Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen
5. Januar 1831
Von Gottes Gnaden Wir Wilhelm der IIte, Kurfürst von Hessen,
Großherzog von Fulda, Fürst zu Hersfeld, Hanau, Fritzlar und Isenburg, Graf zu
Catzenelnbogen, Dietz, Ziegenhain, Nidda, und Schaumburg etc. etc. haben, durchdrungen von
den hohen Regenten-Pflichten Uns stets thätigst bemühet, die Wohlfahrt Unserer
verschiedenen Landestheile, sowie aller Klassen Unserer geliebten Unterthanen zu
befördern, und sind daher mit aufrichtiger Bereitwilligkeit den Bitten und Wünschen
Unseres Volkes entgegengekommen, welches in einer landständischen Mitwirkung zu den
inneren Staats-Angelegenheiten von allgemeiner Wichtigkeit die kräftigste Gewährleistung
Unserer landesväterlichen Gesinnungen und eine dauernde Sicherstellung seines Glückes
erblickt. Nachdem Wir sodann zur Ausführung Unserer deshalbigen Absichten mit den
getreuen Ständen Unserer althessischen Lande, zu welchen noch Abgeordnete aus den
übrigen bisher nicht vertretenen Gebietstheilen und aus der Grafschaft Schaumburg
hinzugezogen worden sind, über ein Staatsgrundgesetz haben Berathungen pflegen lassen,
ertheilen Wir nunmehr in vollem Einverständnisse mit den Ständen, deren Einsicht und
treue Anhänglichkeit Wir hierbei erprobt haben, die gegenwärtige Verfassungs-Urkunde mit
dem herzlichen Wunsche, daß dieselbe als festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und
Unterthanen noch in späteren Jahrhunderten bestehen, und deren Inhalt sowohl die
Staatsregierung in ihrer wohlthätigen Wirksamkeit unterstützen, als dem Volke der
Bewahrung seiner bürgerlichen Freiheiten versichern, und dem gesammten Vaterlande eine
lange segensreiche Zukunft verbürgen möge.
I. Von dem Staatsgebiete, der Regierungsform, Regierungsfolge und Regentschaft
§ 1
[1] Sämmtliche kurhessischen Lande, namentlich Nieder- und
Oberhessen, das Großherzogthum Fulda, die Fürstenthümer Hersfeld, Hanau, Fritzlar und
Isenburg, die Grafschaften Ziegenhain und Schaumburg, auch die Herrschaft Schmalkalden, so
wie Alles, was etwa noch in der Folge mit Kurhessen verbunden werden wird, bilden für
immer ein untheilbares und unveräußerliches, in einer Verfassung vereinigtes, Ganzes,
und einen Bestandtheil des deutschen Bundes.
[2] Nur gegen einen vollständigen Ersatz an Land und Leuten, verbunden mit anderen
wesentlichen Vortheilen, kann die Vertauschung einzelner Theile mit Zustimmung der
Landstände Statt finden. Von dieser Zustimmung sind jedoch die mit auswärtigen Staaten
dermal bereits eingeleiteten Verträge ausgenommen.
§ 2
Die Regierungsform bleibt, so wie bisher, monarchisch, und es
bestehet dabei eine Landständische Verfassung.
§ 3
Die Regierung des kurhessischen Staates mit dessen sämmtlichen
gegenwärtigen und künftigen Bestandtheilen und Zubehörungen ist erblich vermöge
leiblicher Abstammung aus ebenbürtiger Ehe, nach der Linealfolge und dem Rechte der
Erstgeburt, mit Ausschluß der Prinzessinnen.
§ 4
Würden dereinst Besorgnisse wegen der Thron-Erledigung bei
Ermangelung eines durch Verwandtschaft oder fortdauernde Erbverbrüderung zur Nachfolge
berechtigten Prinzen entstehen; so soll zeitig von dem Landesherrn in Uebereinstimmung mit
den Landständen durch ein weiteres Grundgesetz über die Thronfolge die nöthige Vorsorge
getroffen werden.
§ 5
Der Landesfürst wird volljährig, sobald er das achtzehnte Jahr zurückgelegt
hat.
§ 6
Der Regierungs-Nachfolger wird bei dem Regierungs-Antritte
geloben, die Staatsverfassung aufrecht zu halten und in Gemäßheit derselben sowie nach
den Gesetzen zu regieren. Er stellt darüber eine (im landständischen Archive zu
hinterlegende) Urkunde aus, worauf die Huldigung, und zwar zuerst von den versammelten
Landständen, erfolgt.
§ 7
Ist entweder der Regierungs-Nachfolger minderjährig, oder der
Landesherr an der Ausübung der Regierung auf längere Zeit verhindert, ohne daß dieser
selbst, oder dessen Vorfahr durch eine mit landständischer Zustimmung errichtete
Verfügung, deshalb genügende Vorsorge getroffen hat, oder hat treffen können; so tritt
für die Dauer der Minderjährigkeit oder der sonstigen Verhinderung eine Regentschaft
ein. Diese gebührt in Beziehung auf den minderjährigen Landesfürsten zunächst dessen
leiblicher Mutter, so lange dieselbe sich nicht anderweit vermählen wird, und in deren
Ermangelung oder bei deren Unfähigkeit zur Regierung dem hierzu fähigen nächsten
Agnaten. Bei der obgedachten Verhinderung des Landesherrn kommt die Regentschaft dessen
Gemahlin zu, wenn aus der gemeinschaftlichen Ehe ein zur unmittelbaren Nachfolge
berechtigter, noch minderjähriger Prinz vorhanden ist, außerdem aber dem zur Regierung
fähigen nächsten Agnaten.
§ 8
[1] In allen Fällen stehet der Regentschaft ein Rath von vier
Mitgliedern zur Seite, welche zugleich Minister oder Geheimeräthe seyn können und
wenigstens zur Hälfte mit Beistimmung der Landstände zu wählen sind. Ohne die
Zustimmung dieses Regentschaftsrathes kann keine, dem Landesherrn ausschließlich
zukommende, Regierungshandlung gültig ausgeübt werden. Von Seiten der Regentschaft und
deren Rathes ist die Aufrechthaltung der Landesverfassung und die Regierung nach den
Gesetzen ebenso, wie von dem Thronfolger, urkundlich zu geloben.
[2] Die nöthige Einleitung zur Regentschaft liegt dem Gesammt-Staatsministerium
ob, und zwar alsbald im Falle eines landständischen Antrages. Zum Zwecke der deshalbigen
Berathung hat nämlich dasselbe das Zusammentreten eines fürstlichen Familienrathes zu
veranlassen, welcher aus den volljährigen, nicht mehr unter väterlicher Gewalt
befindlichen Prinzen des Kurfürstlichen Hauses, mit Ausschluß des zunächst zur
Regentschaft berufenen Agnaten, bestehen wird.
§ 9
Sollte bei einem zunächst nach dem regierenden Landesfürsten zur
Erbfolge berufenen Prinzen eine solche Geistes- oder körperliche Beschaffenheit sich
zeigen, welche es demselben wahrscheinlich für immer unmöglich machen würde, die
Regierung des Landes selbst zu führen; so ist über den künftigen Eintritt der
Regentschaft durch ein Gesetz zeitig zu verfügen.
II. Von dem Landesfürsten und den Gliedern des Fürstenhauses
§ 10
[1] Der Kurfürst ist das Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich
alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie auf verfassungsmäßige Weise aus.
[2] Seine Person ist heilig und unverletzlich.
§ 11
Der Sitz der Regierung kann nicht außer Landes verlegt werden.
§ 12
Kein Prinz und keine Prinzessin des Hauses darf ohne Einwilligung des
Landesherrn sich vermählen.
§ 13
Eben so wenig darf ein Prinz aus der wirklich regierenden Linie,
oder der präsumtive Thronfolger aus einer Seitenlinie, ohne vorgängige
Genehmigung des Landesherrn in auswärtige Dienste treten.
§ 14
Alle festgesetzten Apanagen sind stets regelmäßig auszuzahlen.
Bei eintretendem bedeutenden Zuwachse von Gebiet, oder bei dem Anfalle beträchtlicher
Grundbesitzungen mit Erlöschen einer Seitenlinie, kann unter Beistimmung der Landstände
die Vermehrung einer dermaligen Apanage, in keinem Falle aber deren Verminderung Statt
finden.
§ 15
Die künftig nöthigen Apanagen für nachgeborene Prinzen und
unvermählte Prinzessinnen der regierenden Linie werden in Geldrenten mit Zustimmung der
Landstände festgesetzt.
§ 16
Auf gleiche Weise erfolgt die Bestimmung der nöthig werdenden Witthümer.
§ 17
Ueber das Grundeigenthum, welches den Prinzen zur Apanage oder
sonst von dem Landesherrn überwiesen oder irgend eingeräumt, oder auf dieselben von
väterlicher Seite her oder von Agnaten vererbt oder sonst übertragen worden ist, können
die Prinzen in keiner Art ohne die landesherrliche
Bewilligung und die, hinsichtlich der Apagne-Güter erforderliche Zustimmung der
Landstände gültig verfügen, es sey denn zur Abtretung an den Staat selbst, zur
Ausgleichung von Grenz- und anderen Rechts-Streitigkeiten, oder zur Ablösung von
Diensten, Zehnten oder Grundzinsen. In solchen Fällen muß aber der empfangene
Ersatz wieder in inländischem Grundeigenthume, welches ganz die Natur der
veräußerten Besitzung annimmt und an deren Stelle tritt, gehörig angelegt werden.
§ 18
Die bisher vom Lande besonders aufgebrachte Aussteuer der
Prinzessinnen wird in den herkömmlichen Beträgen künftig aus der Staatskasse geleistet
werden.
III. Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Unterthanen
§ 19
Der Aufenthalt innerhalb der Grenzen des Kurstaates verpflichtet
zur Beobachtung der Gesetze, und begründet dagegen den gesetzlichen Schutz.
§ 20
[1] Die Staats-Angehörigkeit (Recht des Inländers, Indigenat)
stehet zu vermöge der Geburt, oder wird besonders erworben durch ausdrückliche oder
stillschweigende Aufnahme, und gehet verloren durch Auswanderung oder eine dergleichen
Handlung nach den näheren Bestimmungen, welche ein deshalb zu erlassendes Gesetz
enthalten wird.
[2] Der Genuß der Ortsbürger-Rechte, sey es in Städten oder Landgemeinden, kann
nur Staats-Angehörigen zukommen.
