Verfassungs-Urkunde für das Großherzogtum Hessen
vom 17. Dezember 1820
Ludwig von Gottes Gnaden Großherzog von Hessen und bei Rhein etc. etc.
Nachdem Wir die, in Gemäßheit des Art. 21 Unsers Edicts vom 18. März d.J. über die
landständische Verfassung geäußerten Wünsche Unserer getreuen Stände über die
constitutionellen Bestimmungen vernommen und in Beziehung auf die selben Unsere
Entschließungen gefaßt haben; so finden Wir Uns nunmehr bewogen, diese Entschließungen
und die durch dieselben nicht abgeänderten verfassungsmäßigen Bestimmungen Unsers
Edicts vom 18. März d.J. über die landständische Verfassung, so wie auch aus dem
Wahlgesetze, der Geschäftsordnung, dem Edicte über das Staatsbürgerrecht und dem Edicte
über den Staatsdienst in eine Urkunde zusammenzufassen und Wir verordnen daher Folgendes,
als
Die Verfassung des Großherzogthums
I. Von dem Großherzogthum und dessen Regierung
im Allgemeinen
Artikel 1. Das Großherzogthum bildet einen
Bestandtheil des deutschen Bundes.
Artikel 2. Die Beschlüsse der Bundesversammlung, welche die
verfassungsmäßigen Verhältnisse Deutschlands, oder die Verhältnisse deutscher
Staatsbürger im Allgemeinen betreffen, bilden einen Theil des Hessischen Staatsrechts und
haben, wenn sie von dem Großherzoge verkündet worden sind, in dem Großherzogthume
verbindende Kraft.
Hierdurch wird jedoch die Mitwirkung der Stände in Ansehung der Mittel zur
Erfüllung der Bundes-Verbindlichkeiten, in so weit dieselbe verfasungsmäßig
begründet ist, nicht ausgeschlossen.
Artikel 3. Das Großzogthum bildet, in der Gesammt-Vereinigung der
älteren und neueren Gebietstheile, ein zu einer und derselben Verfassung verbundenes
Ganzes.
Artikel 4. Der Großherzog ist das Oberhaupt des Staates, vereinigt
in Sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie, unter den von Ihm gegebenen, in dieser
Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus.
Seine Person ist heilig und unverletzlich.
Artikel 5. Die Regierung ist in dem Großherzoglichen Hause erblich
nach Erstgeburt und Linealfolge, vermöge Abstammung aus ebenbürtiger, mit Bewilligung des Großherzogs geschlossener Ehe.
In Ermangelung eines durch Verwandtschaft, oder Erbverbrüderung zur Nachfolge
berechtigten Prinzen geht die Regierung auf das weibliche Geschlecht über. Hierbei
entscheidet die Nähe der Verwandtschaft mit dem letzten Großherzoge, bei gleicher Nähe
das Alter.
Nach dem Uebergange gilt wieder der Vorzug des Mannesstammes.
Die diesen Grundsätzen gemäßen näheren Bestimmungen, so wie die Bestimmungen
über die Regentschaft während der Minderjährigkeit, oder anderer Verhinderung des
Großherzogs, werden durch das Hausgesetz festgesetzt, welches in so ferne einen
Bestandtheil der Verfassung bildet.
II. Von den Domänen
Artikel 6. Ein Drittheil der sämmtlichen Domänen,
nach dem Durchschnitts-Ertrag der reinen Einkünfte berechnet, wird, nach der Auswahl des
Großherzogs, an den Staat abgegeben, um, mittelst allmäligen Verkaufs, zur
Schuldentilgung verwendet zu werden.
Artikel 7. Die übrigen zwei Drittheile bilden das schuldenfreie
unveräußerliche Familien-Eigenthum des Großherzoglichen Hauses.
Die Einkünfte dieses Familienguts, worüber eine besondere Berechnung geführt
wird, sollen jedoch in dem Budget aufgeführt und zu den Staatsausgaben verwendet werden,
die zu den Bedürfnissen des Großherzoglichen Hauses und Hofes erforderlichen Summen sind
aber darauf vorzugsweise radicirt und, ohne ständische Einwilligung, soll auch von diesem
Familiengute nichts verhypothecirt werden.
Artikel 8. Bei künftigen Erwerbungen wird, nach den Rechtstiteln
des Erwerbs, festgesetzt werden, ob sie zu dem Staats- oder dem Familien-Vermögen
gehören.
Artikel 9. Das Veräußerungs-Verbot des Art. 7
bezieht sich nicht auf die Staats- und Regierungshandlungen mit auswärtigen Staaten.
Auch sind darunter der Verkauf entbehrlicher Gebäude, der in andern Staaten
gelegenen Güter und Einkünfte, die Vergleiche zu Beendigung von Rechtsstreitigkeiten,
die bloßen Austauschungen und die Ablösung des Lehns- und Erbleih-Verbands, der
Grundzinsen und der Dienste nicht begriffen.
In allen diesen Fällen wird aber den Ständen eine Berechnung über den Erlöß
und dessen Wiederverwendung zum Grundstocke vorgelegt werden.
Artikel 10. Eben dieses gilt auch von den zum Staats-Vermögen
gehörenden Domänen, wenn, nach Abzahlung der Schulden, der Erlöß aus den
Veräußerungen nicht mehr zur Schuldentilgungs-Kasse abzuliefern ist.
Artikel 11. Dem Großherzoge steht das Recht zu, heimgefallene
Lehen wieder zu verleihen.
III. Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der
Hessen
Artikel 12. Der Genuß aller bürgerlichen Rechte
in dem Großherzogthume, sowohl der Privatrechte, als der öffentlichen (oder des
Staatsbürgerrechts) steht nur den Inländern zu.
