Rede des Vorsitzenden der FDP-Fraktion Dr. Wolfgang Gerhardt zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung"

vom 14. März 2003


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion.

(Zuruf von der SPD: Nur vier Minuten!)


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann zwar über alles sprechen, aber bitte nicht so lange!

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte deshalb nur wenige Minuten reden. Herr Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister Clement, Sie haben gesagt, niemand komme an entscheidenden Themen und Fragestellungen der Zeit vorbei.

(Zuruf von der SPD: Und Sie haben nichts zu sagen!)

Das ist völlig richtig. Ich habe heute lange auf den Moment gewartet, in dem die Redner Ihrer Partei auf die Themen eingehen müssen, die wir seit einem Jahrzehnt ansprechen.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben ein historisches Gedächtnis eingefordert. Können Sie sich denn noch erinnern, mit welchem Vokabular wir belegt worden sind, als wir über eine Änderung des Kündigungsschutzes nachgedacht haben?

(Zuruf von der CDU/CSU: "Soziale Kälte"!)

Darf ich Sie daran erinnern, wie wir beschimpft worden sind, als wir gesagt haben, dass man vom Flächentarif weg müsse und dass man betriebliche Bündnisse zulassen müsse? Als meine Fraktion ihre Position zum Umbau der sozialen Sicherungssysteme bestimmt hat, haben Sie sich in diesem Hause bei Vokabular und Lautstärke überschlagen.

(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)

Als wir gesagt haben, dass eine Gemeindefinanzreform notwendig sei, weil die Einnahmen der Gemeinden angesichts der gegenwärtigen Situation nicht mehr in erster Linie von der Gewerbesteuer abhängig sein dürften, sind wir der Vernachlässigung der kommunalen Finanzkraft geziehen worden. Heute hat Ihr Bundeskanzler, wenn auch nur halbherzig, all das nennen müssen, was wir seit einem Jahrzehnt fordern.

(Beifall bei der FDP)

Bedauerlicherweise ist er auf halbem Weg stecken geblieben.

Da Sie eine Antwort auf die Frage nach den Politikfeldern wollten, werde ich sie Ihnen geben. Sie haben vorgeschlagen, das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate, bei über 55-Jährigen auf 18 Monate, zu begrenzen sowie die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen. Sie haben uns früher der sozialen Kälte geziehen und uns als üble Neoliberale beschimpft. Wir sind trotzdem bereit, Ihnen die Hand zu reichen, weil es notwendig ist, zusammenzuarbeiten. Wir begrüßen Ihr Ankommen in der Wirklichkeit. Jetzt können wir darüber reden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben des Weiteren angekündigt, dass im Rahmen der Strukturreformen des Arbeitsmarktes auch der Kündigungsschutz zugunsten der Kleinbetriebe geändert werden müsse. Ich habe heute zwei Regierungserklärungen gehört: In der Vorverlautbarung war die Rede von einer Abfindungsregelung und einem Schwellenwert von fünf, in der anderen von einem Schwellenwert von 20 und von Zeitverträgen. Erst wenn Sie einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen, wird die FDP-Fraktion bereit sein, zu entscheiden, welchen Änderungen beim Kündigungsschutz sie zustimmen wird. Mit Ihren heutigen Luftblasen können Sie jedenfalls von uns keine abschließende Antwort erwarten. Wenn Sie den Kündigungsschutz novellieren wollen, dann tun Sie es richtig!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben außerdem gesagt, wir bräuchten eine Flexibilisierung der Arbeitswelt und müssten betriebliche Bündnisse für Arbeit zulassen. Aber solche Bündnisse sind nicht von der Spitze der BDA und des DGB abzusegnen. Sie müssen nach unserer Meinung vielmehr zwischen den Beschäftigten und dem Eigentümer eines Unternehmens geschlossen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind bereit, ein Gesetz zu novellieren, das vorsieht, dass zwei Drittel der Belegschaft einem solchen Bündnis zustimmen müssen. Aber wir werden keine Entscheidung treffen, solange Sie, Herr Bundeskanzler, auf halbem Weg stehen bleiben.