§ 21
Ein jeder Inländer männlichen Geschlechts hat im achtzehnten
Lebensjahre den Huldigungseid zu leisten, mittelst dessen er Treue dem Landesfürsten und
dem Vaterlande, Beobachtung der Verfassung und Gehorsam den Gesetzen gelobt.
§ 22
Ein jeder Staats-Angehörige (Inländer) ist der Regel nach
(vergl. § 23 und 24) auch Staatsbürger, somit zu
öffentlichen Aemtern und zur Theilnahme an der Volksvertretung befähigt, vorbehaltlich
derjenigen Eigenschaften, welche diese Verfassung oder andere Gesetze in Bezug auf die
Ausübung einzelner staatsbürgerlichen Rechte erfordern.
§ 23
Das Staats-Bürgerrecht hört auf:
1. mit dem Verlust der Staats-Angehörigkeit und
2. mit der rechtskräftigen Verurtheilung zu einer peinlichen Strafe,
unbeschadet einer etwa erfolgenden Rehabilitation (s. § 126).
§ 24
Der Mangel oder Verlust des Staats-Bürgerrechts an sich ist ohne
Einfluß auf den Unterthanen-Verband, sowie auf die blos bürgerlichen Rechte und
Pflichten, wenn nicht besondere Gesetze eine Ausnahme begründen.
§ 25
Die Leibeigenschaft ist und bleibt aufgehoben. Die von ihr
herrührenden unständigen Abgaben, in so weit sie noch rechtlich fortbestehen, namentlich
für die Sterbefälle, sollen auf eine für die Betheiligten billige Weise im Wege des
Vertrages oder für die Fälle, wo der deshalbige Versuch ohne Erfolg geblieben seyn
würde, durch ein zu erlassendes Gesetz anderweit geordnet werden.
§ 26
Alle Einwohner sind in so weit vor den Gesetzen einander gleich
und zu gleichen staatsbürgerlichen Verbindlichkeiten verpflichtet, als nicht
gegenwärtige Verfassung oder sonst die Gesetze eine Ausnahme begründen.
§ 27
Einem Jeden ohne Unterschied stehet die Wahl des Berufes und die
Erlernung eines Gewerbes frei. Ebenso kann Jeder die öffentlichen Lehr- und
Bildungs-Anstalten des In- und Auslandes, selbst zum Zwecke der Bewerbung um einen
Staatsdienst, benutzen, ohne einer besonderen Erlaubniß der Staatsregierung hierzu zu
bedürfen. Er muß jedoch jedenfalls vor dem Besuchen der Universität den für die
deshalbige Vorbereitung gesetzlich vorgeschriebenen Erfordernissen genügen (vgl.
übrigens § 52).
§ 28
Kein Inländer kann wegen seiner Geburt von irgend einem
öffentlichen Amte ausgeschlossen werden. Auch giebt dieselbe kein Vorzugsrecht zu irgend
einem Staatsamte.
§ 29
[1] Die Verschiedenheit des christlichen Glaubensbekenntnisses hat
auf den Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte keinen Einfluß.
[2] Die den Israeliten bereits zustehenden Rechte sollen unter den Schutz
der Verfassung gestellt seyn und die besonderen
Verhältnisse derselben gleichförmig für alle Gebietstheile durch ein Gesetz
geordnet werden.
§ 30
Jedem Einwohner stehet vollkommene Freiheit des Gewissens und der
Religions-Uebung zu. Jedoch darf die Religion nie als Vorwand gebraucht werden, um sich
irgend einer gesetzlichen Verbindlichkeit zu entziehen.
§ 31
Die Freiheit der Person und des Eigenthums unterliegt keiner
andern Beschränkung, als welche das Recht und die Gesetze bestimmen.
§ 32
Das Eigenthum oder sonstige Rechte und Gerechtsame können für
Zwecke des Staates oder einer Gemeinde, oder solcher Personen, welche Rechte derselben
ausüben, nur in den durch die Gesetze bestimmten Fällen und Formen gegen vorgängige
volle Entschädigung in Anspruch genommen werden. Ueber Nothfälle, in denen ausnahmsweise
nachfolgende Entschädigung eintreten soll, wird ein besonderes Gesetz das Nähere
bestimmen.
§ 33
[1] Die Jagd-, Waldkultur- und Teich-Dienste, nebst den Wildprets-
und Fisch-Fuhren oder dergleichen Traggängen zur Frohne, sollen überall nicht mehr Statt
finden, und die Privatberechtigten, welche hierdurch einen Verlust erleiden, nach dessen
Ermittelung auf den Grund der deshalb zu ertheilenden gesetzlichen Vorschriften, vom
Staate entschädiget werden. Gleichfalls werden die dem Staate zu leistenden
Fruchtmagazins-Fuhren und Handdienste auf den Fruchtböden gänzlich aufgehoben.
[2] Die übrigen ungemessenen Hof-, Kameral- und gutsherrlichen Frohnen sollen in
gemessene umgewandelt werden.
[3] Alle gemessenen Frohnen sind ablösbar. Die Art und Weise ihrer Umwandlung und
Ablösung ist durch ein besonderes Gesetz mit gehöriger Berücksichtigung der Interessen
der Berechtigten und Verpflichteten näher zu bestimmen, auch demnächst die Ausführung
nach Möglichkeit durch entsprechende Verwaltungs-Maaßregeln unter angemessener Beihülfe
aus der Staatskasse zu befördern.
[4] Die Last der Landfolgedienste, welche nach deren gesetzlicher Feststellung
fortbestehen werden, soll durch Beschränkung auf den wirklichen Bedarf gemindert und so
viel, als thunlich, durch zweckdienliche Verdingung erleichtert werden.
§ 34
Alle Grundzinsen, Zehnten und übrigen gutsherrlichen Natural- und
Geldleistungen, auch andere Reallasten, sind ablösbar. Ueber die deshalbigen Bedingungen
und Entschädigungen wird ein Gesetz, unter gehöriger Berücksichtigung der Interessen
der Pflichtigen und der Berechtigten, ergehen.
§ 35
Jedermann bleibt es frei, über das sein Interesse
benachtheiligende verfassungsgesetz- oder ordnungswidrige Benehmen oder Verfahren einer
öffentlichen Behörde bei der unmittelbar vorgesetzten Stelle Beschwerde zu erheben und
solche nöthigenfalls bis zur höchsten Behörde zu verfolgen. Wird die angebrachte
Beschwerde von der vorgesetzten Behörde unbegründet befunden, so ist dieselbe
verpflichtet, dem Beschwerdeführer die Gründe ihrer Entscheidung zu eröffnen.
Ebenwohl bleibt in jedem Falle, wo Jemand sich in seinen Rechten verletzt glaubt,
ihm die gerichtliche Klage offen, auch in geeigneten wichtigeren Fällen unbenommen, die
Verwendung der Landstände anzusprechen.
Ueberhaupt ist es den einzelnen Unterthanen, sowie ganzen Gemeinden und
Körperschaften frei gelassen, ihre Wünsche und Bitten auf gesetzlichem Wege zu berathen
und vorzubringen.
§ 36
[1] Ausschließliche Handels- und Gewerbe-Privilegien sollen ohne
Zustimmung der Landstände nicht mehr ertheilt werden. Die Aufhebung der bestehenden
Monopole, sowie der Bann- oder Zwangsrechte, ist durch ein besonderes Gesetz zu bewirken.
Patente für Erfindungen können von der Regierung auf bestimmte Zeit, jedoch nicht
länger, als auf zehn Jahre, ertheilt werden.
[2] Diejenigen Gewerbe, für deren Ausübung aus polizeilichen oder
staatswirthschaftlichen Rücksichten eine Konzession erforderlich ist, sollen gesetzlich
bestimmt werden. Indessen ist das Erforderniß einer Konzession, wie solches bisher
bestand, nirgend auszudehnen.
§ 37
Die Freiheit der Presse und des Buchhandels wird in ihrem vollen
Umfange Statt finden. Es soll jedoch zuvor gegen Preßvergehen ein besonderes Gesetz
alsbald erlassen werden. Die Censur ist nur in den durch die Bundesgesetze bestimmten
Fällen zulässig.
§ 38
Das Briefgeheimniß ist auch künftig unverletzt zu halten. Die
absichtliche unmittelbare oder mittelbare Verletzung desselben bei der Postverwaltung soll
peinlich bestraft werden.
§ 39
Niemand kann wegen der freien Aeußerung bloßer Meinungen zur
Verantwortung gezogen werden, den Fall eines Vergehens oder einer Rechtsverletzung
ausgenommen.
§ 40
Jeder Waffenfähige bis zum zurückgelegten 50sten Lebensjahre ist
im Fall der Noth zur Vertheidigung des Vaterlandes verpflichtet. Ueber die Verbindlichkeit
zum Kriegsdienste, die Art der Ergänzung des Kriegsheeres und die sonstigen hierauf
bezüglichen Verhältnisse sowie über die nach und nach erfolgende Verabschiedung der
Leute, welche bereits fünf Jahre und darüber gedient haben, ist alsbald ein Gesetz
zu erlassen. In diesem soll die Dienstzeit für das aktive Heer nicht über fünf Jahre,
außer dem Falle des Krieges, ausgedehnt, die Stellvertretung für zulässig erklärt, und
bei der Bestimmung der Verbindlichkeit zum Kriegsdienste in der Linie auf
Familienwohlfahrt, Ackerbau, Gewerbe, Künste und Wissenschaften nach Möglichkeit
schonende Rücksicht genommen werden. Außerdem ist noch die Einrichtung der
Bürgerbewaffnung in den Stadt- und Landgemeinden, als einer bleibenden Anstalt zur
geeigneten Mitwirkung für die Aufrechthaltung der inneren Ruhe und Ordnung, sowie in
Nothfällen zur Landesvertheidigung, gesetzlich näher zu bestimmen.
§ 41
Jedem Einwohner steht das Recht der freien Auswanderung unter
Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen zu.
§ 42
Die Rechte und Verbindlichkeiten der Gemeinden sollen in einer
gesonderen Städte- und Gemeinde-Ordnung alsbald festgesetzt, und darin die freie Wahl
ihrer Vorstände und Vertreter, die selbstständige Verwaltung des Gemeinde-Vermögens und
der örtlichen Einrichtungen, unter Mitaufsicht ihrer besonders erwählten Ausschüsse,
die Bewirkung der Aufnahme in den Gemeinde-Verband, und die Befugniß zur Bestellung der
Gemeinde-Diener, zum Grunde gelegt, auch die Art der oberen Aufsicht der Staatsbehörden
näher bestimmt werden.
