Rede der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Katrin
Dagmar Göring-Eckardt zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden
und zur Veränderung"
vom 14. März 2003
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin
Göring-Eckardt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle,
das war schon eine Leistung: Sie haben fast 20 Minuten lang geredet, haben ein paar
Bemerkungen über gutes Benehmen gemacht, als ob wir hier nicht im Deutschen Bundestag,
sondern in der Tanzstunde wären,
(Heiterkeit des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])
haben aber keinen einzigen inhaltlichen Vorschlag gebracht. Ihr ganzes Gequatsche über
Steuersenkungen entbehrt jeglichen Fundaments.
Schauen wir uns einmal den Antrag an, den Sie eingebracht haben. Sie haben offenbar die
Zeitungen gelesen. Alle Vorschläge, die in den letzten Wochen und Monaten in den
Zeitungen standen, finden sich in Ihrem Antrag auf grünem Papier wieder. Sie haben in der
FDP aber offensichtlich niemanden, der einen Taschenrechner besitzt und die Zahlen am Ende
zusammenrechnet. Das ist das Problem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Die Kosten für die in Ihrem Antrag enthaltenen Vorschläge belaufen sich auf 45
Milliarden Euro. Sie hatten aber keinen Taschenrechner dabei, was heute wieder bewiesen
wurde.
Herr Westerwelle, Sie sprechen von der
Bürgergesellschaft. Bei Ihnen bedeutet Bürgergesellschaft, dass jede und jeder auf
sich gestellt ist. Bei uns bedeutet Bürgergesellschaft soziale Gerechtigkeit für
alle. Das meinen wir, wenn wir von Bürgergesellschaft reden, und nicht, dass jeder
seines Glückes Schmied sein soll.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Die rot-grüne Koalition hat sich mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers
eindrucksvoll auf der innenpolitischen Bühne zurückgemeldet.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU - Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Haben Sie
die verlassen gehabt?)
Der Kanzler hat hier die Agenda 2010 vorgelegt. Auch wenn die wirtschafts-, sozial- und
weltpolitischen Bedingungen extrem schwierig sind: Wir müssen die wirtschafts- und
sozialpolitische Blockade überwinden, die uns nicht erst seit vier oder fünf Jahren,
sondern schon seit mindestens zwei Jahrzehnten lähmt. Darum geht es mit Blick auf das
Gemeinwohl und damit wir die Veränderungen, die notwendig sind, sozial gerecht gestalten
können, und damit wir unserer Verantwortung für die heutige sowie die kommenden
Generationen gerecht werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Lassen Sie mich nun zu dem Thema kommen, das in Deutschland wohl die meisten Menschen
bewegt, nämlich das Thema Krieg und Frieden, die Frage des Krieges im Irak. Ich glaube,
wir sind uns hier im Hause alle einig: Nichts wäre uns lieber, als dass die Menschen in
diesem Land von dem Terrorregime des Saddam Hussein so schnell wie möglich befreit
würden. Wir wissen aber auch: Krieg in dieser Region würde zur Destabilisierung
beitragen. Er hätte unglaubliche Folgen für dieses Land und die gesamte Region. Er
hätte Folgen hinsichtlich der terroristischen Gefahren für uns alle.
Deswegen bin ich so froh, dass diese Regierung sehr frühzeitig gesagt hat: Nein,
militärische Mittel im Irak sind nicht richtig. Nein, wir werden alles tun und uns dafür
einsetzen, dass es nicht zu einem solchen Krieg kommt. Dafür bedanke ich mich
ausdrücklich bei Bundeskanzler Schröder und
Joschka Fischer.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Frau Merkel, mit dieser Frage haben Sie sich
offensichtlich nicht ausreichend beschäftigt. Es ist viel darüber spekuliert worden,
wann Deutschland aufgrund seiner klaren Haltung gegen den Krieg isoliert sein würde.
Heute können wir festhalten: Deutschland steht alles andere als isoliert da. Auch wenn
die Motive der Länder, die eine Allianz gegen den Krieg bilden, sehr unterschiedlich sein
mögen, ist klar: Es gibt in der Weltgemeinschaft heute eine breite Mehrheit dafür, zu
sagen: Eine Militärintervention im Irak wäre zu einem Zeitpunkt, wo wir mit der
friedlichen Entwaffnung weiter sind, als wir es je gedacht haben, fatal. Aber das müssen
auch diejenigen erkennen - Herrn Pflüger kann ich im Moment nicht entdecken -
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Doch! Er ist da!)