Artikel 13. Das Recht eines Inländers (Indigenat) wird erworben:
1. durch die Geburt für denjenigen, dessen Vater oder Mutter damals Inländer waren;
2. durch Verheirathung einer Ausländerin mit einem Inländer;
3. durch Verleihung eines Staatsamts;
4. durch besondere Aufnahme.
Artikel 14. Staatsbürger sind diejenigen volljährigen Inländer
männlichen Geschlechts, welche in keinem fremden persönlichen Unterthans-Verband stehen
und wenigstens drey Jahre in dem Großherzogthume wohnen.
Die in dem Besitze einer oder mehrerer Standesherrschaften sich befindenden
Häupter der jetzigen standesherrlichen Familien haben jedoch das Staatsbürgerrecht
ungeachtet eines fremden persönlichen Unterthans-Verbands.
Artikel 15. Nicht christliche Glaubensgenossen haben das
Staatsbürgerrecht alsdann, wenn es ihnen das Gesetz verliehen hat, oder wenn es
Einzelnen entweder ausdrücklich, oder, durch Uebertragung
eines Staatsamts, stillschweigend verliehen wird.
Artikel 16. Jede rechtskräftige Verurtheilung zu einer peinlichen
Strafe ziehet den Verlust des Staatsbürgerrechts nach sich. Seine Ausübung wird
gehindert:
1. durch Versetzung in den peinlichen Anklagestand, oder Verhängung der
Special-Inquisition;
2. durch das Entstehen eines gerichtlichen Concurs-Verfahrens über das Vermögen bis zur
vollständigen Befriedigung der Gläubiger;
3. während der Dauer einer Curatel und
4. für diejenigen, welche für die Bedienung der Person oder der Haushaltung eines Andern
Kost oder Lohn empfangen, während der Dauer dieses Verhältnisses.
Artikel 17. Das Recht des Inländers geht verloren:
1. durch Auswanderung;
2. durch Verheurathung an einen Ausländer. Die Wittwe erhält jedoch die Rechte einer
Inländerin wieder, wenn sie entweder im Großherzogthume geblieben ist, oder dahin, mit
Erlaubniß der Staatsregierung und unter der Erklärung, sich darin niederlassen zu
wollen, zurückkehrt.
Artikel 18. Alle Hessen sind vor dem Gesetz gleich.
Artikel 19. Die Geburt gewährt Keinem eine vorzügliche
Berechtigung zu irgend einem Staats-Amte.
Artikel 20. Die Verschiedenheit der in dem Großherzogthume
anerkannten christlichen Confessionen hat keine Verschiedenheit in den politischen oder
bürgerlichen Rechten zur Folge.
Artikel 21. Den anerkannten christlichen Confessionen ist freye und
öffentliche Ausübung ihres Religions-Cultus gestattet.
Artikel 22. Jedem Einwohner des Großherzogthums wird der Genuß
vollkommener Gewissensfreiheit zugesichert. Der Vorwand der Gewissensfreiheit darf jedoch
nie ein Mittel werden, um sich irgend einer, nach den Gesetzen obliegenden Verbindlichkeit
zu entziehen.
Artikel 23. Die Freyheit der Person und des Eigenthums ist in dem
Großherzogthume keiner Beschränkung unterworfen, als welche Recht und Gesetz bestimmen.
Artikel 24. Jedem Hessen stehet das Recht der freyen Auswanderung,
nach den Bestimmungen des Gesetzes, zu.
Artikel 25. Die Leibeigenschaft bleibt, nach den deßfalls
bestehenden Gesetzen, für immer aufgehoben.
Artikel 26. Ungemessene Frohnden können nie Statt finden und die
gemessenen sind abzulösen.
Artikel 27. Das Eigenthum kann für öffentliche Zwecke nur gegen
vorgängige Entschädigung, nach dem Gesetze, in Anspruch genommen werden.
Artikel 28. In außerordentlichen Nothfällen ist jeder Hesse zur
Vertheidigung des Vaterlands verpflichtet und kann für diesen Zweck zu den Waffen gerufen
werden.
Artikel 29. Jeder Hesse, für welchen keine verfassungsmäßige
Ausnahme bestehet, ist verpflichtet, an der ordentlichen Kriegs-Dienstpflicht Antheil zu
nehmen. Bei dem Aufrufe zur Erfüllung dieser Verbindlichkeit entscheidet unter den gleich
Verpflichteten das Loos, mit Gestattung der Stellvertretung.
Artikel 30. Alle Hessen sind zu gleichen staatsbürgerlichen
Verbindlichkeiten und zu gleicher Theilnahme an den Staatslasten verpflichtet, in so ferne
sie nicht eine verfassungsmäßige Ausnahme für sich in Anspruch zu nehmen haben.
Artikel 31. Niemand soll seinem gesetzlichen Richter entzogen
werden.
Artikel 32. Das Materielle der Justiz-Ertheilung und das
gerichtliche Verfahren, innerhalb der Gränzen seiner gesetzlichen Form und Wirksamkeit,
sind von dem Einflusse der Regierung unabhängig.
Artikel 33. Kein Hesse darf anders, als in den durch das Recht und
die Gesetze bestimmten Fällen und Formen, verhaftet oder bestraft werden.
Keiner darf länger, als 18 Stunden, über den Grund seiner Verhaftung in
Ungewißheit gelassen werden und dem ordentlichen Richter soll, wenn die Verhaftung von
einer anderen Behörde geschehen ist, in möglichst kurzer Frist von dieser Verhaftung die
erforderliche Nachricht gegeben werden.