§ 43
Keine Gemeinde kann mit Leistungen oder Ausgaben beschwert werden,
wozu sie nicht nach allgemeinen Gesetzen oder anderen besonderen Rechtsverhältnissen
verbunden ist. Dasselbe gilt von mehreren, in einem Verbande stehenden Gemeinden.
§ 44
Alle Lasten, welche nicht die örtlichen Bedürfnisse der
Gemeinden oder deren Verbände, sondern der Erfüllung allgemeiner Verbindlichkeiten des
Landes oder einzelner Theile desselben erheischen, müssen, in so weit nicht bestehende
Rechtsverhältnisse eine Ausnahme begründen, auch von dem gesammten Lande oder dem
betreffenden Landestheile getragen werden.
§ 45
Das Vermögen und Einkommen der Gemeinden und ihrer Anstalten darf
nie mit dem Staatsvermögen oder den Staats-Einnahmen vereinigt werden.
§ 46
Sämmtliche Vorstände sowie die übrigen Beamten der Gemeinden
und deren Verbände sind, gleich den Staatsdienern, auf Festhaltung der Landesverfassung
und insbesondere auf Wahrung der dadurch begründeten Rechte der Gemeinden zu
verpflichten.
§ 47
Das Verhältniß der Rittergüter und der ehemals adelichen
geschlossenen Freigüter zu den Gemeinden, zu welchen sie in polizeilichen und anderen
bestimmten Beziehungen gehören sollen, wird in der Gemeinde-Ordnung auf eine
zweckmäßige und den bisherigen Rechtsverhältnissen entsprechende Weise festgestellt
werden.
§ 48
Für die Berathung und Vorbereitung von Verwaltungsmaaßregeln, welche nur das
Beste eines einzelnen Bezirkes zum Gegenstande haben, sowie für eine angemessene
Mitaufsicht auf die zweckdienliche und die Kräfte der Unterthanen thunlichst schonende
Ausführung der in jeder Beziehung durch allgemeine Gesetze, oder durch besondere
Anordnungen der Staatsbehörden getroffenen wichtigen Einrichtungen, sollen Bezirksräthe
mittelst geeigneter Wahl gebildet werden. Die deshalb erforderlichen näheren Vorschriften
sind durch ein Gesetz zu erlassen.
V. Von den Standesherren etc. und den ritterschaftlichen Körperschaften
§ 49
Die besonderen Rechtsverhältnisse der Standesherrschaften werden
in Gemäßheit der bundesgesetzlichen Bestimmungen und nach vorgängiger näheren
Verständigung der Staatsregierung mit den Standesherren durch ein Edict geordnet werden,
welches, nachdem dessen Inhalt von den Landständen dieser Verfassung entsprechend
befunden worden, unter deren Schutz gestellt werden soll.
In gleicher Art sollen die besonderen Rechtsverhältnisse des vormals
reichsunmittelbaren Adels geordnet und geschützt werden.
§ 50
Die besonderen Rechte des althessischen und des schaumburgischen
ritterschaftlichen Adels genießen den Schutz dieser Verfassung nach dem Inhalte der
deshalb zu entwerfenden Statuten, welche von der Staatsregierung genehmigt und von den
Landständen den Bestimmungen der Verfassung entsprechend befunden seyn werden.
VI. Von den Staatsdienern
§ 51
Der Landesherr ernennt oder bestätigt alle Staatsdiener, des
geistlichen und weltlichen, sowohl des Militär- als Civil-Standes, in so fern den
Behörden nicht die Bestellung überlassen ist. In Ansehung derjenigen Stellen, für
welche einzelnen Berechtigten oder Körperschaften ein Präsentations- oder Wahlrecht
zustehet, erfolgt die Ernennung in Form einer Bestätigung nach Maaßgabe der deshalb
bestehenden Verhältnisse.
§ 52
[1] Ein Staatsamt kann nur demjenigen übertragen werden, welcher
vorher gesetzmäßig geprüft und für tüchtig und würdig zu demselben erkannt worden
ist. Uebrigens muß von denjenigen, welche künftig ein akademisches Studium beginnen,
demnächst die Nachweisung geschehen, daß den gesetzlichen Vorschriften über das
Besuchen der Landes-Universität genügt worden sey.
[2] Bei einer Weiterbeförderung ist eine abermalige Prüfung nur erforderlich,
wenn solche besonders vorgeschrieben ist.
§ 53
Der Ernennung oder Beförderung zu einem Staatsamte muß der
Vorschlag der vorgesetzten Behörde, wenn eine solche vorhanden ist, vorausgehen.
§ 54
Die Ertheilung von Anwartschaften auf bestimmte
Staatsdienerstellen ist völlig unstatthaft; gleichwohl kann den Gehülfen, welche
altersschwachen oder sonst an gehöriger Dienstversehung gehinderten Staatsbeamten
beigegeben werden, die demnächstige selbstständige Anstellung, nach Maaßgabe ihrer
bewährten Tüchtigkeit, zugesichert werden.
§ 55
Alle erledigten Stellen sollen so bald, als thunlich, dem
betreffenden Etat (vgl. § 62) gemäß wieder besetzt werden.
§ 56
[1] Ohne Urtheil und Recht darf kein Staatsdiener abgesetzt, oder
wider seinen Willen entlassen, noch demselben sein rechtmäßiges Diensteinkommen
vermindert oder entzogen werden, vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen, welche das
Staatsdienstgesetz enthält.
[2] Diejenigen geringeren Diener gleichwohl, welche von den Behörden ohne ein
durch den Landesherrn oder ein Ministerium vollzogenes Bestellungs- oder
Bestätigungs-Reskript angenommen worden sind, können wegen Verletzung oder Versäumung
ihrer Berufspflichten von denselben Behörden wieder entlassen werden, nach dem die
vorgesetzte höhere oder höchste Behörde, nach genauer Erwägung des gehörig in
Gewißheit gesetzten Verschuldens, die Entlassung genehmigt haben wird.
§ 57
Jeder Staatsdiener muß sich Versetzungen, welche seinen
Fähigkeiten oder seiner bisherigen Dienstführung entsprechen, aus höheren Rücksichten
des Staats, ohne Verlust an Rang und Gehalt (vgl. jedoch § 56) gefallen
lassen. Staatsdiener, welche ohne ihr Ansuchen oder Verschulden versetzt werden, erhalten
für die Kosten des Umzugs eine angemessene Entschädigung, sofern ihnen nicht durch die
Verbesserung ihres Diensteinkommens eine entsprechende Vergütung dafür zu Theil geworden
ist.
§ 58
Diejenigen Staatsdiener, welche wegen Altersschwäche oder anderer
Gebrechen ihre Berufs-Obliegenheiten nicht mehr erfüllen können und daher in den
Ruhestand versetzt werden, sollen eine angemessene Pension nach Maaßgabe des
Staatsdienstgesetzes erhalten.
§ 59
Keinem Staatsdiener kann die nachgesuchte Entlassung versagt
werden. Hinsichtlich seines wirklichen Abganges sind die näheren durch das
Staatsdienstgesetz vorgeschriebenen Bedingungen zu erfüllen.
§ 60
[1] Die Verpflichtung zur Beobachtung und Aufrechthaltung der
Landesverfassung soll in den Diensteid eines jeden Staatsdieners mit aufgenommen werden.
[2] Keine Dienst-Anweisung darf etwas enthalten, was den Gesetzen zuwider ist.
§ 61
Ein jeder Staatsdiener bleibt hinsichtlich seiner
Amtsverrichtungen verantwortlich. Derjenige, welcher sich einer Verletzung der
Landesverfassung, namentlich auch durch Vollziehung einer, nicht in der
verfassungsmäßigen Form ergangenen, Verfügung einer höchsten Staatsbehörde (s.
§ 108), einer Veruntreuung öffentlicher Gelder oder einer Erpressung
schuldig macht, sich bestechen läßt, seine Berufspflichten gröblich hintansetzt oder
seine Amtsgewalt mißbraucht, kann auch von den Landesständen oder deren Ausschusse (s.
§ 102) bei der zuständigen Gerichtsbehörde angeklagt werden. Die
Sache muß alsdann auf dem gesetzlichen Wege schleunig untersucht und den Landständen
oder deren Ausschusse von dem Ergebnisse der Anklage Nachricht ertheilt werden.
§ 62
[1] Die übrigen besonderen Rechtsverhältnisse der Staatsdiener,
sowohl des Civil- als Militärstandes (Officiere und Militärbeamten), sind in dem
Staatsdienstgesetze, welches unter dem Schutze der Verfassung stehen wird, näher
bestimmt.
[2] Die Versorgung oder Unterstützung der dazu geeigneten, nicht zum
Officierstande gehörenden Militärpersonen wird durch ein besonderes Regulativ geordnet
werden.