Herr Bundeskanzler, der Schaden in unserer Wirtschaft besteht darin - das betrifft sowohl die Arbeitgeberverbände als auch die Gewerkschaften -, dass beide Seiten oft Tarifautonomie als Verwirklichung der Machtinteressen ihrer Organisation sehen, nicht aber die Beschäftigungswirksamkeit von Abschlüssen im Auge haben. Wenn wir das nicht ändern, wird das nichts werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dritter Sachverhalt: Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme wird nur gelingen, wenn Sie deren Finanzierung aus der paritätischen Finanzierung und damit aus dem Beschäftigungsverhältnis herausnehmen und neu organisieren.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Tun Sie das nicht, dann werden Sie die Lohnnebenkosten nicht senken können. Sie werden keine Wettbewerbslandschaft bekommen. Sie werden es dann nicht der Entscheidung der Menschen überlassen, wie hoch und bei wem sie sich versichern wollen.

Das ist ein Schritt, der nicht reicht. Ich sage Ihnen heute voraus, dass Sie in wenigen Jahren, in welcher Verantwortung Sie auch immer stehen mögen,

(Zuruf von der SPD: An der Regierung!)

ob als einfacher Abgeordneter Schröder oder in dieser Funktion, zugeben müssen, dass Sie damals falsch gelegen haben. Entschließen Sie sich jetzt zu einem wirklichen Schritt! Wenn Sie das tun, dann stimmen wir, die Freien Demokraten, einem solchen Gesetzentwurf gerne zu,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

aber nicht auf halbem Wege, nicht mit einer Modernisierungsrhetorik, nicht nur mit Reden und ohne Taten.

(Zuruf von der SPD: 16 Jahre haben Sie nichts gemacht!)

Wir sehen gern Ihren Gesetzesvorlagen entgegen. Bei Arbeitslosengeld, bei Arbeitslosenhilfe und bei Sozialhilfe: positiv. Was die betrieblichen Bündnisse betrifft, sofern Sie sich am Ende durchringen, den Flächentarif wirklich wegzunehmen: positiv. Bleiben Sie auf halbem Wege stecken, werden wir das ablehnen. Wir reichen bei 4,7 Millionen Arbeitslosen nicht die Hand zu weiteren Halbherzigkeiten.

(Beifall bei der FDP)

Wenn Sie keine Courage haben, die sozialen Sicherungssysteme umzubauen, müssen Sie sich andere suchen, die Ihnen im Bundesrat helfen. Wir tun das nicht. Entweder wird jetzt umgebaut oder Sie können mit unserer Stimme nicht rechnen. Ein weiteres Vertrösten und Verschiebebahnhöfe finden nicht statt.

(Beifall bei der FDP)

Im Übrigen - die "FAZ" hat es vor wenigen Tagen kommentiert - : Die Rürup-Kommission kann doch nach dem, was Sie hier erklärt haben, einpacken. Die braucht doch gar nicht mehr weiter zu arbeiten. Wenn Sie hier erklären, es bleibe bei der paritätischen Finanzierung, dann brauchen Sie die Leute nicht mehr zu beschäftigen, damit sie sich die Köpfe zerbrechen.

Was soll denn die Gemeindefinanzreformkommission, wenn Sie heute sagen, die Gewerbesteuer werde revitalisiert? Dann können die doch die Arbeit einstellen. Die ist doch gerade einberufen worden, um zu einem neuen System zu kommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das wird nichts werden. Deshalb regen wir an, in den Feldern noch einmal nachzudenken.


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gerhardt!


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Herr Präsident, damit höre ich auch schon auf. Das Nötigste ist gesagt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Das war das Beste an der Rede: Sie ist vorbei!)

 

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19. Jahrhundert

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Quelle: Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 32. Sitzung vom 14.03.2003.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des Vorsitzenden der FDP-Fraktion Dr. Wolfgang Gerhardt zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung" (14.03.2003), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2003/rede_gerhardt_03-14.html, Stand: aktuelles Datum.


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- Dr. Angela Merkel, Bundesvorsitzende der CDU und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion
- Franz Müntefering, Vorsitzender der SPD-Fraktion
- Dr. Guido Westerwelle, Bundesvorsitzender der FDP
- Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen
- Dr. Edmund Stoiber (CSU), Ministerpräsident des Freistaats Bayern
- Wolfgang Clement (SPD), Bundeswirtschafts- und Arbeitminister
- Dr. Thea Dückert, stellvertretende Vorsitzende und arbeitsmarktpolitischen Sprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Dr. Gesine Lötzsch (PDS), fraktionslos


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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