[Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich.
(Bestandteil der Verträge von Locarno bzw. des sogenannten Locarno-Vertrags)
Vom 16. Oktober 1925.[1]
(Übersetzung.)]
Die mit gehöriger Vollmacht versehenen Unterzeichneten,
von ihren Regierungen beauftragt, die Einzelheiten des Verfahrens
festzusetzen, wonach, so wie dies in Artikel 3 des
heute zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien geschlossenen
Vertrages vorgesehen ist, zur friedlichen Lösung aller
Fragen geschritten werden soll, die nicht durch gütliche Übereinkunft zwischen
Deutschland und Frankreich gelöst werden können,
sind über die nachstehenden Bestimmungen übereingekommen:
Teil I.
A r t i k e l 1.
[1] Alle Streitfragen jeglicher Art zwischen Deutschland und
Frankreich, bei denen die Parteien untereinander über ein Recht im Streite sind und die
nicht auf dem Wege des gewöhnlichen diplomatischen Verfahrens gütlich geregelt werden
können, sollen in der nachstehend bestimmten Weise, sei es einem Schiedsgericht, sei es
dem Ständigen Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung unterbreitet werden. Es
besteht Einverständnis darüber, daß die vorstehend erwähnten Streitfragen namentlich
diejenigen umfassen, die in Artikel 13 der Völkerbundssatzung aufgeführt sind.
[2] Diese Bestimmung findet keine Anwendung auf Streitfragen, die aus
Tatsachen entsprungen sind, die zeitlich vor diesem Abkommen liegen und der Vergangenheit
angehören.
[3] Die Streitfragen, für deren Lösung in anderen zwischen Deutschland und
Frankreich in Geltung befindlichen Abkommen ein besonderes Verfahren vorgesehen ist,
werden nach Maßgabe der Bestimmungen dieser Abkommen geregelt.
A r t i k e l 2.
Vor jedem Schiedsverfahren und vor jedem Verfahren bei dem
Ständigen Internationalen Gerichtshof kann die Streitfrage durch Vereinbarung der
Parteien zur Herbeiführung eines Vergleichs einer ständigen
Internationalen Kommission, genannt "Ständige Vergleichskommission",
unterbreitet werden, die gemäß dem gegenwärtigen Abkommen gebildet wird.
A r t i k e l 3.
Handelt es sich um eine Streitfrage, deren Gegenstand nach der
inneren Gesetzgebung einer der Parteien zur Zuständigkeit ihrer Landesgerichte gehört,
so wird der Streitfall dem im gegenwärtigen Abkommen vorgesehenen Verfahren erst dann
unterworfen, wenn das innerhalb einer angemessenen Frist von der zuständigen
Gerichtsbehörde des Landes erlassene Urteil die Rechtskraft erlangt hat.
A r t i k e l 4.
[1] Die in Artikel 2 vorgesehene Ständige
Vergleichskommission besteht aus fünf Mitgliedern, die wie folgt bestellt werden: Die
Deutsche und die Französische Regierung ernennen jede einem Kommissar ihrer
Staatsangehörigkeit; sie wählen die drei übrigen Kommissare in gegenseitigem
Einvernehmen unter den Staatsangehörigen dritter Mächte. Diese drei Kommissare müssen
von verschiedener Staatsangehörigkeit sein; aus ihrer Mitte bezeichnen die Deutsche und
Französische Regierung den Vorsitzenden der Kommission.
[2] Die Kommissare werden für drei Jahre ernannt; ihre Wiederernennung ist
zulässig. Sie bleiben in Tätigkeit bis zur Bestellung eines Nachfolgers und jedenfalls
bis zur Beendigung der zur Zeit des Ablaufs ihres Auftrages im Gange befindlichen
Arbeiten.
[3] Stellen, die infolge Todesfalls, Amtsniederlegung oder sonstiger
Behinderung frei werden, werden in kürzester Frist nach dem für die Ernennung
maßgebenden Verfahren wieder besetzt.
A r t i k e l 5.
[1] Die Ständige Vergleichskommission wird innerhalb von drei
Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Abkommens gebildet.
[2] Erfolgt die Berufung der gemeinsam zu bestellenden Kommissare nicht innerhalb
des genannten Zeitraumes oder, im Falle der Ersetzung, nicht innerhalb von drei
Monaten nach Freiwerden der Stelle, so wird in Ermangelung anderweitiger
Vereinbarungen der Schweizerische Bundespräsident gebeten werden, die erforderlichen
Ernennungen vorzunehmen.
A r t i k e l 6.
