
zurückgelegt haben, im Wahldistrict als Bürger angesessen sind oder ein öffentliches
Amt bekleiden, sind bey der Wahl der Wahlmänner stimmfähig und wählbar.
§ 37 Zum Abgeordneten kann ernannt werden, ohne Rücksicht
auf Wohnort, jeder durch den § 35 nicht ausgeschlossene Staatsbürger,
der
1. einer der drey christlichen Confessionen angehört,
2. das 30. Lebensjahr zurückgelegt hat, und
3. in dem Grund-, Häuser- und Gewerbssteuer-Kataster wenigstens mit einem Capital
von 10 000 Gulden eingetragen ist, oder eine jährliche
lebenslängliche Rente von wenigstens 1500 Gulden von einem Stamm-
oder Lehnguts-Besitze oder eine fixe ständige Besoldung oder Kirchenpfründe
von gleichem Betrag als Staats- oder Kirchendiener bezieht, auch in diesen
beyden letztern Fällen wenigstens irgend eine directe Steuer aus Eigenthum
zahlt.
Landes-, standes- und grundherrliche Bezirksbeamte, Pfarrer, Physici und andere
geistliche oder weltliche Localdiener können als Abgeordnete nicht von den Wahlbezirken
gewählt werden, wozu ihr Amtsbezirk gehört.
§ 38 Die Abgeordneten der Städte und Aemter werden auf
acht Jahre ernannt und so, daß die Kammer alle zwey Jahre zu einem Viertel erneuert wird.
§ 39 Jede neue Wahl eines Abgeordneten, die wegen
Auflösung der Versammlung oder wegen des regelmäßigen Austritts eines Mitglieds nöthig
wird, zieht eine neue Wahl der Wahlmänner nach sich.
§ 40 Jeder Austretende ist wieder wählbar.
§ 41 Jede Kammer erkennt über die streitigen Wahlen der
ihr angehörigen Mitglieder.
§ 42 Der Großherzog ruft die Stände zusammen, vertagt sie
und kann sie auflösen.
§ 43 Die Auflösung der Stände bewirkt, daß alle durch
Wahl ernannte Mitglieder der ersten und zweyten Kammer, die Abgeordneten der Grundherren,
der Universitäten und der Städte und Aemter ihre Eigenschaft verlieren.
§ 44 Erfolgt die Auflösung, ehe der Gegenstand der
Berathung erschöpft ist, so muß längstens innerhalb drey Monaten zu einer neuen Wahl
geschritten werden.
§ 45 Der Großherzog ernennt für jeden Landtag den
Präsidenten der ersten Kammer; die zweyte Kammer wählt für die Präsidentenstelle drey
Candidaten, wovon der Großherzog für die Dauer der Versammlung Einen bestätigt.
§ 46 Alle zwey Jahre muß eine Ständeversammlung statt
finden.
§ 47 Die Mitglieder beyder Kammern können ihr Stimmrecht
nicht anders als in Person ausüben.
§ 48 Die Ständeglieder sind berufen, über die
Gegenstände ihrer Berathungen nach eigener Ueberzeugung abzustimmen. Sie dürfen von
ihren Committenten keine Instructionen annehmen.
§ 49 Kein Ständeglied kann während der Dauer der
Versammlung, ohne ausdrückliche Erlaubniß der Kammer, wozu es gehört, verhaftet werden;
den Fall der Ergreifung auf frischer Tat bey begangenen peinlichen Verbrechen ausgenommen.
§ 50 Die Stände können sich nur mit den nach
gegenwärtigem Grundgesetz zu ihrer Berathung geeigneten oder vom Großherzog besonders an
sie gebrachten Gegenständen beschäftigen.
§ 51 Es besteht ein ständischer Ausschuß aus dem
Präsidenten der letzten Sitzung und drey andern Mitgliedern der ersten und sechs
Mitgliedern der zweyten Kammer, dessen Wirksamkeit auf den namentlich in dieser
Urkunde ausgedrückten Fall, oder auf die von dem letzten
Landtag mit Genehmigung des Großherzogs an ihn gewiesenen Gegenstände
beschränkt ist.
