Rede der fraktionslosen Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (PDS)
zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur
Veränderung"
vom 14. März 2003
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte sehr um Nachsicht. Es ist eine undankbare Aufgabe, die Redezeiten, die vorher
vereinbart worden sind, auch nur einigermaßen durchzusetzen.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Frau Dr. Gesine Lötzsch.
Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Der Titel der
Regierungserklärung lautet: "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung". Nun hat
die Friedensfrage im Laufe der Debatte immer weniger eine Rolle
gespielt. Das finde ich schade; denn gerade in dieser Frage hat sich gezeigt, dass es
sich lohnt, dass Menschen aktiv werden und Protest einlegen, dass Protest Erfolg
zeitigen kann.
Der britische Premierminister Tony Blair ist aufgrund dieses Protestes auf dem Rückzug.
Er konnte eine gewisse Zeit gegen sein Volk Politik machen; jetzt ahnt er wohl, dass seine
eigene Partei und sein eigenes Volk ihm Grenzen setzen. Sein Starrsinn kann ihn die Macht
kosten.
Meine Damen und Herren, es ist gut, dass die Allianz der Krieger zerbröselt. Selbst in
den USA wird die Opposition gegen den Krieg stärker. Auch Präsident Bush will
wiedergewählt werden. Deshalb muss auch er auf diese Opposition hören.
Die Friedenspolitik der Bundesregierung hat die Unterstützung der Mehrheit der
Bevölkerung. Wir als PDS unterstützen diesen Kurs.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Es ist richtig, sich jetzt auf die Verhinderung eines Krieges zu konzentrieren. Wenn es
jedoch trotz aller Proteste zu einem Krieg gegen den Irak kommen sollte, dann muss die
Bundesregierung neu überlegen, der US-Regierung die Überflugsrechte entziehen und dafür
sorgen, dass Deutschland nicht als Militärbasis für einen Angriffskrieg benutzt wird.
Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, Ihre positiven Erfahrungen in der Außenpolitik auf die
Innenpolitik zu übertragen. Doch hier scheitern Sie. Der Frieden ist ein hohes Gut, ein
Wert an sich, für den viele Bürgerinnen und Bürger sogar bereit sind, Opfer zu bringen.
Doch Ihre Aufforderung an die Menschen, Mut zur Veränderung zu haben, ist aus
zwei Gründen unsinnig: Viele Menschen haben den Mut zur Veränderung bereits bewiesen. In
Ostdeutschland hat fast jeder zweite Berufstätige nach der Wende seinen Beruf
gewechselt oder seine Arbeit ganz verloren. Arbeitslose haben sich teilweise mit dem
Mut der Verzweiflung ohne Eigenkapital in riskante Existenzgründungen gestürzt, um ihren
Lebensunterhalt zu sichern. Viele Menschen haben mehr Mut bewiesen als so
mancher hoch dotierte Vorstandschef in der so genannten freien Wirtschaft oder
Politiker in dieser Regierung. Das Problem ist jedoch, dass die Menschen
unentwegt durch die herrschende Politik entmutigt werden.
Die Aufforderung, Mut zur Veränderung zu zeigen, ist auch deshalb unsinnig, da
Veränderung kein Wert an sich ist. Ihr Problem, Herr Bundeskanzler, ist: Sie haben keine
Botschaft. Sie haben keine Botschaft für die Bürgerinnen und Bürger, für die diese
auch bereit wären, Opfer zu bringen. Sie wollten in der letzten Legislaturperiode
die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Dieses Ziel war sehr ambitioniert und auch wenn Sie
es verfehlt haben: Es war wenigstens ein Ziel. Die Bürger haben Nachsicht bewiesen
und Sie wiedergewählt, doch Sie haben die Schlussfolgerung gezogen, lieber gar keine
Ziele mehr zu bestimmen. Damit haben Sie Ihre Wähler demotiviert und sie sind bei
den Wahlen in Hessen und Niedersachsen zu Hause geblieben.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einen Wählerauftrag und den müssen Sie erfüllen. Sie
wollten die kohlsche Umverteilung von unten nach oben beenden, doch Sie haben das
Gegenteil gemacht. Sie haben die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer gemacht.
Der Witz ist, dass die von Ihnen Begünstigten es Ihnen noch nicht einmal danken. Nehmen
wir zum Beispiel die gigantischen Steuersenkungen für die Kapitalgesellschaften. Wo sind
die positiven Effekte? Wo sind die neuen Arbeitsplätze? Ihre
Steuerreform hat nur einen Effekt: Sie treibt die Kommunen in den Ruin. Allein meine
Heimatstadt Berlin verliert durch diese Steuerreform Einnahmen in Höhe von 500
Millionen Euro pro Jahr.