[1] Die Ständige Vergleichskommission tritt in Tätigkeit auf
einen Antrag, der von den beiden Parteien in gegenseitigem Einvernehmen, oder, mangels
eines solchen Einvernehmens, von einer der beiden Parteien an den Vorsitzenden zu richten
ist.
[2] Der Antrag enthält eine kurze Darstellung des Streitfalls und das Ersuchen an
die Kommission, alle geeigneten Maßnahmen zur Herbeiführung eines Vergleichs anzuwenden.
[3] Geht der Antrag von einer der Parteien aus, so wird er von dieser der
Gegenpartei unverzüglich mitgeteilt.
A r t i k e l 7.
[1] Innerhalb von 14 Tagen nach dem Tage, wo die Deutsche
Regierung oder die Französische Regierung eine Streitfrage vor die Ständige
Vergleichskommission gebracht hat, kann jede der Parteien für die Behandlung dieser
Streitfrage ihren Kommissar durch eine Persönlichkeit ersetzen, die in der Angelegenheit
besondere Sachkunde besitzt.
[2] Die Partei, die von diesem Recht Gebrauch macht, teilt das unverzüglich der
anderen Partei mit, der es alsdann freisteht, innerhalb von 14 Tagen nach dem Tage, wo ihr
die Mitteilung zugegangen ist, das Gleiche zu tun.
A r t i k e l 8.
[1] Der Ständigen Vergleichskommission liegt es ob, die
strittigen Fragen zu klären, zu diesem Zweck alle geeigneten Auskünfte auf dem Wege
einer Untersuchung oder sonstwie zu sammeln und sich zu bemühen, einen Vergleich zwischen
den Parteien herbeizuführen. Sie kann nach Prüfung des Falles den Parteien die
Bedingungen der ihr angemessen scheinenden Regelung mitteilen und ihnen eine Frist zur
Erklärung setzen.
[2] Nach Beendigung ihrer Arbeiten stellt die Kommission ein Protokoll aus, das je
nach Lage des Falles feststellt entweder, daß sich die Parteien verständigt
haben und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Verständigung erfolgt ist,
oder aber, daß die Parteien nicht zur Annahme eines Vergleichs gebracht
werden konnten.
[3] Die Arbeiten der Kommission müssen, wenn die Parteien nichts anderes
vereinbaren, innerhalb von sechs Monaten nach dem Tage beendet sein, wo die Kommission mit
dem Streitfall befaßt wurde.
A r t i k e l 9.
Vorbehaltlich einer besonderen anderweitigen Vereinbarung regelt
die Ständige Vergleichskommission selbst ihr Verfahren, das in jedem Fall
kontradiktorisch sein muß. Bei Untersuchungen hält sich die Kommission, wenn sie nicht
einstimmig anderweitig beschließt, an die Bestimmungen des Titels III (Internationale
Untersuchungskommissionen) des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler
Streitfälle vom 18. Oktober 1907.
A r t i k e l 10.
Die Ständige Vergleichskommission tritt mangels abweichender
Vereinbarung der Parteien an dem von ihrem Vorsitzenden bestimmten Orte zusammen.
A r t i k e l 11.
Die Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission sind nur
öffentlich auf Grund eines Beschlusses, den die Kommission mit Zustimmung der Parteien
faßt.
A r t i k e l 12.
[1] Die Parteien werden bei der Ständigen Vergleichskommission
durch Agenten vertreten, die als Mittelspersonen zwischen Ihnen und der Kommission zu
dienen haben; sie können sich außerdem der Hilfe von Beiräten und Sachverständigen,
die sie zu diesem Zweck ernennen, bedienen und die Vernehmung aller Personen verlangen,
deren Zeugnis ihnen nützlich erscheint.
[2] Die Kommission ist ihrerseits befugt, von den Agenten, Beiräten und
Sachverständigen der beiden Parteien, sowie von allen Personen, die sie mit Zustimmung
ihrer Regierung vorzuladen für zweckmäßig erachtet, mündliche Erläuterungen zu
verlangen.
A r t i k e l 13.
Soweit dieses Abkommen nichts anderes bestimmt, werden die
Entscheidungen der Ständigen Vergleichskommission mit
Stimmenmehrheit getroffen.
A r t i k e l 14.
Die Deutsche und Französische Regierung verpflichten sich, die
Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission zu fördern und ihr insbesondere in
möglichst weitem Maße alle zweckdienlichen Urkunden und Auskünfte zu liefern, sowie die
ihnen zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um ihr auf dem Gebiete der Parteien und
gemäß deren Gesetzgebung die Vorladung und Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen
sowie die Einnahme des Augenscheins zu ermöglichen.