Dieser Ausschuß wird vor dem Schlusse des Landtags, auch bei jeder Vertagung
desselben, in beyden Kammern durch relative Stimmenmehrheit gewählt. Jede Auflösung des
Landtags zieht auch die Auflösung des, wenn gleich schon gewählten Ausschusses nach
sich.
§ 52 Die Kammern können sich weder eigenmächtig
versammeln, noch nach erfolgter Auflösung oder Vertagung beysammen bleiben und
berathschlagen.
IV. Wirksamkeit der Stände
§ 53 Ohne Zustimmung der Stände kann
keine Auflage ausgeschrieben und erhoben werden.
§ 54 Das Auflagengesetz wird in der Regel für zwey Jahre
gegeben. Solche Auflagen jedoch, mit denen auf längere Zeit abgeschlossene Verträge in
unmittelbarer Verbindung stehen, können vor Ablauf des betreffenden Contractes nicht
abgeändert werden.
§ 55 Mit dem Entwurf des Auflagengesetzes wird das
Staatsbudget und eine detaillirte Uebersicht über die Verwendung der verwilligten Gelder
von den frühern Etatsjahren übergeben. Es darf darin kein Posten für geheime Ausgaben
vorkommen, wofür nicht eine schriftliche, von einem Mitglied des Staatsministeriums
contrasignirte Versicherung des Großherzogs beygebracht wird, daß die Summe zum wahren
Besten des Landes verwendet worden sey, oder verwendet werden solle.
§ 56 Die Stände können die Bewilligung der Steuern nicht
an Bedingungen knüpfen.
§ 57 Ohne Zustimmung der Stände kann kein Anlehen gültig
gemacht werden. Ausgenommen sind die Anlehn, wodurch etatsmäßige Einnahmen zu
etatsmäßigen Ausgaben nur anticipirt werden, so wie die Geldaufnahmen der
Amortisationskasse, zu denen sie, vermöge ihres Fundationsgesetzes, ermächtigt ist.
Für Fälle eines außerordentlichen, unvorhergesehenen dringenden
Staatsbedürfnisses, dessen Betrag mit den Kosten einer außerordentlichen Versammlung der
Stände nicht im Verhältniß steht, und wozu das Creditvotum der Stände nicht reicht,
ist die Zustimmung der Mehrheit des Ausschusses hinreichend, eine Geldaufnahme gültig zu
machen. Dem nächsten Landtag werden die gepflogenen Verhandlungen vorgelegt.
§ 58 Es darf keine Domaine ohne Zustimmung der Stände
veräußert werden. Ausgenommen sind die zu Schuldentilgungen bereits beschlossenen
Veräußerungen, Ablösungen von Lehen, Erbbeständen, Gülten, Zinsen, Frohndiensten,
Verkäufe von entbehrlichen Gebäuden, von Gütern und Gefällen, die in benachbarten
Staaten gelegen sind, und alle Veräußerungen, die aus staatswirthschaftlichen
Rücksichten zur Beförderung der Landes-Cultur oder zur Aufhebung einer nachtheiligen
eigenen Verwaltung geschehen. Der Erlös muß aber zu neuen Erwerbungen verwendet oder der
Schuldentilgungscasse zur Verzinsung übergeben werden.
Ausgenommen sind auch Täusche und Veräußerungen zum Zwecke der Beendigung eines,
über Eigenthums- oder Dienstbarkeitsverhältnisse anhängigen Rechtsstreits; ferner die
Wiedervergebung heimgefallener Thron-, Ritter- und Kammerlehen, während der Zeit der
Regierung des Regenten, dem sie selbst heimgefallen sind.
Da durch diesen und den § 57 der Zweck der pragmatischen
Sanction über Staatsschulden und Staatsveräußerungen vom 1. Oktober 1806 und vom 18.
November 1808 vollständig erreicht ist, so hört die Verbindlichkeit derselben mit dem
Tage auf, wo die landständische Verfassung in Wirksamkeit getreten seyn wird.
§ 59 Ohngeachtet die Domainen nach allgemein anerkannten
Grundsätzen des Staats- und Fürstenrechts unstreitiges Patrimonialeigenthum des Regenten
und seiner Familie sind, und Wir sie auch in dieser Eigenschaft, vermöge obhabender
Pflichten, als Haupt der Familie, hiermit ausdrücklich bestätigen, so wollen Wir dennoch
den Ertrag derselben, außer der darauf radicirten Civilliste und außer andern darauf
haftenden Lasten, so lang als Wir Uns nicht durch Herstellung der Finanzen in dem Stand
befinden werden, Unsere Unterthanen nach Unserm innigsten Wunsche zu erleichtern, der
Bestreitung der Staatslasten ferner belassen.