Artikel 34. Die Richter können nur durch gerichtliches Erkenntniß
entsetzt, sie können auch nicht wider ihren Willen entlassen und nur dergestalt versetzt
werden, daß sie in derselben Dienst-Kategorie verbleiben und weder im Gehalte, noch in
dem Dienstgrade zurückgesetzt werden.
Die Directoren der Justiz-Collegien bleiben jedoch den allgemeinen Bestimmungen der
Dienst-Pragmatik unterworfen.
Artikel 35. Die Presse und der Buchhandel sind in dem
Großherzogthume frey, jedoch unter Befolgung der gegen den Mißbrauch bestehenden, oder
künftig erfolgenden Gesetze.
Artikel 36. Jedem steht die Wahl seines Berufes und Gewerbs, nach
eigener Neigung frey. Unter Beobachtung der hinsichtlich der Vorbereitung zum
Staatsdienste bestehenden Gesetze, ist es jedem überlassen, sich für seine Bestimmung,
im Inlande, oder Auslande, auszubilden.
IV. Von den besonderen Rechten des Adels
Artikel 37. Die Rechtsverhältnisse der
Standesherren werden durch das darüber erlassene Edict vom 17. Februar 1820 bestimmt,
welches einen Bestandtheil der Verfassung bildet.
Artikel 38. Die besonderen Rechtsverhältnisse des Adels genießen
den Schutz der Verfassung.
V. Von den Kirchen, den Unterrichts- und
Wohlthätigkeits-Anstalten
Artikel 39. Die innere Kirchen-Verfassung genießt
auch den Schutz der politischen.
Artikel 40. Verordnungen der Kirchengewalt können, ohne
vorgängige Einsicht und Genehmigung des Großherzogs, weder verkündet noch vollzogen
werden.
Artikel 41. Die Geistlichen sind in ihren bürgerlichen
Verhältnissen und bei strafbaren Handlungen, welche nicht bloße Dienstvergehen sind, der
weltlichen Obrigkeit unterworfen.
Artikel 42. Die Beschwerden über Mißbrauch der kirchlichen Gewalt
können jederzeit bei der Regierung angebracht werden.
Artikel 43. Das Kirchengut, das Vermögen der vom Staate
anerkannten Stiftungen, Wohlthätigkeits-, so wie der höheren und niederen
Unterrichts-Anstalten genießen des besonderen Schutzes des
Staates und können unter keiner Voraussetzung dem
Finanz-Vermögen einverleibt werden.
Artikel 44. Die Fonds der milden Stiftungen zur Beförderung der
Gottesverehrung, des Unterrichts und der Wohlthätigkeit können nur mit ständischer
Einwilligung zu einem fremdartigen Zwecke verwendet werden.
VI. Von den Gemeinden
Artikel 45. Die Angelegenheiten der Gemeinden
sollen durch Gesetz geordnet werden, welches als Grundlage die eigene, selbstständige
Verwaltung des Vermögens durch von der Gemeinde Gewählte, unter der Oberaufsicht des
Staats, aussprechen wird. Die Grundbestimmungen dieses Gesetzes werden einen Bestandtheil
der Verfassung bilden.
Artikel 46. Das Vermögen der Gemeinden kann, unter keiner
Voraussetzung, dem Finanz-Vermögen einverleibt werden.
VII. Von dem Staats-Dienste
Artikel 47. Niemand kann ein Staatsamt erhalten,
ohne seine Fähigkeit dazu, durch ordnungsgemäße Prüfung, bewiesen zu haben.
Bei solchen, welche im Auslande bereits Staatsämter bekleidet und dadurch ihre
Fähigkeit bewährt haben, leidet diese Regel eine Ausnahme.
Artikel 48. Anwartschaften auf Staatsämter finden nicht Statt.
Artikel 49. Die gesetzlichen Bestimmungen über die Pensionirung
der Staatsdiener und die Rechte derselben aus den bestehenden Instituten der Wittwen- und
Waisen-Kassen stehen unter dem Schutz der Verfassung.
Denselben Schutz genießen insbesondere auch die durch die Dienst-Pragmatik
bestimmten Rechte der Militärpersonen auf die gesetzlichen Pensionen.
Artikel 50. Untersuchungen gegen Staatsdiener wegen
Dienstverbrechen können nicht niedergeschlagen und Staatsdiener, welche des Dienstes
dergestalt entsetzt worden sind, daß das Urtheil ihre Unfähigkeit, im Staatsdienste
wieder angestellt zu werden, ausdrücklich ausgesprochen hat, nie im Staatsdienste wieder
angestellt werden.
VIII. Von den Landständen
Artikel 51. Die Stände des Großherzogthums
bilden zwey Kammern.
Artikel 52. Die erste Kammer wird gebildet:
1. aus den Prinzen des Großherzoglichen Hauses;
2. aus den Häuptern standesherrlicher Familien, welche sich in dem Besitze einer oder
mehrerer Standesherrschaften befinden, nach dem § 16 des Edictes über die
standesherrlichen Verhältnisse;
3. aus dem Senior der Familie der Freyherrn von Riedesel;
4. aus dem katholischen Landesbischof. Im Falle der Erledigung des Stuhls wird der
Großherzog einem ausgezeichneten katholischen Geistlichen den Auftrag ertheilen, an der
Stelle des Bischofs bei dem Landtage zu erscheinen;
5. aus einem protestantischen Geistlichen, welchen der Großherzog dazu auf Lebenszeit,
mit der Würde eines Prälaten, ernennen wird;
6. aus dem Kanzler der Landes-Universität, oder dessen Stellvertreter;
7. aus denjenigen ausgezeichneten Staatsbürgern, welche der Großherzog auf Lebenszeit
dazu berufen wird. Die Ernennungen sollen nicht über die Zahl von zehn Mitgliedern
ausgedehnt werden.