VII. Von den Landständen
§ 63
Die Ständeversammlung wird gebildet durch folgende
Mitglieder, nämlich: |
|
1. einen Prinzen des kurfürstlichen Hauses für eine jede,
dermal apanagirte Linie desselben, welche in Ermangelung von dazu fähigen Gliedern oder
bei deren Verhinderung sich durch einen geeigneten, in Kurhessen begüterten
Bevollmächtigten vertreten lassen kann;
2. das Haupt jeder fürstlichen oder gräflichen, ehemals reichsunmittelbaren Familie,
welche eine Standesherrschaft in Kurhessen besitzt, mit Gestattung
der Stellvertretung durch eines ihrer dazu fähigen Familienglieder, und in deren
Ermangelung oder Verhinderung durch einen anderen geeigneten Bevollmächtigten, welcher in
Kurhessen begütert ist;
3. den Senior oder das sonst mit dem Erbmarschall-Amte beliehene Mitglied der Familie der
Freiherren v. Riedesel;
4. einen der ritterschaftlichen Obervorsteher der adelichen Stifter Kaufungen und Wetter;
5. einen Abgeordneten der Landes-Universität;
6. einen Abgeordneten der althessischen Ritterschaft von jedem der fünf Bezirke, nämlich
der Diemel, Fulda, Schwalm, Werra und Lahn;
7. einen Abgeordneten aus der Ritterschaft der Grafschaft Schaumburg, gewählt von
derselben unter Mitbestimmung der adelichen Stifter Fischbeck und Obernkirchen;
8. einen Abgeordneten aus dem ehemals reichsunmittelbaren Adel in den Kreisen Fulda und
Hünfeld;
9. einen Abgeordneten aus dem ehemals reichsunmittelbaren und sonst stark begüterten Adel
in der Provinz Hanau;
10. sechzehn Abgeordneten von den Städten, nämlich: |
|
|
a) zwei von der Residenzstadt Cassel;
b) zwei von der Stadt Hanau;
c) einen von der Stadt Marburg;
d) einen von der Stadt Fulda;
e) einen von der Stadt Hersfeld oder der Stadt Melsungen, welche unter einander dergestalt
abwechseln, daß die erstgenannte Stadt zu zwei Landtagen und die Stadt Melsungen zu einem
Landtage den Abgeordneten sendet;
f) einen von der Stadt Schmalkalden;
g) einen von der Stadt Rinteln und den Städten Obernkirchen, Oldendorf, Rodenberg und
Sachsenhagen;
h) einen von den Städten Hofgeismar, Carlshafen, Grebenstein, Helmarshausen, Immenhausen,
Liebenau, Naumburg, Trendelburg, Volkmarsen, Wolfhagen und Zierenberg;
i) eine von der Stadt Hersfeld oder Melsungen (s. oben e) und den Städten Lichtenau,
Rotenburg, Sontra, Sprangenberg und Waldkappel;
k) einen von den Städten Homberg, Borken, Felsberg, Fritzlar, Gudensberg, Neukirchen,
Niedenstein, Schwarzenborn, Treysa und Ziegenhain;
l) einen von den Städten Eschwege, Allendorf, Großalmerode, Wanfried und Witzenhausen;
m) einen von den Städten Frankenberg, Amöneburg, Frankenau, Gemünden, Kirchhain,
Neustadt, Rauschenberg, Rosenthal, Schweinsberg und Wetter;
n) einen von den Städten Hünfeld, Salmünster, Schlüchtern, Soden und Steinau; auch
o) einen von den Städten Gelnhausen, Bockenheim, Wächtersbach und Windecken; |
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11. sechzehn Abgeordnete der nachbenannten Landbezirke, mit
Ausschluß der darin befindlichen Städte, und derjenigen adelichen Güter, deren Besitzer
an der Wahl der oben unter Nr. 6 bis 9 aufgeführten Abgeordneten Theil nehmen. Diese
Bezirke sind: |
|
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a) der Diemel-Bezirk, bestehend aus den Kreisen Cassel, Hofgeismar und
Wolfhagen;
b) der (Nieder-)Fulda-Bezirk, begreifend der Kreise Hersfeld, Rotenburg und Melsungen
(ohne das Amt Felsberg);
c) der Werra-Bezirk, umfassend die Kreise Eschwege, Witzenhausen und Schmalkalden;
d) der Schwalm-Bezirk; enthaltend die Kreise Homberg, Fritzlar und Ziegenhain, auch das
Amt Felsberg (aus dem Kreise Melsungen);
e) der Lahn-Bezirk, bestehend aus den Kreisen Marburg, Frankenberg und Kirchhain;
f) der Ober-Fulda-Bezirk, begreifend die Kreise Fulda und Hünfeld;
g) der Main-Bezirk, enthaltend die Kreise Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern;
h) der Weser-Bezirk, bestehend aus der Grafschaft Schaumburg. |
§ 64
Acht von den Abgeordneten der Städte, nämlich einer
für Cassel, sowie einer für Hanau, und sechs für die übrigen Städte gemäß der, nach
dem Wahlgesetze von Landtag zu Landtag eintretenden Abwechselung, müssen
Magistratsglieder oder solche Einwohner seyn, welche als Mitglieder der
Bürger-Ausschüsse zum zweiten Male gewählt worden sind, oder ein Vermögen von
mindestens sechstausend Thaler besitzen, oder ein sicheres und ständiges Einkommen von
vierhundert Thalern jährlich genießen oder monatlich einen Thaler zwölf Gr. an
öffentlichen ständigen Abgaben entrichten.
§ 65
Ebenso müssen acht Abgeordnete der Landbezirke entweder so viel
Grundeigenthum besitzen, daß es ihnen an eigentlicher Grundsteuer (zu deren vollen
ordentlichen Ansatze und nach Abzug der gesetzlich zu vergütenden Real-Lasten) wenigstens
zwei Thaler monatlich erträgt, - oder sie müssen mindestens fünftausend Thaler im
Vermögen haben und zugleich die Landwirthschaft, als Haupterwerbsquelle, betreiben.
§ 66
Die Wahl der übrigen acht Abgeordneten der Städte, sowie der
übrigen acht Abgeordneten der Landbezirke kann ohne Unterschied auf einen Jeden fallen,
welcher überhaupt wählbar (s. § 67) und in dem Strombezirke wohnhaft
ist. Dagegen können ausnahmsweise die unteren landesfürstlichen, standesherrlichen oder
Patrimonial-Justiz-, Verwaltungs- und Finanz-Beamten nur außer dem Wahlbezirke gewählt
werden, worin sie ihren Wohnsitz haben.
§ 67
[1] Weder zur Wahl berechtigt noch irgend wählbar
sind diejenigen, welche |
|
1. wegen solcher Vergehungen, die entweder nach gesetzlicher Bestimmung
oder nach allgemeinen Begriffen für entehrend zu halten sind (worüber im letzteren Falle
hinsichtlich der Abgeordneten die Ständeversammlung zu entscheiden hat), vor Gericht
gestanden haben, ohne von der Anschuldigung völlig losgesprochen worden zu seyn;
2. noch nicht das 30ste Jahr zurückgelegt haben, oder
3. unter Kuratel stehen, oder
4. über deren Vermögen ein gerichtliches Konkursverfahren entstanden ist, bis zur
völligen Befriedigung der Gläubiger. |
[2] Die vorstehenden Gründe der
Ausschließung finden auch auf die ohne Wahl berufenen Landstände Anwendung. |
§ 68
[1] Bei der Wahl eines jeden landständischen Deputirten wird zu
gleicher Zeit ein Stellvertreter gewählt, auf welchen im Falle des Todes, der
eintretenden Unfähigkeit oder einer längeren Verhinderung die landständischen Pflichten
und Rechte des Ersteren während des begonnenen Landtages bis zu dessen Schlusse
übergehen.
[2] Ueber die Einberufung des Stellvertreters entscheidet die Ständeversammlung.
§ 69
Kann oder will der (hauptsächlich oder zur Aushülfe) Gewählte
die Landstandschaft nicht übernehmen, so schreiten die Wahlmänner zur neuen
Wahl. Letzteres muß auch dann geschehen, wenn die Stelle eines
Abgeordneten nach bereits erklärter Annahme vor Eröffnung oder nach dem Schlusse des
Landtages wieder erledigt wird.
§ 70
Erfolgt die Ernennung oder Beförderung eines Abgeordneten zu
einem Staatsamte, wo wird dadurch eine neue Wahl erforderlich, wobei jedoch derselbe
wieder gewählt werden kann.
§ 71
Sobald ein Staatsdiener, des geistlichen oder weltlichen Standes,
zum Abgeordneten gewählt ist, hat derselbe davon der vorgesetzten Behörde Anzeige zu
machen, damit diese die Genehmigung (welche nicht ohne erhebliche, der Ständeversammlung
mitzutheilende Ursache zu versagen ist) ertheilen, auch wegen einstweiliger Versehung
seines Amtes Vorsorge treffen könne.
§ 72
Die einzelnen Vorschriften über die Ausübung der Wahlrechte
setzt das Wahlgesetz fest, welches einen Theil der Staatsverfassung bildet.
§ 73
[1] Die Abgeordneten sind nicht an Vorschriften eines Auftrages
gebunden, sondern geben ihre Abstimmungen, gemäß den Pflichten gegen ihren
Landesfürsten und ihre Mitbürger überhaupt, nach ihrer eigenen Ueberzeugung, wie sie es
vor Gott und ihrem Gewissen zu verantworten gedenken.
[2] Auch können sie weder einen Dritten, noch selbst ein Landtags-Mitglied
beauftragen, in ihrem Namen zu stimmen.
[3] Daneben bleibt es dem Abgeordneten überlassen, die etwa an ihn für die
Ständeversammlung gelangenden besonderen Anliegen weiter zu befördern.
§ 74
Jedes Mitglied der Ständeversammlung leistet folgenden Eid:
"Ich gelobe, die Staatsverfassung heilig zu halten und in der Ständeversammlung das
unzertrennliche Wohl des Landesfürsten und des Vaterlandes, ohne Nebenrücksichten, nach
meiner eigenen Ueberzeugung bei meinen Anträgen und Abstimmungen zu beachten. So wahr mir
Gott helfe!"
§ 75
Die Beschlüsse werden nur in Sitzungen, denen wenigstens zwei
Drittel der ordnungsmäßigen Anzahl von Mitgliedern beiwohnen, und nach der absoluten
Stimmen-Mehrheit gefaßt. Wenn Gleichheit der Stimmen eintritt, so ist die Sache in einer
folgenden Sitzung zum Vortrage zu bringen. Würde auch in dieser Sitzung eine
Stimmen-Mehrheit nicht zu Stande kommen, so giebt ausnahmsweise die Stimme des
Vorsitzenden den Ausschlag, jedoch muß die abweichende Meinung in diesem Falle der
Staatsregierung mitgetheilt werden.
§ 76
[1] Die Abstimmungen geschehen von den einzelnen Mitgliedern ohne
Rücksicht auf Verschiedenheit der Stände und der Bezirke. Gleichwohl ist es den
Abgeordneten eines Standes oder eines von den Hauptlanden abgesonderten oder entlegenen
Bezirken unbenommen, wenn sie einhellig den Stand, aus welchem sie abgeordnet worden, in
seinen wohl erworbenen Rechten, oder den betreffenden Bezirk nach dessen eigenthümlichen
Verhältnissen durch den Beschluß der Mehrheit beschwert erachten, sich über eine
Separat-Stimme zu vereinigen.
[2] Eine solche Standes- oder Bezirks-Stimme hat die Wirkung, daß sie in die von
dem Landtage ergehende Erklärung, neben dem Beschlusse der Mehrheit, aufgenommen werden
muß; - und es bleibt der Staatsregierung vorbehalten, die gedachte Erklärung in
Beziehung auf den betreffenden Stand oder den besonderen Bezirk nach Maaßgabe der außer
Zweifel gesetzten eigenthümlichen Verhältnisse zu berücksichtigen.
§ 77
[1] Die Verhandlungen der Ständeversammlung sollen der Regel nach öffentlich
seyn.
[2] Die näheren Bestimmungen über die landständische Geschäftsbehandlung
enthält die Geschäftsordnung.