Die Civilliste kann, ohne Zustimmung der Stände, nicht erhöhet, und ohne
Bewilligung des Großherzogs, niemals gemindert werden.
§ 60 Jeder die Finanzen betreffende Gesetzesentwurf geht
zuerst an die zweyte Kammer, und kann nur dann, wenn er von dieser angenommen worden, vor
die erste Kammer zur Abstimmung über Annahme oder Nichtannahme im Ganzen ohne alle
Abänderung gebracht werden.
§ 61 Tritt die Mehrheit der ersten Kammer dem Beschluß der
zweyten nicht bey, so werden die bejahenden und verneinenden Stimmen beyder Kammern
zusammen gezählt, und nach der absoluten Mehrheit sämmtlicher Stimmen der
Ständebeschluß gezogen.
§ 62 Die alten auch nicht ständigen Abgaben dürfen nach
Ablauf der Verwilligungszeit noch sechs Monate fort erhoben werden, wenn die
Stände-Versammlung aufgelöset wird, ehe ein neues Budget zu Stande kommt, oder wenn sich
die ständischen Berathungen verzögern.
§ 63 Bey Rüstungen zu einem Kriege und während der Dauer
eines Kriegs kann der Großherzog, zur schleunigen und wirksamen Erfüllung seiner
Bundespflichten, auch vor eingeholter Zustimmung der Stände, gültige Staatsanlehen
machen, oder Kriegssteuern ausschreiben. Für diesen Fall wird den Ständen eine nähere
Einsicht und Mitwirkung in der Verwaltung in der Art eingeräumt:
1. daß der alsdann zusammen zu berufende Ausschuß zwey Mitglieder an
die Ministerien der Finanzen und des Kriegs und einen Commissär zur Kriegscasse abordnen
darf, um darauf zu wachen, daß die zu Kriegszwecken erhobenen Gelder auch wirklich und
ausschließlich zu diesem Zwecke verwendet werden, und daß derselbe
2. zu der jeweils, wegen Kriegsprästationen aller Art aufzustellenden
Kriegscommission eben so viele Mitglieder abzugeben hat, als der Großherzog, ohne den
Vorstand zu rechnen, zur Leitung des Marsch-, Verpflegungs- und Lieferungswesens ernennt.
Auch soll der Ausschuß das Recht haben, zu gleichem Zweck einer jeden Provinzialbehörde,
aus der Zahl der in dem Provinzbezirk wohnenden Ständeglieder zwey Abgeordneten
beyzugeben.
§ 64 Kein Gesetz, das die Verfassungsurkunde ergänzt,
erläutert oder abändert, darf ohne Zustimmung einer Mehrheit von zwey Drittel der
anwesenden Ständeglieder einer jeden der beyden Kammern gegeben werden.
§ 65 Zu allen anderen, die Freyheit der Personen oder das
Eigenthum der Staatsangehörigen betreffenden allgemeinen neuen Landesgesetzen, oder zur
Abänderung oder authentischen Erklärung der bestehenden, ist die Zustimmung der
absoluten Mehrheit einer jeden der beyden Kammern erforderlich.
§ 66 Der Großherzog bestätigt und promulgirt die Gesetze,
erläßt die zu deren Vollzug und Handhabung erforderlichen - die aus dem Aufsichts- und
Verwaltungsrecht abfließenden - und alle für die Sicherheit des Staats nöthigen
Verfügungen, Reglements und allgemeinen Verordnungen. Er erläßt auch solche, ihrer
Natur nach zwar zur ständischen Berathung geeignete, aber durch das Staatswohl dringend
gebotene Verordnungen, deren vorübergehender Zweck durch jede Verzögerung vereitelt
würde.