A r t i k e l 15.
Für die Dauer der Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission
erhält jeder der Kommissare eine Vergütung, deren Höhe von der Deutschen und
Französischen Regierung gemeinsam festgesetzt und die von beiden je zur Hälfte getragen
wird.
A r t i k e l 16.
[1] Kommt es vor der Ständigen Vergleichskommission nicht zu
einem Vergleiche, so wird die Streitfrage mittels einer zu vereinbarenden Schiedsordnung
unterbreitet: entweder dem Ständigen Internationalen Gerichtshof gemäß den in seinem
Statut vorgesehenen Bedingungen und Verfahrensvorschriften oder einem Schiedsgericht
gemäß den Bedingungen und Verfahrensvorschriften, die im Haager Abkommen zur friedlichen
Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907 vorgesehen sind.
[2] Können sich die Parteien über die Schiedsordnung nicht einigen, so ist jede
von ihnen, nachdem sie dies einen Monat vorher angekündigt hat, befugt, die Streitfrage
durch einen Antrag unmittelbar vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu bringen.
Teil II.
A r t i k e l 17.
[1] Alle Fragen, über die die Deutsche Regierung und die
Französische Regierung uneinig sind, ohne sie auf dem gewöhnlichen diplomatischen Wege
gütlich lösen zu können, und bei denen nicht gemäß Artikel 1 dieses
Abkommens die Lösung durch Richterspruch verlangt werden kann, werden, falls
für ihre Regelung nicht schon durch andere zwischen den Parteien geltenden
Abkommen ein Verfahren vorgesehen ist, der Ständigen Vergleichskommission unterbreitet.
Diese hat die Aufgabe, den Parteien eine annehmbare Lösung vorzuschlagen und jedenfalls
einen Bericht zu erstatten.
[2] Das in den Artikeln 6 bis 15 dieses
Abkommens vorgesehene Verfahren findet Anwendung.
A r t i k e l 18.
Wenn sich die Parteien nicht innerhalb eines Monats nach Abschluß
der Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission verständigt haben, wird die Frage durch
Antrag einer der Parteien vor den Völkerbundsrat gebracht, der gemäß Artikel 15 der Völkerbundssatzung zu
befinden hat.
Allgemeine Bestimmung.
A r t i k e l 19.
In allen Fällen und namentlich dann, wenn die zwischen den
Parteien strittige Frage aus bereits vollzogenen oder unmittelbar bevorstehenden
Handlungen hervorgeht, wird die Ständige Vergleichskommission oder, falls diese nicht
mehr mit der Angelegenheit befaßt ist, das Schiedsgericht oder der Ständige
Internationale Gerichtshof, und zwar dieser gemäß Artikel 41 seines Statuts, so schnell
wie möglich anordnen, welche vorläufigen Maßnahmen zu treffen sind. Es ist Sache des
Völkerbundsrats, wenn er mit der Frage befaßt ist, gleichfalls vorläufige Maßnahmen
anzuordnen. Die Deutsche und Franfösische Regierung verpflichten sich, diese Anordnungen
zu befolgen, sich jeder Maßnahme zu enthalten, die eine nachteilige Rückwirkung auf die
Ausführung der Entscheidung oder der von der Ständigen Vergleichskommission oder dem
Völkerbundsrat vorgeschlagenen Regelung haben könnte, und allgemein jegliche Handlung zu
vermeiden, die geeignet wäre, die Streitigkeiten zu verschärfen oder auszudehnen.
A r t i k e l 20.
Dieses Abkommen gelangt zwischen Deutschland und Frankreich auch
dann zur Anwendung, wenn andere Mächte gleichfalls an dem Streitfall beteiligt sind.
A r t i k e l 21.
[1] Dieses Abkommen soll ratifiziert werden. Die
Ratifikationsurkunden sollen gleichzeitig mit den Ratifikationsurkunden des heute zwischen
Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien geschlossenen Vertrags in Genf beim Völkerbund hinterlegt werden.
[2] Für das Inkrafttreten des Abkommens und seine Geltungsdauer gilt das Gleiche
wie für den genannten Vertrag.
[3] Dieses in einem einzigen Exemplar ausgefertigte Abkommen soll im Archiv des
Völkerbundes hinterlegt werden, dessen Generalsekretär gebeten wird, jeder der beiden
vertragschließenden Regierungen beglaubigte Abschriften zuzustellen.
Geschehen zu Locarno am 16. Oktober 1925.
Str[esemann].
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A. B[riand].
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