§ 78
Die Abgeordneten und deren Stellvertreter behalten ihre
Eigenschaft für die landständischen Verrichtungen, welche in den nächsten drei Jahren
vorkommen werden. In dem dritten Jahre wird, ohne weitere Aufforderung von Seiten der
Staatsregierung zu einer neuen Wahl geschritten; doch können bei dieser dieselben
Personen wieder gewählt werden.
§ 79
[1] Sie verlieren ihre Eigenschaft als Abgeordnete
früher, wenn |
|
1. sie nach Maaßgabe des § 67 zur landständischen
Vertretung unfähig, oder
2. zu einem Staatsdienste ernannt oder darin befördert werden (s. § 70),
oder wenn
3. der Landesherr die ständische Versammlung auflöset (s. § 83). |
[2] In den letzten beiden Fällen dürfen sie von
Neuem gewählt werden. |
§ 80
[1] Der Landesherr verordnet die Zusammenkunft der Stände, so oft
er solches zur Erledigung wichtiger und dringender Landes-Angelegenheiten nöthig
erachtet.
[2] Die Zusammenberufung muß aber wenigstens alle drei Jahre geschehen, und es ist
alsdann dazu, der Regel nach, der Anfang des Monats November bestimmt.
§ 81
Die Einberufung erfolgt mittelst einer, vom Ministerium des Innern
ausgehenden, allgemeinen Bekanntmachung in dem Gesetzblatte, deren zeitige Bewirkung dem
Vorstande des genannten Ministeriums als verfassungsmäßige Pflicht obliegt, und wegen
deren Hintansetzung derselbe auch den landständischen Ausschuß (s. § 102)
bei der im § 100 genannten Gerichtsbehörde anzuklagen ist.
§ 82
Eine außerordentliche Ständeversammlung ist jedesmal nöthig bei
einem Regierungswechsel, dergestalt, daß die Landstände ohne besondere Berufung am
vierzehnten Tage nach eingetretener Regierungs-Veränderung zusammenkommen.
§ 83
Der Landesherr kann die Ständeversammlung vertragen, auch sie
auflösen. Die Vertagung darf jedoch nicht über drei Monate dauern, und im Falle der
Auflösung des Landtages soll hiermit zugleich die Wahl neuer Stände verordnet werden,
auch deren Einberufung innerhalb der nächsten sechs Monate erfolgen.
§ 84
Der Landesherr eröffnet und entläßt die Ständeversammlung
entweder in eigener Person, oder durch einen dazu bevollmächtigten Minister oder anderen
Kommissar.
§ 85
Die Landtage dürfen der Regel nach nicht über drei Monate
dauern, und es ist daher mit den wichtigsten Geschäften der Anfang zu machen.
§ 86
Die Urschriften der Landtags-Abschiede nebst den etwa beigefügten
besonderen Urkunden werden in doppelten Exemplaren, davon das eine für das Staats- und
das andere für das landständische Archiv bestimmt ist, von dem Landesherrn, auch von den
Landständen unterzeichnet und untersiegelt. Die für die öffentliche Bekanntmachung
bestimmten Abdrücke aber werden in derselben Form, wie andere Staatsgesetze ausgefertigt.
§ 87
Die Mitglieder der Ständeversammlung können während der Dauer
des Landtages, so wie sechs Wochen vor und nach demselben, außer der Ergreifung auf
frischer verbrecherischer That, nicht anders, als mit Zustimmung der Ständeversammlung
oder ihres Ausschusses (s. § 102) verhaftet, und zu keiner Zeit wegen
Aeußerung ihrer Meinung zur Rechenschaft gezogen werden, den Fall der beleidigenten
Privatehre ausgenommen.
§ 88
Die Mitglieder der Ständeversammlung, mit Ausnahme der Prinzen
des Kurhauses, sowie der Standesherren, erhalten angemessene Reise- und Tagegelder.
§ 89
Die Landstände sind im Allgemeinen berufen, die
verfassungsmäßigen Rechte des Landes geltend zu machen und überhaupt das
unzertrennliche Wohl des Landesherrn und des Vaterlandes mit treuer Anhänglichkeit an die
Grundsätze der Verfassung möglichst zu befördern.
§ 90
[1] Die in Folge des § 82 versammelten
Landstände haben insbesondere dahin zu wirken, daß der Thronfolger bei seinem
Regierungs-Antritte dem Inhalte des § 6 gegenwärtiger Verfassung
Genüge leiste.
[2] In dem von ihnen hiernächst geleisteten Huldigungs-Eide liegt zugleich die
allgemeine Anerkennung des verfassungsmäßig geschehenen Regierungs-Antrittes.
§ 91
Den Landständen wird es dereinst obliegen, wegen der nöthig
befundenen Maaßregeln zur Verhinderung einer Thron-Erledigung (s. § 4)
oder zur Einleitung der nöthigen Regentschaft (s. §§ 7 bis 9) geeignete Anträge zu thun.
§ 92
Die Ständeversammlung ist befugt, über alle Verhältnisse,
welche nach ihrem Ermessen auf das Landeswohl wesentlichen Einfluß haben, die
zweckdienliche Aufklärung von den landesherrlichen Kommissaren zu begehren. Auch werden
in geeigneten Fällen die Vorstände der betreffenden Ministerial-Departements persönlich
der Ständeversammlung die gewünschte Auskunft ertheilen.
§ 93
Ein jeder, von den Landesständen zu einer vorbereitenden Arbeit
oder Geschäfts-Einleitung gewählter Ausschuß kann zur Erlangung von Aufschlüssen über
die ihm vorliegenden Gegenstände mit der kurfürstlichen Landtags-Kommission sich
benehmen, oder schriftliche Mittheilungen von den einschlägigen Behörden, und zwar
hinsichtlich der im § 144 erwähnten Angelegenheiten unmittelbar
einziehen, auch die persönliche Zuziehung von den dazu sich hauptsächlich eignenden
Staatsbeamten durch die genannte Kommission veranlassen.
§ 94
Ohne Einwilligung der Stände kann weder das Staatsgebiet
überhaupt, noch ein einzelner Theil desselben mit Schulden oder auf sonstige Art belastet
werden (vergleiche übrigens wegen Veränderung des Staatsgebiets § 1
und wegen des Staatsvermögens § 142).
§ 95
[1] Ohne ihre Beistimmung kann kein Gesetz gegeben, aufgehoben,
abgeändert oder authentisch erläutert werden. Im Eingange eines jeden Gesetzes ist der
landständischen Zustimmung ausdrücklich zu erwähnen.
[2] Verordnungen, welche die Handhabung oder Vollziehung bestehender Gesetze
bezwecken, werden von der Staatsregierung allein erlassen. Auch kann, wenn die Landstände
nicht versammelt sind, zu solchen ausnahmsweise erforderlichen Maaßregeln, welche bei
außerordentlichen Begebenheiten, wofür die vorhandenen Gesetze unzugänglich sind, von
dem Staatsministerium unter Zuziehung des landständischen Ausschusses (s. § 102) auf den Antrag der betreffenden Ministerial-Vorstände für
wesentlich und unaufschieblich zur Sicherheit des Staates oder zur Erhaltung der ernstlich
bedroheten öffentlichen Ordnung erklärt werden sollten, ungesäumt geschritten werden.
Hierauf aber wird nach dem Antrage jenes Ausschusses sobald als möglich, die Einberufung
der Landstände Statt finden, um deren Beistimmung zu den, in gedachten Fällen erlassenen
Anordnungen zu erwirken.
§ 96
Dispensationen von den schon jetzt bestehenden gesetzlichen
Vorschriften sollen nur mit größter Vorsicht ertheilt werden, und dürfen niemals gegen
die künftig ergehenden verfassungsmäßigen Gesetze Statt finden, sofern nicht solche in
dem Gesetze ausdrücklich vorbehalten sind.
§ 97
Die Stände können zu neuen Gesetzen sowie zur Abänderung oder
Aufhebung der bestehenden Vorschriften Anträge machen.
§ 98
Den Ständen stehet das Recht der Steuerbewilligung in der dafür festgesetzten
Weise (s. § 143 fg.) zu.
§ 99
Sie dürfen die begründeten Bitten und Beschwerden einzelner
Unterthanen, ganzer Klassen derselben oder Körperschaften, insofern solche auf allen
verfassungsmäßig gegebenen Wegen keine Abhülfe fanden (s. § 35), der
einschlägigen höchsten Behörde, oder nach Befinden dem Landesherrn selbst, zur
geeigneten Berücksichtigung vorlegen, sowie über die in der Landesverwaltung oder der
Rechtspflege wahrgenommenen Mißbräuche Beschwerde führen, worauf, wenn diese begründet
gefunden wird, die Abstellung derselben ohne Verzug erfolgen soll.
§ 100
[1] Die Landstände sind befugt, aber auch verpflichtet,
diejenigen Vorstände der Ministerien oder deren Stellvertreter, welche sich einer
Verletzung der Verfassung schuldig gemacht haben würden, vor dem
Ober-Appellations-Gerichte anzuklagen, welches sodann ohne Verzug die Untersuchung
einzuleiten, selbst zu führen und nach deren Beendigung in voller Versammlung (in pleno)
zu erkennen hat. Die gegründet befundene Anklage ziehet, wenn nicht schon das
Strafurtheil die Amts-Entsetzung des Angeklagten ausspricht, jedenfalls dessen Entfernung
vom Amte nach sich.
[2] Nach gefälltem Urtheile findet unter den gesetzlichen Erfordernissen die
Wiederaufnahme der Untersuchung sowie das Rechtsmittel der Restitution statt.
§ 101
Auch stehet den Landständen und deren Ausschusse (s. § 102) die Befugniß zu, gegen andere Beamten, welche sich eine der im § 61 genannten Vergehungen zu Schulden kommen ließen, die gerichtliche
Untersuchung, insofern diese nicht schon eingeleitet seyn sollte, auf geeignete Weise zu
veranlassen.
§ 102
[1] Vor der Verabschiedung, Vertagung oder Auflösung eines
jedesmaligen Landtages haben die Stände aus ihrer Mitte einen Ausschuß von drei bis
fünf Mitgliedern zu wählen, welcher bis zum nächsten Landtage über die Vollziehung der
Landtags-Abschiede zu wachen und dabei in der verfassungsmäßigen Weise thätig zu seyn,
auch sonst das landständische Interesse wahrzunehmen, sowie die ihm nach der jedesmal
besonders zu ertheilenden Instruktion, weiter obliegenden Geschäfte im Namen der
Landstände zu verrichten hat.