§ 67 Die Kammern haben das Recht der Vorstellung und
Beschwerde; Verordnungen, worinnen Bestimmungen eingeflossen, wodurch sie ihr
Zustimmungsrecht für gekränkt erachten, sollen, auf ihre erhobene gegründete Beschwerde
sogleich außer Wirksamkeit gesetzt werden. Sie können den Großherzog unter Angabe der
Gründe um den Vorschlag eines Gesetzes bitten. Sie haben das Recht, Mißbräuche in der
Verwaltung, die zu ihrer Kenntniß gelangen, der Regierung anzuzeigen. Sie haben das
Recht, Minister und die Mitglieder der obersten Staatsbehörden wegen Verletzung der
Verfassung oder anerkannt verfassungsmäßiger Rechte förmlich anzuklagen. Ein besonderes
Gesetz soll die Fälle der Anklage, die Grade der Ahndung, die urtheilende Behörde und
die Procedur bestimmen.
Beschwerden einzelner Staatsbürger über Kränkung in ihren verfassungsmäßigen
Gerechtsamen können von den Kammern nicht anders als schriftlich, und nur dann angenommen
werden, wenn der Beschwerdeführer nachweißt, daß er sich vergebens an die geeigneten
Landesstellen und zuletzt an das Staats-Ministerium um Abhülfe gewendet hat.
Keine Vorstellung, Beschwerde oder Anklage kann an den Großherzog gebracht werden,
ohne Zustimmung der Mehrheit einer jeden der beyden Kammern.
[Abschnitt IVa eingefügt durch Gesetz vom 20.02.1868 (RegBl. 423):
IVa. Von den Anklagen gegen die Minister
§ 67a Die zweite Kammer hat das Recht,
die Minister und Mitglieder der obersten Staatsbehörde wegen einer durch Handlungen oder
Unterlassungen wissentlich oder aus grober Fahrlässigkeit begangenen Verletzung der
Verfassung oder anerkannter verfassungsmäßiger Rechte oder schweren Gefährdung der
Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates förmlich anzuklagen.
Ein solcher Beschluß erfordert die in den §§ 64 und 74 für Verfassungsänderungen vorgeschriebene Stimmenzahl; die
Zurücknahme desselben kann mit einfacher Stimmenmehrheit geschehen.
Das Anklagerecht der zweiten Kammer wird durch die Entfernung des Angeklagten vom
Dienste, mag sie vor oder nach erhobener Anklage erfolgen, nicht aufgehoben.
Im Falle der Verurtheilung ist die Entlassung des Angeklagten aus dem Staatsdienste
zu erkennen.
Diese Folge der Verurtheilung kann nur auf Antrag oder mit Zustimmung der Stände
wieder aufgehoben werden.
Ueber etwaige Entschädigungsforderungen steht dem Staatsgerichtshof keine
Entscheidung zu.
§ 67b Das Richteramt über die im vorigen Paragraphen
erwähnte Anklage übt die Erste Kammer als Staatsgerichtshof in Verbindung mit dem
Präsidenten des obersten Gerichtshofs und acht weitern Richtern aus, welche aus den
Kollegialgerichten durch das Loos bezeichnet und der Ersten Kammer beigeordnet werden.
Dem Angeklagten und den Vertretern der Anklage steht ein Ablehnungsrecht zu.
Der Präsident der Ersten Kammer hat den Vorsitz. Sein Stellvertreter ist der
Präsident des obersten Gerichtshofes.
Das Nähere über die Bildung des Staatsgerichtshofes, sowie das Verfahren bei
demselben, wird durch ein gemeines Gesetz bestimmt.
§ 67c Wird ein Minister oder ein Mitglied der obersten
Staatsbehörde beschuldigt, zugleich mit den in § 67a erwähnten
Verletzungen, oder auch ohne eine solche, ein Staatsverbrechen oder ein gemeines
Verbrechen durch Mißbrauch seines Amts begangen zu haben, so ist die Zweite Kammer
befugt, zu beantragen, daß der Staatsgerichtshof den Beschuldigten wegen dieses Vergehens
vor das zuständige ordentliche Strafgericht zur Aburtheilung verweise.
Dieser Antrag ist in den in § 67a vorgeschriebenen Formen zu
beschließen und mit der Anklage, wo eine solche stattfindet, zu verbinden, andernfalls
aber selbständig bei dem Staatsgerichtshof zu stellen.