Artikel 53. Die zweyte Kammer wird gebildet:
1. aus sechs Abgeordneten, welche der in dem Großherzogthum genügend mit Grundeigenthum
angesessene Adel aus seine Mitte wählt;
2. aus zehn Abgeordneten derjenigen Städte, welchen, um die Interessen des Handels, oder
alte achtbare Erinnerungen zu ehren, ein besonderes Wahlrecht zustehet.
Diese Städte sind:
a) die Residenzstadt Darmstadt,
b) die Stadt Mainz, von welchen je 2 Abgeordnete zu wählen hat,
c) die Stadt Gießen,
d) die Stadt Offenbach,
e) die Stadt Friedberg,
f) die Stadt Alsfeld,
g) die Stadt Worms,
h) die Stadt Bingen, von welchen jede einen Abgeordneten wählt;
3. aus 34 Abgeordneten, welche nach Wahldistricten gebildet, von den nicht mit einem
besonderen Wahlrechte begabten Städten und den Landgemeinden gewählt werden.
Die Art und Weise, wie die durch diese Artikel bestimmten Wahlrechte ausgeübt
werden, setzt das Wahlgesetz fest.
Artikel 54. Die gebornen Mitglieder der ersten Kammer können von
ihrem Rechte nur dann Gebrauch machen, wenn sie das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben und
ihnen in Hinsicht auf die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte kein Hinderniß
entgegensteht.
Artikel 55. Die Abgeordneten der zweyten Kammer müssen
Staatsbürger seyn, welche das 30. Jahr zurückgelegt haben und ein zur Sicherung einer
unabhängigen Existenz genügendes Einkommen besitzen.
Als ein solches wird für die Wahlen des Adels
betrachtet, wenn der zu wählende adliche Grundeigenthümer 300 fl. directe Steuern für
eigenthümliches, oder nutznießliches Vermögen jährlich entrichtet.
Für die übrigen Wahlen wird erfordert, daß der
zu wählende 100 fl. directe Steuern jährlich entrichte, oder als Staatsdiener einen
ständigen jährlichen Gehalt von wenigstens 1 000 fl. beziehe.
Wenn jedoch in einem Wahl-Bezirke keine 25 Wählbare, welche 100 fl. directe
Steuern entrichten, vorhanden seyn sollten, so soll die Zahl 25 durch die zunächst
höchst besteuerten in diesem Bezirke, mit Wählbarkeit für das ganze Land, ergänzt
werden.
Artikel 56. An den Wahlen des Adels nehmen alle adliche
Grundeigenthümer, welche 300 fl. directe Steuern entrichten, und das 30. Lebensjahr
zurückgelegt haben, Theil.
Mitglieder der ersten Kammer können daran nicht als Wähler Antheil nehmen.
Artikel 57. Die Ernennung der Abgeordneten der Städte und der
Wahldistricte geschieht durch drey Wahlen.
Die erste Wahl bestimmt die Bevollmächtigten. Von dieser werden die Wahlmänner
und von den letzten die Abgeordneten gewählt.
Zu Wahlmännern wählbar sind die 60 Höchstbesteuerten in dem Districte wohnenden
Staatsbürger, welche wenigstens 30 Jahre alt sind.
Die Anzahl der für jeden District und für jede Stadt, sie möge einen oder zwey
Abgeordneten zu ernennen haben, zu wählenden Wahlmänner wird auf 25 festgesetzt.
An keinen der in diesem Artikel bestimmten Wahlen kann ein Mitglied der ersten
Kammer, oder ein bei den Wahlen des Adels Stimmfähiger, oder Wählbarer Antheil nehmen.
Artikel 58. Ein Mitglied der ersten Kammer kann nicht zur zweyten
gewählt werden.
Artikel 59. Alle Wahlen der Abgeordneten geschehen auf 6
Jahre. Es ist aber nicht verboten, nach dem Ablaufe dieser Zeitperiode, den Gewählten
wieder auf 6 Jahre zu wählen.
Während dieser Zeit findet eine neue Wahl von Abgeordneten für den Rest der 6
Jahre nur dann Statt:
1. wenn ein Abgeordneter stirbt, oder unfähig wird;
2. wenn ein Gewählter die Wahl ablehnt. Dieses kann er aber nur wegen ärztlich
bescheinigter Krankheit, oder wenn häusliche Verhältnisse, nach dem Zeugnisse der
vorgesetzten Behörde, die persönliche Gegenwart des Gewählten zu Hause wesentlich
erfordern. Auch die Staatsdiener sind an diese Regel gebunden, wenn ihnen nicht der Urlaub
versagt wird.
Veränderungen in der Steuerquote, oder dem Dienstverhältnisse während der Dauer
eines Landtags machen für diesen Landtag nicht unfähig, den Fall der Entsetzung vom
Dienste, oder der Suspension vom Dienste und Gehalte, oder des Verlusts oder der
Suspension des Staatsbürgerrechts ausgenommen.
Artikel 60. Wer als Mitglied der einen oder der andern Kammer auf
Landtagen erscheinen will, darf nie wegen Verbrechen, oder Vergehen, die nicht blos zur
niederen Polizei gehören, vor Gericht gestanden haben, ohne gänzlich freygesprochen
worden zu seyn.