die der Meinung sind, dass das militärische Drohpotenzial so nötig wäre. Sie müssen
sich heute auch dazu bekennen, dass militärische Interventionen zu diesem Zeitpunkt nicht
richtig sind. Das erwarte ich von Ihnen, aber nicht das Rumgeeiere von Frau Merkel, das wir heute wieder erlebt haben und angesichts
dessen wir uns schon seit Wochen fragen, was eigentlich die Position der Union ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Ich nehme einmal die Aussagen dieser Woche. Frau Merkel
legte sich nicht fest. Sie sagte am Montag: Die völkerrechtliche Betrachtung wird nur ein
Element in der Gesamtbewertung sein. Herr Glos am Dienstag: Die Union wird im Konfliktfall
keinen Zweifel daran lassen, dass sie fest an der Seite der USA steht. Herr Kauder am
Dienstag: Wo wir stehen, haben wir klar gesagt: an der Seite Amerikas. Er sagt weiter,
dass die Union dennoch keine eindeutige Position zu dem Konflikt
formulieren könne, da die Dinge ständig im Fluss seien. Herr Schäuble am
Donnerstag: Ein Krieg muss auf der Basis des Völkerrechts geschehen.
Das ist die Positionierung der Union allein in dieser Woche. Ich glaube, die Bürgerinnen
und Bürger haben ein Recht darauf, dass Sie endlich einmal sagen, wofür Sie eigentlich
sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Da wird von einer zweiten Resolution geredet. Frau Merkel
sagt uns und der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz am Montag, dass Sie darüber,
wie Sie sich verhalten werden, erst dann entscheiden werden, wenn darüber abgestimmt
worden ist.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Hussein kann sich auf Sie verlassen!)
Meine Kinder machen das so bei der Bundesliga: Erst am Ende entscheiden sie sich, zu wem
sie halten. Das ist meistens der Tabellenführer. So machen Sie Politik.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD - Hartmut Schauerte
[CDU/CSU]: Der Hussein kann sich gut auf Sie verlassen!)
Frau Merkel, wenn Sie heute wirklich Mut gehabt
hätten, dann hätten Sie ehrlich gesagt, dass die Position von Bundeskanzler Schröder und von Außenminister Fischer richtig ist,
weil sie zu einer friedlichen Entwaffnung beiträgt. Bis zuletzt muss jede nur mögliche
Chance genutzt werden, um den Krieg im Irak zu verhindern. Dafür steht die
Bundesregierung und dafür stehen wir.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Lassen Sie mich zur Innenpolitik kommen, wo es sich ähnlich verhält. Frau Merkel, auch da wissen Sie offensichtlich nicht, was
eigentlich Ihre Positionierung ist. Sie haben von dem Dreistufenplan und von Leitideen
gesprochen. Herr Stoiber hat einen 31-Stufen-Plan
aufgestellt; dessen Umsetzung dauert vielleicht etwas länger. Wir hätten uns
gefreut, wenn wir erfahren hätten, was eigentlich die Position der Union ist. Wenn
ich mir Ihre Rede und die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vor Augen führe,
dann muss ich ehrlich sagen, dass Sie nicht sehr konkret geworden sind.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ach! Wenn hier einer konkret war!)
Es gab nur ein paar allgemeine Ideen, die man gut finden kann oder auch nicht. Wo Sie
konkret geworden sind, Frau Merkel, haben Sie gesagt,
dass Sie es so machen wollen, wie es der Bundeskanzler machen will. Das ist Ihre Politik
und Ihr Dreistufenkonzept nach dem Motto "Doppelt gemoppelt hält besser".
Vielleicht erfahren wir bei den 31 Punkten etwas Konkretes. Ich glaube, das Hin und Her,
das wir zwischen Merkel und Stoiber erleben, sollten wir Deutschland nicht antun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Auch wenn es in den letzten Wochen und Monaten für diese Koalition nicht gut ausgesehen
hat: Ich will daran erinnern, was wir in unserer ersten Regierungslegislaturperiode getan
haben - das ist mehr als das, was Sie, besonders die FDP, in vielen Jahren Regierungszeit
auf den Weg gebracht haben -, und will nur die wichtigsten Punkte nennen:
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Arbeitslosenzahl vergrößert!)
Haushaltskonsolidierung eingeleitet, eine wirklich mutige Steuerreform auf den Weg
gebracht, den ersten wesentlichen Reformschritt in der Rentenversicherung durchgeführt,
die Arbeitskosten durch die Ökosteuer gesenkt und damit zugleich zum Klimaschutz
beigetragen.