[2] Der Ausschuß wählt aus seiner Mitte einen Vorstand, und kann in Fällen, in
welchen er es für nöthig findet, noch andere ständische Mitglieder zu Rathe ziehen,
auch nach dem Abgange eines Mitgliedes sich aus der Zahl der Mitglieder der letzten
Ständeversammlung ergänzen.
[3] Die Mehrzahl der Mitglieder des Ausschusses darf nicht aus Staats- oder
wirklichen Hof-Dienern bestehen.
§ 103
[1] Die Landstände sind auch befugt, einen Landsyndikus, als
beständigen Sekretär auf dessen Lebenszeit anzunehmen. Dieser muß ein Rechtsgelehrter
von bewährter wissenschaftlicher Tüchtigkeit und erprobter moralischer Würdigkeit, auch
wenigstens dreißig Jahre alt seyn. Von der bewirkten Wahl des Landsyndikus geschiehet dem
Landesherrn Anzeige, welcher denselben, wenn gegen dessen Person nichts zu erinnern ist,
bestätiget.
[2] Mit diesem Amte ist jeder andere Staatsdienst, sowie jeder andere Erwerbsberuf,
unvereinbar.
[3] Der Gehalt des Landsyndikus wird von den Landständen bestimmt; dessen sonstige
Dienstverhältnisse richten sich nach dem Staatsdienstgesetze.
§ 104
Der Landsyndikus führt das Protokoll in der Ständeversammlung
und ist der Konsulent des landständischen Ausschusses (s. § 102). Er
hat sowohl jener, als diesem, über alle vorkommenden Gegenstände, so oft es
verlangt wird, die nöthigen Nachrichten und Gutachten schriftlich und mündlich
zu ertheilen, das landständische Archiv zu beaufsichtigen und überhaupt Alles zu
thun, was ihm nach seiner besonderen Dienstanweisung obliegt, welche er, nach seiner
Bestätigung, von der Ständeversammlung erhält, und worauf er sodann
verpflichtet wird. Sein Wohnsitz ist in der Residenzstadt, und wo möglich im
Versammlungs-Gebäude.
§ 105
Auf jeden Antrag der Landstände, sowie ihres Ausschusses (§ 102) wird eine Beschlußnahme, und zwar, wenn diese dem Antrage nicht
entspricht, mit Angabe der Gründe thunlichst bald erfolgen.
VIII. Von den obersten Staatsbehörden
§ 106
Für die Staats-Angelegenheiten werden als höchste Behörden nur
bestehen das Gesammt-Staatsministerium und die Vorstände der Ministerial-Departements.
Durch diese wird der Regent in der unmittelbaren Ausübung seiner Regierungsrechte
unterstützt.
§ 107
Die einzelnen Zweige der Staatsverwaltung: die Justiz, das Innere,
worunter auch die Polizei-Verwaltung in ihrem ganzen Umfange begriffen ist, das
Finanzwesen, das Kriegswesen, (so weit solches nicht für den Landesherrn als obersten
Militär-Chef ausschließlich gehört) und die auswärtigen Angelegenheiten sind
hinsichtlich der Kompetenz stets sorgfältig von einander abgegrenzt zu halten. Keines
dieser Departements darf jemals ohne einen verantwortlichen Vorstand seyn. Ein solcher
kann zwar zwei Ministerial-Departements, jedoch nicht mehrere, zugleich verwalten. Er
bleibt aber stets für jedes derselben besonders, sowie überhaupt hinsichtlich der zum
Staatsministerium kommenden Angelegenheiten seines Departements (vgl. § 110)
auch dann, wenn er darüber nicht selbst den Vortrag gehalten hat, verantwortlich.
§ 108
Der Vorstand eines jeden Ministerial-Departements hat die vom
Regenten in Bezug auf die Regierung und Verwaltung des Staates ausgehenden Anordnungen und
Verfügungen, welche in sein Departement einschlagen, zum Zeichen, daß die betreffende
Angelegenheit auf verfassungsmäßige Weise behandelt worden sey, zu kontrasigniren, und
ist für die Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit ihres Inhaltes persönlich verantwortlich.
Hinsichtlich derjenigen Angelegenheiten, welche mehrere oder sämmtliche Departements
betreffen, haben deren Vorstände gemeinschaftlich zu kontrasigniren, und zwar mit
persönlicher Verantwortlichkeit eines Jeden für die Gegenstände seines Departements.
Durch die gedachte Kontrasignatur erhalten solche Anordnungen und Verfügungen
allgemeine Glaubwürdigkeit und Vollziehbarkeit.
§ 109
Für die wichtigeren Angelegenheiten der Gesetzgebung können
Vorstände der oberen Staatsbehörden oder sonst vorzüglich geeignete Staatsdiener durch
das einschlägige Ministerial-Departement außerordentliche Aufträge zur Vorbereitung der
Entwürfe etc. erhalten, auch von demselben zu den betreffenden Berathungen zugezogen
werden.
§ 110
[1] Die Vorstände sämmtlicher Ministerial-Departements, zu
welchen nach Ermessen des Landesherrn noch andere, besonders berufene Staatsdiener
hinzutreten, bilden das Gesammt-Staatsministerium. Dieses hat alle Staats-Angelegenheiten,
welche der landesherrlichen Entschließung bedürfen, oder in seinen Sitzungen wegen ihrer
Wichtigkeit von Seiten der Ministerial-Departements zum Vortrage gebracht werden, zu
berathen.
[2] In außerordentlichen und zugleich dringenden Angelegenheiten des auswärtigen,
sowie des Kriegs-Departements können die betreffenden Vorstände die landesherrliche
Beschlußnahme, ohne vorgängige Berathung im gesammten Staatsministerium, einholen.
§ 111
Das Gesammt-Staatsministerium hat über die Beschwerden gegen
Ministerial-Beschlüsse, und über erhobene Zweifel hinsichtlich der gegenseitigen
Kompetenz einzelner Ministerien zu entscheiden.
IX. Von der Rechtspflege
§ 112
Die Rechtspflege soll von der Landesverwaltung fernerhin auf immer getrennt
seyn.
§ 113
[1] Niemand kann an der Betretung und Verfolgung des Rechtsweges
vor den Landesgerichten gehindert werden.
[2] Die Beurtheilung, ob eine Sache zum Gerichtsverfahren sich eigne, gebühret dem
Richter nach Maaßgabe der allgemeinen Rechtsgrundsätze und solcher Gesetze, welche mit
Beistimmung der Landstände werden erlassen werden.
§ 114
[1] Niemand darf seinem gesetzlichen Richter, sey es in
bürgerlichen oder peinlichen Fällen, entzogen werden, es sey denn auf den regelmäßigen
Wegen nach den Grundsätzen des bestehenden Rechtes durch das zuständige obere Gericht.
[2] Es dürfen demnach außerordentliche Kommissionen oder Gerichtshöfe, unter
welcher Benennung es sey, nie eingeführt werden. Gegen Civil-Personen findet die
Militär-Gerichtsbarkeit nur in dem Falle, wenn der Kriegszustand erklärt ist, und zwar
nur innerhalb der gesetzlich bestimmten Grenzen, Statt.
[3] Würde die Zahl der gewöhnlichen Mitglieder des zuständigen Gerichtes für
außerordentliche und dringende Fälle (z.B. bei öffentlichen Ruhestörungen), nicht
hinreichen, um solche gehörig und mit der nöthigen Beschleunigung zu behandeln; so soll
alsdann durch das Justiz-Ministerium die erforderliche Beihülfe durch hinzutretende
Mitglieder anderer Gerichte verschafft werden.
§ 115
[1] Niemand darf anders, als in den durch die Gesetze bestimmten
Fällen und Formen, zur gerichtlichen Untersuchung gezogen, zu gefänglicher Haft
gebracht, darin zurückgehalten, oder gestraft werden.
[2] Jeder Verhaftete muß, wo möglich sofort, jedenfalls binnen den nächsten 48
Stunden, von der Ursache seiner Verhaftung in Kenntniß gesetzt und durch einen
Gerichtsbeamten verhört werden.
[3] Geschah die Verhaftung nicht von der zum weiteren Verfahren zuständigen
Gerichtsbehörde, so soll der Verhaftete ohne Verzug an diese abgeliefert werden.
§ 116
[1] Jeder Angeschuldigte soll, sofern nicht dringende Anzeigen
eines schweren peinlichen Verbrechens wider ihn vorliegen, der Regel nach gegen Stellung
einer angemessenen, durch das Gericht zu bestimmenden Kaution seiner Haft ohne Verzug
entlassen werden.
[2] Alle Urtheile über politische Preß-Vergehen sollen mit den
Entscheidungsgründen öffentlich bekannt gemacht werden, so weit nicht etwa eine
Begnadigung des Verurtheilten erfolgt, oder ein Privat-Beleidigter dagegen Widerspruch
einlegt, auch nicht ein öffentliches Aergerniß daraus entstehen würde.
§ 117
Die Haussuchung findet nur auf Verfügung des zuständigen
Gerichtes oder der Orts-Obrigkeit in den gesetzlich bestimmten Fällen und Formen Statt.
§ 118
Keinem Angeschuldigten darf das Recht der Beschwerdeführung
während der Untersuchung, das Recht der Vertheidigung, oder der verlangte Urtheilsspruch
versagt werden.
§ 119
[1] Der Verhaftete ist berechtigt, unter der geeigneten
gerichtlichen Aufsicht mündlich oder schriftlich über seine Familien-Angelegenheiten mit
seinen Angehörigen sich zu benehmen, auch während der Untersuchung aus seinen eigenen
Mitteln bessere, als die gewöhnliche Kost sich zu verschaffen.
[2] Wegen Mißbrauches oder aus sonstigen wichtigen Gründen kann diese
Berechtigung vom Gerichte untersagt werden.
§ 120
Damit eine unparteiische, tüchtige und unverzögerte Rechtshülfe
erwartet werden könne, soll die Zahl der Mitglieder der Gerichte gesetzlich bestimmt und
jedes Gericht vollständig besetzt seyn.
§ 121
Das Ober-Appellationsgericht wird nur aus wirklichen Räthen
bestehen, die Obergerichte sollen wenigstens zu zwei Dritteln aus wirklichen Räthen und
nur zu einem Drittel aus Beisitzern bestehen.
§ 122
Zur Bekleidung des Richter-Amtes wird jedenfalls ein Alter von 24
Jahren, in der höchsten Instanz aber ein Alter von wenigstens dreißig Jahren erfordert.