Artikel 61. Weder in der ersten noch in der zweyten
Kammer darf man sein Stimmrecht durch einen Stellvertreter ausüben lassen, oder für
seine Stimme Instructionen annehmen.
In dem Falle jedoch, wenn ein Standesherr durch Minderjährigkeit oder Curatel
abgehalten wird, tritt ein Agnat, welcher die Vormundschaft oder Curatel führt,
an dessen Stelle, vorausgesetzt, daß derselbe in jeder Hinsicht als gehörig qualificirt
erscheint. Auch soll ein Standesherr in solchen Fällen, wo er durch Gründe, welche
auch in der zweyten Kammer entschuldigen, verhindert wäre, wenn die erste Kammer diese
Gründe für zulänglich erkennt, das Recht haben, sich durch den nächsten
Agnaten, wenn dieser gehörig qualificirt ist, für diesen Landtag vertreten lassen.
Dieses Recht steht, unter denselben Bedingungen, auch dem Senior der Familie der
Freyherrn von Riedesel zu.
Nie darf aber ein solcher Stellvertreter nach Instructionen handeln, und nie, eben
so wenig wie ein aus eigenem Recht Berechtigter, mehrere Stimmen führen.
Artikel 62. In den beiden Kammern haben die Mitglieder des Geheimen
Staats-Ministeriums und die ernannten Landtags-Kommissarien freien Zutritt ohne
Stimmrecht.
Artikel 63. Der Großherzog allein hat das Recht, die Stände zu
berufen und die ständische Versammlung zu vertragen, aufzulösen und zu schließen.
Eine willkührliche Vereinigung der Stände ohne Einberufung, oder nach dem
Schlusse, der Vertagung, oder Auflösung ist gesetzwidrig und strafbar.
Artikel 64. Der Großherzog wird die Stände wenigstens alle drey
Jahre versammeln. Im Falle einer Auflösung wird Er binnen 6 Monaten eine neue
Ständeversammlung berufen.
Artikel 65. In dem Falle einer Auflösung erlöschen alle Rechte
aus den bisherigen Wahlen, und es müssen für die neu einberufene ständische Versammlung
neue Wahlen Statt finden. Bei diesen Wahlen sind jedoch auch die früher Gewählten
wählbar.
Artikel 66. Die Stände sind nur befugt, sich mit denjenigen
Gegenständen zu beschäftigen, welche die nachfolgenden Artikel zu ihrem Wirkungskreise
verweisen.
Die Ueberschreitung dieser Befugniß ist eben so zu betrachten, wie eine
willkührliche Vereinigung.
Artikel 67. Ohne Zustimmung der Stände kann keine directe oder
indirecte Auflage ausgeschrieben oder erhoben werden.
Das Finanzgesetz, welches immer auf drey Jahre gegeben wird, soll zuerst der
zweyten Kammer vorgelegt werden, welche darüber, nach einer vorherigen vertraulichen
Besprechung mit der ersten Kammer durch die Ausschüsse, ihre Beschlüsse zu fassen hat.
Die Beschlüsse der zweyten Kammer kann die erste nur im Ganzen annehmen oder verwerfen.
Geschieht das Letztere, so wird das Finanzgesetz in einer Versammlung der
vereinigten beiden Kammern, unter dem Vorsitz des Präsidenten der ersten, discutirt und
der Beschluß nach absoluter Stimmenmehrheit gefaßt.
Artikel 68. Die Bewilligungen dürfen von keiner Kammer an die
Bedingung der Erfüllung bestimmter Desiderien geknüpft werden.
Beide Kammern sind jedoch befugt, nicht nur eine vollständige Uebersicht und
Nachweisung der Staatsbedürfnisse, sondern auch eine genügende Auskunft über die
Verwendung früher verwilligter Summen zu begehren.
Artikel 69. Die Auflagen, insoferne sie nicht blos für einen
vorübergehenden und bereits erreichten Zweck bestimmt waren, dürfen, nach Ablauf der
Verwilligungszeit, noch sechs Monate forterhoben werden, wenn die Ständeversammlung
aufgelößt wird, ehe ein neues Finanzgesetz zu Stande kommt, oder wenn die ständischen
Berathungen sich verzögern.
Diese sechs Monate werden jedoch in die neue Finanz-Periode eingerechnet.
Artikel 70. Die Civilliste kann während der Dauer der Regierung
eines Großherzogs weder, ohne Seine Bewilligung, gemindert, noch, ohne Zustimmung der
Stände, erhöhet werden.
Artikel 71. In außerordentlichen Fällen, wo drohend äußere
Gefahren die Aufnahme von Capitalien dringend erfordern, die Einberufung der Stände aber,
oder eine vorläufige Berathung mit denselben durch äußere Verhältnisse unmöglich
gemacht wird, kann die Staatsregierung die erforderlichen Summen lehnbar aufnehmen,
vorbehältlich der Nachweisung ihrer Verwendung und der Verantwortlichkeit der obersten
Staatsbehörde.
Artikel 72. Ohne Zustimmung der Stände kann kein Gesetz, auch in
Bezug auf das Landes-Polizey-Wesen gegeben, aufgehoben oder abgeändert werden.
Wenn bei bestehenden Gesetzen die doctrinelle Auslegung nicht hinreicht, so tritt
nicht authentische Auslegung, sondern die Nothwendigkeit einer neuen Bestimmung, durch
einen Act der Gesetzgebung ein.
Artikel 73. Der Großherzog ist befugt, ohne ständische
Mitwirkung, die zur Vollstreckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen, so wie die
aus dem Aufsichts- und Verwaltungsrecht ausfließenden Verordnungen und Anstalten zu
treffen, und in dringenden Fällen das Nöthige zur Sicherheit des Staats vorzukehren.