Was haben die Wirtschaftsverbände nicht schon alles versprochen: Schon Kohl hatten sie
500 000 neue Arbeitsplätze für die Lockerung des Kündigungsschutzes zugesagt. Wo aber
sind diese Arbeitsplätze? Nein, das sind alles ungedeckte Wechsel.
Sie müssen alle in die Pflicht nehmen, auch die Unternehmen. Ich denke zum Beispiel an
die dramatische Ausbildungssituation. Im Februar wurden den Arbeitsämtern bis zu 20
Prozent weniger Lehrstellen gegenüber dem Vorjahresmonat gemeldet. Die Unternehmer
fordern die Regierung auf, aktiv zu werden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze
zu schaffen. Doch diese Ausbildungsplätze sind steuerfinanziert und die gleichen Leute
fordern die Regierung auf, die Steuern zu senken. Das ist zutiefst verlogen, das kann
nicht der richtige Weg sein.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1980 darauf verwiesen, dass es eine
"Verantwortung der Arbeitgeber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen
Ausbildungsplätzen" gibt, und mahnte eine gesetzliche Regelung an. Wir als PDS
fordern eine gesetzlich geregelte Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, muss
zahlen. Diese Ausbildungsumlage hatte sich übrigens Rot-Grün bereits 1998 in die
Koalitionsvereinbarung geschrieben, aber bis heute nicht erfüllt.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Als Drohung!)
- Als Drohung am Horizont, Kollege Benneter, so ist es auch heute wieder aufgemacht
worden. Aber da diese Drohung bereits seit vier Jahren nicht umgesetzt worden ist, muss
sich die Wirtschaft vor ihr wahrscheinlich nicht besonders fürchten.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Es gehört kein Mut dazu, die Schwächsten in der Gesellschaft unter Druck zu setzen. Ich
finde, Sie sollten endlich den Mut haben, sich mit den Mächtigen in dieser Gesellschaft
auseinander zu setzen. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang an ein weiteres Wahlversprechen
von 1998 erinnern. Sie versprachen die Einführung der Vermögensteuer. Diese würde - das
haben wir hier schon mehrmals besprochen - 10 Milliarden Euro im Jahr einbringen. Damit
könnte man schon ein ordentliches kommunales Investitionsprogramm ohne Kredite
finanzieren und Arbeitsplätze schaffen.
In Berlin wurden im Februar 317 678 Arbeitslose registriert, in Brandenburg 271 738, in
Mecklenburg-Vorpommern 201 508 und in Sachsen 445 474. Das ist der höchste
Arbeitslosenstand seit 1945. Und wie reagieren Sie auf diese Situation? Was macht zum
Beispiel der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, in dieser dramatischen
Situation? Er gießt Öl ins Feuer und zertrümmert den zweiten Arbeitsmarkt. In
Ostdeutschland wurden in einem Jahr die AB-Maßnahmen um 18,3 Prozent und die berufliche
Weiterbildung um 15,6 Prozent reduziert. Das ist für strukturschwache Regionen nicht nur
im Osten, sondern auch im Westen ein Desaster.
Der Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regierungserklärung verkündet, die alten
Strukturen würden erst dann weggeschnitten, wenn die neuen aufgebaut sind. Ich muss
leider sagen, dass er in diesem Punkt von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über
die Situation nicht informiert worden zu sein scheint. Denn die Maßnahmen sind dramatisch
beschnitten worden, ohne dass es neue Strukturen gibt.
Die Bundesanstalt für Arbeit - wenn man Zeitungsberichten und entsprechenden Gesprächen
glauben kann, meinen dies auch die ostdeutschen SPD-Abgeordneten - braucht dringend
einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Herr Gerster hat sich verrechnet, als er glaubte,
die Bundesanstalt könne ohne diese Bundeszuschüsse auskommen. Nächste Woche
haben wir in den Haushaltsberatungen die Gelegenheit, den Haushalt entsprechend
zu korrigieren und die Finanzierung einer Übergangsregelung für 2003 zu
beschließen.
Herr Bundeskanzler, Ihre Rede war nicht der lange angekündigte Befreiungsschlag und auch
nicht die Ankündigung von schlüssigen Reformen. Sie haben uns einen Maßnahmehaufen vor
die Füße geworfen, der unser Land allerdings nicht weiterbringen wird.
Vielen Dank.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
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