§ 123
[1] Die Gerichte für die bürgerliche und Straf-Rechtspflege sind
innerhalb der Grenzen ihres richterlichen Berufes in allen Instanzen unabhängig.
Dieselben entscheiden, ohne irgend eine fremde Einwirkung, nach den bestehenden Rechten
und den verfassungsmäßigen Gesetzen. Sie sollen in ihrem Verfahren, namentlich auch in
der Vollziehung ihrer Verfügungen und Urtheile - jedoch ohne Eintrag für die
Verfügungen der höheren Gerichtsbehörden, und unbeschadet des landesherrlichen
Begnadigungs-Rechtes (s. § 126) - geschützt, und soll ihnen hierzu
von allen Civil- und Militär-Behörden der gebührende Beistand geleistet werden.
[2] Das Edikt vom 26. November 1743 bleibt hinsichtlich der Bestimmungen über die
Selbstständigkeit der Rechtspflege auch ferner in Kraft, und zwar mit deren
ausdrücklicher Ausdehnung auf die Strafrechtspflege.
§ 124
Die Verhältnisse der Staats-Anwälte, als Vertreter des Staates
und der Landesherrschaft in den streitigen Rechtssachen, werden durch ein Gesetz näher
festgestellt werden.
§ 125
Gemeinden und Körperschaften bedürfen zu einer Klage gegen den
Staatsanwalt zwar nicht der Ermächtigung einer Verwaltungs-Behörde; indessen soll
derjenigen Behörde, welcher die obere Aufsicht auf die Verwaltung des Gemeinde- oder
Körperschafts-Vermögens zustehet, mit Ausnahme eiliger Fälle (z.B. wegen des jüngsten
Besitzes), sechs Wochen vor Anstellung der Klage Anzeige geschehen, um etwa einen
vorgängigen Versuch der Güte einleiten zu können.
§ 126
[1] Der Landesherr ist befugt, Strafen zu erlassen oder zu
mildern.
[2] Derselbe wird bei der Ausübung des Rechtes der Begnadigung oder Abolition
darauf Rücksicht nehmen, daß dem wirksamen Ansehen der Strafgesetze nicht zu nahe
getreten werde.
[3] Eine gerichtliche Untersuchung, welche wegen Dienstvergehungen von den
Landständen oder deren Ausschusse veranlaßt oder von der dem angeschuldigten
Staatsdiener vorgesetzten Behörde oder dem oberen Gerichte eingeleitet oder angemessen
befunden ist, wird niemals im Wege der Gnade niedergeschlagen werden.
[4] Ausgenommen von dem landesherrlichen Rechte der Begnadigung und Abolition
überhaupt sind die Fälle, welche eine Verletzung der Verfassung oder eine auf deren
Umsturz gerichtete Unternehmung betreffen.
§ 127
Ein künftig zur Entsetzung vom Amte gerichtlich verurtheilter
Staatsdiener kann, selbst nach erlangter Begnadigung, weder seine bisherige Stelle wieder
erhalten, noch in einem anderen Justiz- oder Staatsverwaltungs-Amte angestellt werden,
sofern nicht in Hinsicht auf Wiederanstellung das gerichtliche Erkenntniß einen
ausdrücklichen Vorbehalt zu Gunsten des Verurtheilten enthält.
§ 128
Die Konfiskation kann künftig nur bei einzelnen Sachen, welche
als Gegenstand oder Werkzeug einer Vergehung gedient haben, Statt finden. Eine allgemeine
Vermögens-Konfiskation tritt in keinem Falle ein.
§ 129
Moratorien dürfen nicht ertheilt werden.
§ 130
Die Rechtspflege soll auf eine der Gleichheit vor dem Rechte
entsprechende Weise zweckmäßig eingerichtet werden, und somit die Aufhebung der
privilegirten persönlichen Gerichtsstände unter den bundesgesetzlichen und anderen
geeigneten Ausnahmen erfolgen.
§ 131
Die wichtigeren Angelegenheiten der Vormundschaften und
persönlichen Kuratelen sollen künftig unter Mitwirkung von Familienräthen nach den
deshalb zu erlassenden gesetzlichen Vorschriften besorgt werden.
X. Von den Kirchen, den Unterrichts-Anstalten und den milden Stiftungen
§ 132
Alle im Staate anerkannten Kirchen genießen gleichen Schutz
desselben. Ihren verfassungsmäßigen Beschlüssen bleiben die Sachen des Glaubens und der
Liturgie überlassen.
§ 133
Die Staatsregierung übt die unveräußerlichen hoheitlichen
Rechte des Schutzes und der Oberaufsicht über die Kirchen in ihrem vollen Umfange aus.
§ 134
[1] Die unmittelbare und mittelbare Ausübung der Kirchengewalt
über die evangelischen Glaubensparteien verbleibt, wie bisher, dem Landesherren. Doch
muß bei dem Uebertritte desselben zu einer anderen, als evangelischen Kirche die alsdann
zur Beruhigung der Gewissen gereichende Beschränkung dieser Gewalt mit den Landständen
ohne Aufschub näher festgestellt werden.
[2] Ueberhaupt aber wird in liturgischen Sachen der evangelischen Kirchen keine
Neuerung ohne die Zustimmung einer Synode Statt finden, welche von der Staatsregierung
berufen wird.
§ 135
Für das besondere Verhältniß der
katholischen Kirche zu der Staatsgewalt dienen folgende Bestimmungen zur Richtschnur: |
|
a) In Ansehung des kirchlichen Zensur- und Strafrechtes, sowie des
bischöflichen Amts-Einflusses auf die Unterrichts-Anstalten bleibt das (mit dem
vormaligen bischöflichen General-Vikariat zu Fulda verabredete) Regulativ vom 31.August
1829 ferner in Kraft.
b) Die von dem Bischof und den übrigen katholischen Kirchen-Behörden ausgehenden
allgemeinen Anordnungen, Kreisschreiben und dergleichen allgemeinen Erlasse an die
Geistlichkeit und Diözesanen, welche nicht reine Glaubens- und kirchliche Lehrsachen
betreffen, oder durch welche dieselben zu Etwas verbunden werden sollen, was nicht ganz in
dem eigenthümlichen Wirkungskreise der Kirche liegt, bedürfen der Genehmigung des
Staates, und können nur mit solcher kund gemacht und in Ausführung gebracht werden.
c) Solche allgemeinen Erlasse der Kirchenbehörde, welche rein geistliche Gegenstände
betreffen, sind der einschlägigen Staatsbehörde zur Einsicht vorzulegen, und diese wird
die Bekanntmachung nicht hindern, wenn der Inhalt keinen Nachtheil dem Staate bringen
würde.
d) Von allen bischöflichen, unmittelbaren oder mittelbaren Kommunikationen mit dem
päpstlichen Stuhle, welche nicht etwa lediglich in Beziehung auf einzelne Fälle der
eigentlichen Seelsorge oder auf gewöhnliche, der römischen Kurie unstreitig zukommende
Dispensationen beabsichtigt werden möchten, noch blos in Glückwünschungs-, Danksagungs-
und anderen dergleichen Ceremonial-Schreiben bestehen, wird die Staatsregierung durch dem
landesherrlichen Bevollmächtigten bei dem Bisthume nach wie vor Einsicht nehmen lassen.
e) In allen Fällen, wo ein Mißbrauch der geistlichen Gewalt Statt findet, bleibt die
Beschwerde oder der Rekurs ebenwohl an die Landesbehörden offen, jedoch, was das
geistliche Personal in seinem Berufe angehet, erst alsdann, wenn ein bei der zuständigen
oberen Kirchenbehörde geschehener Versuch zur gebührenden Abhülfe als erfolglos
dargethan oder in so fern etwa Gefahr bei dem Verzuge seyn würde. |
§ 136
[1] Der Staat gewährt den Geistlichen jede, zur Erfüllung ihrer
Berufsgeschäfte erforderliche, gesetzliche Unterstützung, und schützt sie in dem
Genusse der Achtung und Auszeichnung, welche ihrer vom Staate anerkannten Amtswürde
gebühret.
[2] Hinsichtlich ihrer bürgerlichen Handlungen und Verhältnisse sind dieselben
der weltlichen Obrigkeit unterworfen.
§ 137
Für den öffentlichen Unterricht, sonach die Erhaltung und
Vervollkommnung der niederen und höheren Bildungs-Anstalten, und namentlich der
Landes-Universität, sowie der Landschullehrer-Seminare, ist zu allen Zeiten nach Kräften
zu sorgen.
§ 138
[1] Alle Stiftungen ohne Ausnahme, sie mögen für den Kultus, den
Unterricht oder die Wohlthätigkeit bestimmt seyn, stehen unter dem besonderen Schutze des
Staates, und das Vermögen oder Einkommen derselben darf unter keinem Vorwande zum
Staatsvermögen eingezogen oder für andere als die stiftungsmäßigen Zwecke verwendet
werden.
[2] Nur in dem Falle, wo der stiftungsmäßige Zweck nicht mehr zu erreichen
stehet, darf eine Verwendung zu anderen ähnlichen Zwecken mit Zustimmung der
Betheiligten, und, so fern öffentliche Anstalten in Betracht kommen, mit Bewilligung der
Landstände erfolgen.
XI. Von dem Staatshaushalte
§ 139
Zum Staatsvermögen gehören vornehmlich die bisher bei den
Finanz- und anderen Staatsbehörden verwalteten oder nach erfolgter Feststellung dieses
Vermögens zur Staatsverwaltung übergehenden Gebäude, Domanial-(Kammer-)Güter und
Gefälle, Forste, Jagden, Fischereien, Berg-, Hütten- und Salzwerke, auch Fabriken,
nutzbaren Regalien und Rechte, Kapitalien und sonstige Werthgegenstände, welche ihrer
Natur und Bestimmung nach als Staatsgut zu betrachten sind, oder aus Mitteln des Staates
oder zum Staatsvermögen erworben seyn werden.
§ 140
Das Staatsvermögen soll vollständig verzeichnet, und hierbei
sowie bei dessen näherer Feststellung der Inhalt derjenigen Vereinbarungen mit zum Grunde
gelegt werden, welche hinsichtlich der Sonderung des Staatsvermögens vom
Fideikommiß-Vermögen des kurfürstlichen Hauses, sowie hinsichtlich des Bedarfes für
den kurfürstlichen Hof, mit den dermal versammelten Landständen getroffen sind, und
hiermit unter den Schutz dieser Verfassung gestellt werden.