Artikel 74. Dem Großherzoge steht die ausschließende Verfügung
über das Militär, die Formation desselben, die Disciplinar-Gewalt und das Recht, alle
den Kriegsdienst betreffenden Verordnungen zu erlassen, ohne ständische Mitwirkung zu.
Der erlassene und von dem Großherzoge hinsichtlich der Offiziere noch zu
erlassende Militär-Straf-Codex soll jedoch, in so ferne er sich nicht auf die
bezeichneten Gegenstände bezieht, ohne ständische Mitwirkung künftig keine Abänderung
erleiden.
Artikel 75. Wenn auch nur eine Kammer gegen einen Gesetzesvorschlag
stimmt, so bleibt das Gesetz ausgesetzt.
Wird aber ein solches Gesetz auf dem nächsten Landtage von der Regierung den
Ständen wieder vorgelegt und wieder von der einen Kammer abgelehnt, von der andern aber
angenommen, so werden, wenn die Regierung es nicht vorzieht, den Vorschlag
zurückzunehmen, die Stimmen für und wider die Annahme in beiden Kammern
zusammengezählt, und es wird, nach der sich ergebenden Stimmenmehrheit, für oder gegen
die Annahme entschieden.
Artikel 76. Gesetzes-Entwürfe können nur von dem Großherzoge an
die Stände, nicht aber von den Ständen an den Großherzog gebracht werden. Die Stände
können aber, im Wege der Petition, auf neue Gesetze, so wie auf Abänderung oder
Aufhebung der bestehenden antragen.
Artikel 77. Aushebungen zur Vermehrung der Truppen über die
Bundespflicht hinaus können nur durch ein Gesetz bestimmt werden, unbeschadet jedoch des
Rechts der Staatsregierung, in dringenden Fällen die zur Sicherheit und Erhaltung des
Staats nothwendigen Vorkehrungen zu treffen.
Artikel 78. Die gesammte Staatsschuld, welche ohne ständische
Einwilligung nie vermehrt werden kann, ist als solche durch die Verfassung garantirt. Die
Art und Weise ihrer Rückzahlung bestimmt das Schuldentilgungsgesetz.
Artikel 79. Die Kammern haben das Recht, dem Großherzoge alles
dasjenige vorzutragen, was sie, vermöge eines übereinstimmenden Beschlusses, für
geeignet halten, um als eine gemeinschaftliche Beschwerde, oder als ein gemeinschaftlicher
Wunsch an Ihn gebracht zu werden.
Artikel 80. Insbesondere haben auch die ständischen Kammern die
Befugniß, auf die in dem vorhergehenden Artikel bestimmte Art diejenigen Beschwerden an
den Großherzog zu bringen, welche sie sich gegen das Benehmen der Staatsdiener
aufzustellen bewogen finden könnten.
Artikel 81. Einzelne und Corporationen können sich nur dann an die
ständischen Kammern wenden, wenn sie in Hinsicht ihrer individuellen Interessen sich auf
eine unrechtliche oder unbillige Art für verletzt oder gedrückt halten, und wenn sie
zugleich nachzuzeigen vermögen, daß sie die gesetzlichen und verfassungsmäßigen Wege,
um bei den Staatsbehörden eine Abhülfe ihrer Beschwerden zu erlangen, vergeblich
eingeschlagen haben.
Eine solche Petition kann den Ständen, wenn sie dieselbe nicht alsbald, oder nach
der ihnen von dem Geheimen Staats-Ministerium, oder den Landtags-Commissarien ertheilten
Auskunft, als ungegründet verwerfen, Veranlassung geben, von der in den vorhergehenden
Artikeln ausgesprochenen Befugniß der Beschwerdeführung Gebrauch zu machen.
Ein Petitionsrecht der Einzelnen und der Corporationen in Hinsicht allgemeiner
politischer Interessen, welche zu wahren blos den Ständen gebührt, findet nicht statt
und eine Vereinigung Einzelner oder ganzer Corporationen für einen solchen Zweck ist
gesetzwidrig und strafbar.
Artikel 82. Wenn die eine Kammer der andern in Hinsicht auf eine
Petition oder Beschwerdeführung nicht beistimmen sollte, so bleibt es der letzteren
unbenommen, die Höchste Regierung von der beabsichtigten Petition, oder
Beschwerdeführung im Wege der gewöhnlichen Mittheilung, mit dem Bemerken in Kenntniß zu
setzen, daß dieselbe der andern Kammer, welche aber ihre Zustimmung versagt habe,
mitgetheilt worden sey.
Artikel 83. Die Stände sind für den Inhalt ihrer freyen
Abstimmung nicht verantwortlich. Dagegen schützt das Recht der freyen Meinungsäußerung
nicht gegen den Vorwurf der Verläumdung, welche Einzelne in dieser Äußerung etwa finden
sollten.
Den Einzelnen bleibt in solchen Fällen, das Klagerecht, welches ihnen gegen
Verläumdungen nach den Gesetzen zusteht. Klagen dieser Art sollen bei dem
Provinzial-Justiz-Colleg derjenigen Provinz angebracht werden, in welcher der Landtag
gehalten wird.
Artikel 84. Während der Dauer des Landtags sind die Personen,
welche zu der Ständeversammlung gehören, keiner Art von Arrest, als mit Einwilligung der
Kammer, zu welcher sie gehören, unterworfen, den Fall der Ergreifung auf frischer That
bei strafbaren Handlungen ausgenommen, in welchem Falle aber alsbald der Kammer, zu
welcher der Verhaftete gehört, die Anzeige des Vorfalls, mit Entwickelung der Gründe,
gemacht werden soll.