§ 67d Die während der Ständeversammlung von der Zweiten
Kammer beschlossene Anklage wird auch nach der Vertagung oder dem Schlusse des Landtages
von den erwählten Kommissären verfolgt und die Erste Kammer gilt in Beziehung auf diesen
Gegenstand nicht als vertagt oder geschlossen.
Dasselbe gilt von der Auflösung der Ständeversammlung, jedoch wird die
Schlußverhandlung und Entscheidung über die Anklage bis nach Ablauf der in § 44 der Verfassungsurkunde festgesetzten Frist verschoben.
§ 67e Hat zur Zeit der Einberufung einer neuen
Ständeversammlung der Staatsgerichtshof das Urtheil noch nicht gefällt, so wird derselbe
neu gebildet, und die Zweite Kammer wählt aufs Neue die Kommissäre zur Vertretung der
Anklage.
Erfolgt jetzt eine abermalige Auflösung, so bleibt die von der Zweiten Kammer
gewählte Kommission zur Vertretung der Anklage ermächtigt und ebenso der
Staatsgerichtshof in dem früheren Bestand.
§ 67f Das Recht der Anklage erlischt drei Jahre von
dem Zeitpunkte, wo die verletzende Handlung zur Kenntniß des Landtages gekommen ist, wenn
die Zweite Kammer jenes Recht nicht wenigstens durch den Beschluß, den Antrag auf
Erhebung einer Anklage in Betracht zu ziehen, gewahrt hat.
Die Anklage kann ferner nicht mehr erhoben werden, wenn die Mehrheit der Zweiten
Kammer jene Handlung gebilligt hat.
§ 67g Verordnungen und Verfügungen des Großherzogs,
welche sich auf die Regierung und Verwaltung des Landes beziehen, sind in der Urschrift
von den zustimmenden Mitgliedern der obersten Staatsbehörde zu unterzeichnen und gelten
nur als vollziehbar, wenn die Ausfertigung von einem Minister gegengezeichnet ist.]
V. Eröffnung der Ständischen Sitzungen, Formen der
Berathungen
§ 68 Jeder Landtag wird in den für diesen
Fall vereinigten Kammern, vom Großherzog in Person oder von einem von Ihm ernannten
Commissär eröffnet und geschlossen.
§ 69 Sämmtliche neu eintretende Mitglieder schwören bey
Eröffnung des Landtags folgenden Eyd:
"Ich schwöre Treue dem Großherzog, Gehorsam dem Gesetze,
Beobachtung und Aufrechterhaltung der Staatsverfassung, und in der Ständeversammlung nur
des ganzen Landes allgemeines Wohl und Bestes, ohne Rücksicht auf besondere Stände oder
Classen, nach meiner innern Ueberzeugung zu berathen: So wahr mir Gott helfe (und sein
heiliges Evangelium)".
§ 70 Kein Landesherrlicher Antrag kann zur Discussion und
Abstimmung gebracht werden, bevor er nicht in besondern Commissionen erörtert und
darüber Vortrag erstattet worden ist.
§ 71 Die Landesherrlichen Commissarien treten zur
vorläufigen Erörterung der Entwürfe mit ständischen Commissarien zusammen, so oft es
von der einen oder andern Seite für nothwendig erachtet wird. Keine wesentliche
Abänderung in einem Gesetz-Entwurf kann getroffen werden, die nicht mit den
Landesherrlichen Commissarien in einem solchen gemeinschaftlichen Zusammentritt erörtert
worden ist.
§ 72 Die Kammern können einen zum Vortrag gebrachten
Entwurf nochmals an die Commissionen zurückweisen.
§ 73 Ein von der einen Kammer an die andere gebrachter
Gesetzes-Entwurf oder Vorschlag irgendeiner Art kann, wenn er nicht Finanz-Gegenstände
betrifft, mit Verbesserungs-Vorschlägen, die in einer Commission nach § 71
erörtert worden, an die andere Kammer zurückgegeben werden.
§ 74 Jeder gültige Beschluß einer Kammer erfordert, wo
nicht ausdrücklich eine Ausnahme festgesetzt worden ist, absolute Stimmenmehrheit bey
vollzähliger Versammlung. Bey gleicher Stimmenzahl giebt die Stimme des Präsidenten die
Entscheidung. Tritt der Fall ein, daß in Finanzsachen die Stimmen beyder Kammern
zusammengezählt werden müssen, so entscheidet bey Stimmengleichheit die Stimme des
Präsidenten der Zweiten Kammer.