§ 141
Für den in der betreffenden Vereinbarung festgesetzten Bedarf des
kurfürstlichen Hofes an Geld und Naturalien bleiben die dazu durch dieselbe vorbehaltenen
Domänen und Gefälle auch immer bestimmt. Diese werden aber dessen ungeachtet auch ferner
durch die Staats-Finanzbehörden ganz so, wie das übrige Domanial-Vermögen verwaltet;
deren Ertrag fließet in die Staatskasse, und hinsichtlich ihrer Veräußerung finden die
Bestimmungen des folgenden Paragraphen ebenwohl Anwendung.
§ 142
[1] Das Staatsvermögen ist stets in seinen wesentlichen
Bestandtheilen zu erhalten, und kann daher ohne Einwilligung der Stände weder durch
Veräußerung vermindert, noch mit Schulden oder sonst einer bleibenden Last beschwert
werden.
[2] Unter dem Veräußerungs-Verbote aber sind diejenigen Veränderungen nicht
begriffen, welche bei einzelnen Besitzungen zur Beförderung der Landeskultur, oder sonst
zur Wohlfahrt des Staates und Entfernung wahrgenommener Nachtheile, durch Verkauf,
Austausch, Vererbleihung, Ablösung oder Umwandlung in ständige Renten, oder in Folge
eines gerichtlichen Urtheiles, nothwendig oder gut befunden werden sollten. Der Erlös und
überhaupt alles Aufkommen aus veräußerten Besitzungen dieser Art muß jederzeit wieder
zum Grundstock geschlagen, und so bald als thunlich, zur Erwerbung neuer Besitzungen, oder
auch zur Verbesserung der vorhandenen Domänen und Erhöhung ihres Ertrages verwendet
werden, worüber demnächst den Landständen oder deren Ausschusse eine genaue Nachweisung
geschiehet.
[3] Auch die künftig heimfallenden Lehen werden zum Staatsgute gehören.
Gleichwohl bleibt der Regent berechtiget, die während der Dauer seiner Regierung
heimgefallenen Lehen an Glieder des kurfürstlichen Hauses oder der hessischen (ehemals
reichsunmittelbaren, althessischen und schaumburgischen) Ritterschaft, oder zur Belohnung
von kundbar ausgezeichneten Verdiensten um den Staat, wieder zu verleihen.
§ 143
Die Stände haben für die Aufbringung des ordentlichen und
außerordentlichen Staatsbedarfes, soweit die übrigen Hülfsmittel zu dessen Deckung
nicht hinreichen, durch Verwilligung von Abgaben zu sorgen. Ohne landständische
Bewilligung kann vom Jahre 1831 an weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten eine direkte
oder indirekte Steuer, so wenig, als irgend eine sonstige Landes-Abgabe, sie habe Namen,
welchen sie wolle, ausgeschrieben oder erhoben werden, vorbehaltlich der Einziehung aller
Steuern und anderer Landes-Einkünfte von den Vorjahren, auch unbeschadet der in § 160 enthaltenen vorläufigen Bestimmung.
§ 144
[1] Die Verwilligung des ordentlichen Staatsbedarfes erfolgt in
der Regel für die nächsten drei Jahre. Es ist zu diesem Zwecke der Ständeversammlung
der Voranschlag, welcher die Einnahmen und Ausgaben für diese Jahre mit thunlichster
Vollständigkeit und Genauigkeit enthalten muß, zeitig vorzulegen. Zugleich muß die
Nothwendigkeit oder Nützlichkeit der zu machenden Ausgaben nachgewiesen, das Bedürfniß
der vorgeschlagenen Abgaben, unter welcher Benennung solche irgend vorkommen mögen,
gezeigt, auch von den betreffenden Behörden diejenige Auskunft und Nachweisung aus den
Belegen, Akten, Büchern und Literalien gegeben werden, welche die Stände in dieser
Beziehung zu begehren sich veranlaßt sehen könnten.
[2] Ueber die Verwendung des dem Kurfürstlichen Hofe aus den Domanial-Einkünften
zukommenden Betrages (s. § 141) findet jedoch keinerlei Nachweisung
Statt.
§ 145
Ueber die möglich beste Art der Aufbringung und Vertheilung der,
für den ermittelten Staatsbedarf neben den übrigen Einnahmequellen noch erforderlichen
Abgabenbeträge haben die Landstände, nach vorgängiger Prüfung der deshalb von der
Staatsregierung geschehenen oder nach Befinden weiter zu begehrenden Vorschläge, die
geeigneten Beschlüsse zu nehmen.
§ 146
In den Ausschreiben und Verordnungen, welche Steuern und andere
Abgaben betreffen, soll die landständische Verwilligung besonders erwähnt seyn, ohne
welche weder die Erheber zur Einforderung berechtigt, noch die Pflichtigen zur Entrichtung
schuldig sind.
§ 147
[1] Die Auflagen für den ordentlichen Staatsbedarf, insofern sie
nicht ausdrücklich blos für einen vorübergehenden und bereits erreichten Zweck bestimmt
waren, dürfen nach Ablauf der Verwilligungszeit noch sechs Monate forterhoben werden,
wenn etwa die Zusammenkunft der Landstände durch außerordentliche Ereignisse gehindert
oder die Ständeversammlung aufgelöset ist, ehe ein neues Finanzgesetz zu Stande kommt,
oder wenn die in dieser Hinsicht nöthige Beschlußnahme der Landstände sich verzögert.
[2] Diese sechs Monate werden jedoch in die neue Finanz-Periode eingerechnet.
§ 148
Für diejenigen Grundstücke, welche früherhin als exemte Güter
oder sonst wegen ihrer besondern Verhältnisse mit keiner, oder mit einer geringern, als
der gewöhnlichen Grundsteuer belegt waren, werden die gesetzlichen Vorschriften wegen der
bisherigen Exemtensteuer, und beziehungsweise der für die Erbleihe- und dergleichen
besonders belasteten Güter bisher gesetzliche Zustand, so lange beibehalten, bis die,
nach Möglichkeit zu beschleunigende, gleichmäßige Besteuerung, unter Zusicherung einer
angemessenen Entschädigung für die bisherigen rechtmäßigen Steuer-Freiheiten und
Vorzüge, gesetzlich eingeführt seyn wird.
§ 149
Die Güter der Kirchen und Pfarreien, der öffentlichen
Unterrichts-Anstalten und der milden Stiftungen bleiben, so lange sie sich in deren
Eigenthume befinden, von Steuern befreit. Diese Steuerfreiheit erstreckt sich jedoch nicht
auf diejenigen Grundstücke, welche bisher schon steuerpflichtig waren, oder nach der
Verkündigung dieser Verfassung von ihnen erworben werden.
§ 150
Die Grundstücke, welche von der Landesherrschaft zu eigenem
Gebrauche oder von Gliedern des Kurhauses erworben sind oder werden, bleiben in ihrer
bisherigen Steuerverbindlichkeit.
§ 151
Die gesetzlich in Rücksicht ihres dermaligen Besitzers
steuerfreien Grundstücke verlieren diese Eigenschaft, sobald sie in Privat-Eigenthum
übergehen.
§ 152
Bei der im § 144 erwähnten Vorlegung des
Voranschlages für die nächsten drei Jahre muß zugleich die Verwendung des
Staats-Einkommens zu den bestimmten Zwecken für die seit Anfang des Jahres 1831
verflossenen einzelnen Rechnungsjahre, soweit sie noch nicht ihre volle Erledigung bei dem
Landtage erhalten haben, nachgewiesen werden.
XII. Allgemeine Bestimmungen
§ 153
Zur Annahme einer in Vorschlag gebrachten Abänderung oder
Erläuterung der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde ist entweder völlige
Stimmen-Einhelligkeit der auf dem Landtage anwesenden ständischen Mitglieder, oder eine,
auf zwei nach einander folgenden Landtagen sich aussprechende Stimmenmehrheit von drei
Vierteln derselben erforderlich.
§ 154
[1] Sollten dereinst etwa zwischen der Staatsregierung und den
Landständen über den Sinn einzelner Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde oder der für
Bestandtheile derselben erklärten Gesetze Zweifel sich erheben, und würde wider
Verhoffen eine Verständigung darüber nicht erfolgen, so muß der zweifelhafte Punkt bei
einem Kompromiß-Gerichte zur Entscheidung gebracht werden. Dieses wird zusammengesetzt
aus sechs unbescholtenen, die Rechte und der Verfassung kundigen, wenigstens dreißig
Jahre alten Inländern, von welchen drei durch die Regierung und drei durch die Stände zu
wählen sind. Niemand darf die auf ihn gefallene Wahl ohne hinreichende
Entschuldigungsgründe, welche die wählende Partei zu beurtheilen hat, ausschlagen.
[2] Das Kompromiß-Gericht wählt sodann aus seiner Mitte durch das Loos einen
Vorsitzenden mit entscheidender Stimme im Falle der Stimmen-Gleichheit.
§ 155
Alle gesetzliche Bestimmungen und andere Anordnungen jeder Art,
welche mit dem Inhalte der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde und der für Bestandtheile
derselben erklärten Gesetze im Widerspruche stehen, sind hierdurch aufgehoben.
§ 156
[1] Diese Verfassungs-Urkunde tritt in ihrem ganzen Umfange sofort
nach ihrer Verkündigung in Kraft und Wirksamkeit, und muß ohne Verzug von allen
Staatsdienern des geistlichen und weltlichen, sowohl des Militär- und Civil-Standes,
sowie von allen Unterthanen männlichen Geschlechts, welche das achtzehnte Jahr erreicht
haben, beschworen werden.
[2] Die obersten Staatsbeamten stellen über die von ihnen geschehene eidliche
Angelobung noch einen besonderen Revers aus, welcher im landständischen Archiv
niederzulegen ist.
§ 157
Eine gleichlautende Ausfertigung gegenwärtiger
Verfassungs-Urkunde wird der hohen deutschen Bundesversammlung mit dem Ersuchen um
Uebernahme der bundesgesetzlichen Garantie überreicht werden.
[Es folgt der XIII. Abschnitt mit den §§ 158 bis 160, welche jedoch
nur vorübergehende Bestimmungen enthalten.]
Es ist Unser unabänderlicher Wille, daß die vorstehenden Bestimmungen, welche Wir
stets aufrecht erhalten werden, als bleibende Grundverfassung Unserer Lande auch von jedem
Nachfolger in der Regierung zu allen Zeiten treu und unverbrüchlich beachtet, und
überhaupt wider Eingriffe und Verletzungen jeder Art geschützt werden.
Gegeben zu Wilhelmshöhe am 5. Januar 1831.
Wilhelm
Rr. v. Meysenbug
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