Artikel 85. Der Großherzog ernennt den ersten Präsidenten der
ersten Kammer für die Dauer des Landtags.
Sobald 1/3 derjenigen Mitglieder, welche einberufen werden mußten und hätten
erscheinen können, eingetroffen ist, versammelt der landesherrliche Commissär die
Kammer, um dieselbe vorläufig zu constituiren, worauf sie unter Vorsitz des ersten
Präsidenten, oder, wenn noch keiner ernannt seyn sollte, unter Leitung des Commissärs,
dem Großherzoge drey Mitglieder, zur Auswahl des zweiten Präsidenten für diesen Landtag
vorschlägt und alsdann zur Wahl zweier Secretarien für die Dauer des Landtags schreitet.
Artikel 86. Die zweite Kammer kann, sobald 27 Mitglieder erschienen
sind, deren Zulassung keinem Zweifel unterworfen zu seyn scheint, vorläufig constituirt
werden.
Dieses geschieht durch die Einweisungs-Commission. Bei der Berufung eines Landtags
mit neuen Wahlen wird alsdann sogleich, unter der Leitung der Einweisungs-Commission, zur
Auswahl von 6 Mitgliedern geschritten, welche dem Großherzoge, zur Ernennung des ersten
und zweiten Präsidenten, vorgeschlagen werden. Bei der Berufung eines Landtags ohne neue
Wahlen dagegen wird die Einweisungs-Commission dem ältesten Mitgliede der Kammer
einstweilen den Präsidentenstuhl anweisen, um, unter Assistenz zweier Secretäre, welche
dasselbe sich zu diesem Acte ernennt, zur Wahl der 6 zu den Präsidentenstellen
vorzuschlagenden Mitglieder zu schreiten.
Sobald die Präsidenten für diesen Landtag ernannt sind, wird zur Wahl der beiden
Secretarien für diesen Landtag geschritten.
Artikel 87. Die definitive Entscheidung über die Gültigkeit der
Wahlen und über die Zulassung, Abweisung oder Befreyung der Mitglieder der Kammern
gehört zur Competenz einer jeden Kammer, sobald die ständische Versammlung eröffnet
worden ist.
Artikel 88. Die Eröffnung der Ständeversammlung geschieht mit
beiden Kammern zugleich von dem Großherzoge in Person, oder von einem von Ihm dazu
ernannten Commissär.
Die neu eintretenden Mitglieder der Stände leisten bei dieser Eröffnung folgenden
Eid:
Ich schwöre Treue dem Großherzog, Gehorsam dem Gesetze, genaue
Befolgung der Verfassung, und in der Ständeversammlung nur das allgemeine Wohl, nach
bester, eigner, durch keinen Auftrag bestimmter Ueberzeugung, berathen zu wollen.
Die nach der Eröffnung erst eintretenden Mitglieder schwören diesen Eid in die
Hände des Präsidenten ihrer Kammer.
Artikel 89. Die Propositionen der Regierung werden den Kammern oder
derjenigen, welche zuerst darüber berathen soll, durch Mitglieder des Geheimen
Staats-Ministeriums, oder durch die ernannten Landtags-Commissarien vorgelegt.
Artikel 90. Jedes Mitglied der Stände hat das Recht, in der
Kammer, zu welcher es gehört, Motionen über Gegenstände, welche zu dem Wirkungskreise
der Kammern gehören, zu machen.
Artikel 91. Die von einer Kammer abgelehnten Anträge der
Regierung, oder der andern Kammer, oder eines Mitglieds der Kammer können auf demselben
Landtag nicht wiederholt werden.
Artikel 92. Die Vorbereitung zur Berathung geschieht durch
gewählte Ausschüsse.
Artikel 93. Zu einem gültigen Beschluß gehört in der ersten
Kammer die Abstimmung von wenigstens 1/3 derjenigen Mitglieder, welche einberufen werden
mußten und hätten erscheinen können; in der zweyten Kammer die Abstimmung von
wenigstens 27 Mitgliedern und in beiden Kammern Stimmenmehrheit.
Bei Stimmengleichheit entscheidet der Antrag der Regierung, bei andern
Gegenständen die Meinung für das Bestehende und bey Beschwerden gegen öffentliche
Behörden, oder Einzelne, die diesen günstigere Ansicht.
Artikel 94. Wenn eine Kammer nicht auf die Art besetzt ist, welche,
nach dem vorhergehenden Artikel, zur Fassung gültiger Beschlüsse erfordert wird, so wird
die unvollständig besetzte Kammer als einwilligend in die Beschlüsse der vollständig
besetzten angesehen.
Artikel 95. Die Kammern haben, außer in den besonders
ausgenommenen Fällen, keine Berathungen mit einander zu pflegen, sondern nur ihre
gefaßten Beschlüsse sich gegenseitig mitzutheilen.
Jedem Ausschusse der einen Kammer aber ist es erlaubt, sich mit dem entsprechenden
Ausschusse der andern Kammer in dem Falle zu benehmen, wenn der Gegenstand zur Berathung
beider Kammern, entweder durch einen Antrag der Staatsregierung oder durch Mittheilung des
Beschlusses der andern Kammer gebracht worden ist.
Artikel 96. Die Stände können mit keiner andern Behörde, außer
mit dem Geheimen Staats-Ministerium und den ernannten Landtags-Commissarien in Benehmen
treten.