Man stimmt ab mit lauter Stimme und den Worten: Einverstanden! oder: Nicht
einverstanden! Nur bey der Wahl der Candidaten für die Präsidentenstelle der zweyten
Kammer, der Ausschußglieder und der Glieder der Commissionen entscheidet relative
Stimmenmehrheit bey Geheimer Stimmgebung.
Die erste Kammer wird durch die Anwesenheit von 10, die zweyte durch die
Anwesenheit von 35 Mitgliedern, einschließlich der Präsidenten, vollzählig. Zur
gültigen Berathschlagung über die Abänderung der Verfassung wird in beyden Kammern die
Anwesenheit von drei Viertel der Mitglieder erfordert.
§ 75 Die beyden Kammern können weder im Ganzen noch
durch Commissionen zusammentreten; sie beschränken sich in ihrem Verhältniß zu einander
auf die gegenseitige Mittheilung ihrer Beschlüsse.
Sie stehen nur mit dem Großherzoglichen Staatsministerium in unmittelbarer
Geschäftsberührung; sie können keine Verfügungen treffen oder Bekanntmachungen irgend
einer Art erlassen.
Deputationen dürfen sie nur, jede besonders, nach eingeholter Erlaubniß, an den
Großherzog abordnen.
§ 76 Die Minister und Mitglieder des Staatsministeriums und
Großherzoglichen Commissarien haben jederzeit bey öffentlicher und geheimer Sitzung
Zutritt zu jeder Kammer und müssen bey allen Discussionen gehört werden, wenn sie es
verlangen. Nur bey der Abstimmung treten sie ab, wenn sie nicht Mitglieder der Kammer
sind. Nach ihrem Abtritt dürfen die Discussionen nicht wieder aufgenommen werden.
§ 77 Nur den landesherrlichen Commissarien und den
Mitgliedern der ständischen Commissionen wird gestattet, geschriebene Reden abzulesen;
allen übrigen Mitgliedern sind blos mündliche Vorträge gestattet.
§ 78 Die Sitzungen beyder Kammern sind öffentlich. Sie
werden geheim auf das Begehren der Regierungscommissarien bey Eröffnungen, für welche
sie die Geheimhaltung nöthig erachten, und auf das Begehren von drey Mitgliedern, denen
nach dem Abtritt der Zuhörer aber wenigstens ein Viertel der Mitglieder über die
Nothwendigkeit der geheimen Berathung beitreten muß.
§ 79 Die Reihenfolge, wonach die Abgeordneten der
Grundherren und der Städte und Aemter aus der Versammlung austreten, wird auf dem ersten
Landtage für die einzelnen Wahlbezirke ein für allemal durch das Loos bestimmt. Die
Hälfte der Grundherrlichen Abgeordneten tritt im Jahr 1823 aus und dann alle vier Jahre
wieder die Hälfte. Im Jahr 1821 tritt ein Viertel der Abgeordneten der Städte und Aemter
und dann alle zwey Jahre wieder ein Viertel aus.
§ 80 Bey der ersten Wahlhandlung erkennt über alle, wegen
Gültigkeit der Wahlen entstehenden Streitigkeiten die Landesherrliche Central-Commission,
die mit der ersten Vollziehung des Constitutions-Gesetzes beauftragt werden wird.
§ 81 Die Zeit der Eröffnung des ersten Landtags wird auf
den ersten Februar 1819 festgesetzt.
§ 82 Der zur Zeit der Eröffnung des ersten Landtags, wo
die Constitution in Wirksamkeit tritt, bestehende Zustand in allen Zweigen der Verwaltung
und Gesetzgebung dauert fort, bis die erste Verabschiedung mit dem Landtage in den
Gegenständen, die sich dazu eignen, getroffen seyn wird.
Insbesondere wird das erste Budget bis zur Vereinbarung mit den Ständen
provisorisch in Vollzug gesetzt.
§ 83 Gegenwärtige Verfassung wird unter die Garantie des
deutschen Bundes gestellt.
Griesbach, den 22. August 1818.
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