Die Ausschüsse haben sich mit den Mitgliedern des Geheimen Staats-Ministeriums und
den ernannten Landtags-Commissarien zu benehmen, um die erforderlichen Nachrichten zu
erhalten, oder um zu einer Ausgleichung etwaiger abweichender Ansichten zu gelangen.
Artikel 97. Alle Beschlüsse der einen Kammer müssen der andern zu
gleichmäßiger Berathung mitgetheilt werden, wenn sie nicht solche Gegenstände
betreffen, worüber verfassungsmäßig ein Beschluß der einen Kammer,
unabhängig von dem der andern, zur Wirksamkeit gelangen kann.
Artikel 98. Die gemeinschaftlichen Beschlüsse der Kammern werden
dem Großherzoge, oder dem von Ihm dazu bestimmten Commissar, durch eine gemeinschaftliche
Deputation überreicht.
Artikel 99. Die Kammern haben ihre Verhandlungen, insoferne sie
sich nicht über vertrauliche Eröffnungen der Regierung, oder der andern Kammer oder an
solche erstrecken, durch den Druck bekannt zu machen.
Artikel 100. Unter derselben Voraussetzung haben sie auch das
Recht, eine bestimmte Anzahl von Zuhörern, nach den darüber bestehenden oder künftig zu
treffenden reglementarischen Bestimmungen zuzulassen.
Artikel 101. Der Landtag wird von dem Großherzoge, entweder in
eigener Person, oder durch einen dazu besonders beauftragten Commissär, geschlossen und
alsdann der den Ständen schon vorher mitgetheilte Landtags-Abschied durch den Großherzog
verkündet.
IX. Allgemeine Bestimmungen
Artikel 102. Der Fiscus steht in allen
privatrechtlichen Verhältnissen vor den Gerichten.
Artikel 103. Für das ganze Großherzogthum soll ein bürgerliches
Gesetzbuch, ein Strafgesetzbuch, und ein Gesetzbuch über das Verfahren in Rechtssachen
eingeführt werden.
Artikel 104. Ausschließliche Handels- und Gewerbs-Privilegien
sollen nicht Statt finden, außer zu Folge eines besonderen Gesetzes.
Patente für Erfindungen dagegen kann die Regierung auf bestimmte Zeit ertheilen.
Artikel 105. Die Strafe der Confiscation des ganzen Vermögens
soll für alle Zeiten abgeschafft seyn.
Die an die Stelle tretenden zweckmäßigeren Strafen wird das Gesetz bestimmen.
X. Von der Gewähr der Verfassung
Artikel 106. Jeder Regierungsnachfolger sichert,
bei dem Antritte seiner Regierung, den Ständen die unverbrüchliche Festhaltung der
Verfassung in einer Urkunde zu, welche den Ständen zugestellt und in dem ständischen
Archive niedergelegt wird.
Artikel 107. Im Falle einer Vormundschaft oder einer andern
Verhinderung des Großherzogs an der Selbstausübung der Regierung, schwört der Verweser,
bei dem Antritte der Regentschaft, in der deshalb zu veranstaltenden Ständeversammlung
folgenden Eid:
"Ich schwöre, den Staat, in Gemäßheit der Verfassung und der
Gesetze zu verwalten, die Integrität des Großherzogthums und die Rechte der Krone zu
erhalten und dem Großherzog die Gewalt, deren Ausübung mir anvertraut ist, getreu zu
übergeben."
Artikel 108. Alle Staatsbürger sind bei der Ansäßigmachung und
bei der Huldigung, so wie alle Staatsdiener bei ihrer Anstellung, so fern sie dieses nicht
schon gethan haben, verbunden, folgenden Eid abzulegen:
"Ich schwöre Treue dem Großherzoge, Gehorsam dem Gesetze und
Beobachtung der Staatsverfassung."
Artikel 109. Die Großherzoglichen Staatsminister und sämmtliche
übrigen Staatsdiener sind, in so ferne sie nicht in Folge von Befehlen ihrer vorgesetzten
Behörden handeln, jeder innerhalb seines Wirkungskreises für die genaue Beobachtung der
Verfassung verantwortlich.
Das Gesetz über die Verantwortlichkeit der Minister und der obersten
Staatsbehörden bildet einen integrirenden Theil der Verfassung.
Artikel 110. Abänderungen und Erläuterungen der
Verfassungsurkunde können nie anders, als mit Einwilligung beider Kammern geschehen.
In der zweiten Kammer ist hierzu die Zustimmung von wenigstens 26 Mitgliedern und
in der ersten Kammer, bei Stimmenmehrheit, die Zustimmung von wenigstens 12 Mitgliedern
erforderlich.
Ist aber die Anzahl der an der Abstimmung wirklich theilnehmenden Mitglieder so
groß, daß 2/3 davon mehr betragen, als die ausgedrückten Zahlen, so ist die Zustimmung
von 2/3 der wirklich Abstimmenden erforderlich.
Indem Wir die vorstehenden Bestimmungen hiermit als die Staats-Grund-Verfassung
Unsers Großherzogthums öffentlich erklären, versichern Wir zugleich hierdurch förmlich
und feierlich, daß Wir die darin enthaltenen Gelobungen nicht nur Selbst treu und
unverbrüchlich halten, sondern auch diese Verfassung gegen alle Eingriffe und
Verletzungen zu schützen und zu erhalten stets bedacht seyn werden.
Dessen zur Urkunde haben Wir dieses Staats-Grund-Gesetz eigenhändig unterschrieben
und mit dem großen Staats-Siegel versehen.
So geschehen in Unserer Residenzstadt Darmstadt den 17. December 1820.
Ludwig
von Grolmann
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