Diese Instrumente reichen aber nicht mehr aus. Die veränderte Situation führt dazu - das
müssten auch Sie langsam zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren von der Opposition
-, dass wir nicht mehr automatisch auf Wachstum setzen können und dass wir uns nicht mehr
darauf verlassen können, dass es jährlich Wachstum gibt. Deshalb brauchen wir ein
Gesamtkonzept, wie es der Bundeskanzler heute vorgeschlagen hat.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist eben der falsche Ansatz! Sie wollen kein Wachstum!
Das ist das Kernproblem!)
Zusätzlich hat die weltwirtschaftliche Situation Druck erzeugt. Aber die eigentlichen
Probleme liegen tiefer. Es geht um die demographische Entwicklung, die die
Finanzgrundlagen der Sozialkassen sprengt. Es geht um die hohen Lohnzusatzkosten, die
durch die falsche Finanzierung der deutschen Einheit und durch einen Reformstau in den
Sozialsystemen zustande gekommen sind. Das führt dazu, dass nicht genügend
Arbeitsplätze entstehen, und das wiederum engt unsere Handlungsmöglichkeiten ein,
genauso wie die hohe Verschuldung unsere Handlungsmöglichkeiten massiv einengt.
Wir brauchen den Mut zu Veränderungen. Dabei ist es die Gerechtigkeit selbst, die nach
Veränderungen verlangt. Denn nur so können wir das bewahren, was Deutschland in sozialer
Hinsicht ausmacht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal veränderten Bedingungen einzustellen: Wie
wird Deutschland attraktiver? Deutschland wird dadurch attraktiv, dass es ein
kinderfreundliches Land ist, dass es Vorreiter im Klimaschutz ist, dass hier die
Schöpfung bewahrt wird, dass es letztlich ein guter Standort für Innovationen ist. Wie
werden wir schneller, was den technischen Fortschritt angeht? Wie werden wir besser, was
die Qualität der sozialen Sicherung und was die Bildungschancen, die Investitionen in die
klugen Köpfe angeht? Aber auch: Wie werden wir besser, was das Zusammenleben in
Deutschland angeht? Wir wollen Zuwanderung, die wir in diesem Land aus ökonomischen
Gründen dringend brauchen,
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Soll doch weniger werden! Ist doch ein Begrenzungsgesetz!)
gestalten und sie durch notwendige Integrationsmaßnahmen begleiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er all dies hier umrissen hat.
Immer mehr Menschen in Deutschland sind ohne Job. Wenn wir über Gerechtigkeit sprechen,
dann - darin sind wir uns hier wahrscheinlich alle einig - geht es vor allem um
Gerechtigkeit für jene, die heute außen vor sind. Das ist die zentrale Frage: Wie sorgen
wir dafür, dass nicht immer mehr Menschen immer länger außen vor bleiben? Dem muss sich
alles unterordnen.
Deswegen reden wir darüber, wie es gelingen kann, dass die Lohnzusatzkosten deutlich
gesenkt werden. In einem ersten Schritt wird dies im nächsten Jahr geschehen. Ich kann
nur all denen zustimmen, die sagen: Dieser erste Schritt muss uns unter die
40-Prozent-Marge führen. Aber das wird nicht reichen,
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kommt doch erst mal dorthin! Fangt doch mal an!)
wir werden weitermachen müssen. Ich glaube, dass wir es in den nächsten Jahren schaffen
werden, die Lohnzusatzkosten um weitere Prozentpunkte zu senken. Eine Senkung um 5 Prozent
bis 2006 ist ein ehrgeiziges Ziel; aber das ist zu schaffen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Deshalb macht es Sinn, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu verkürzen - es geht eben
nicht mehr, dass die Unternehmen Ältere auf Kosten der Beitragszahler aus dem
Arbeitsprozess drängen - und betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen. Das ist
hier sehr deutlich vorgetragen worden, Herr Westerwelle;
da haben Sie einfach nicht zugehört. Die Unternehmen müssen ihrer Pflicht zur Ausbildung
in einem umfassenden Sinne gerecht werden.
Natürlich dürfen wir nicht nur über Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes und der
Vermittlung reden, sondern müssen vor allem den ersten Arbeitsmarkt gestalten: Wir
brauchen Innovationen auf ökologischem Gebiet. Weil dieser Wirtschaftszweig der
neben dem Gesundheitsbereich einzige Wachstumssektor ist, kommt es auf
Innovationen in ökologischer Hinsicht besonders an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Gerade in einer Situation, da der Ölpreis in die Höhe schnellt und sich selbst die USA
entschließen, Milliarden in die Förderung von Wasserstofftechnik zu investieren, gerade
vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Erdöl weltweit nur noch für 40 Jahre reichen
wird, ist eine langfristige Strategie, weg vom Erdöl, unverzichtbar - in unserem eigenen
Interesse und im Interesse der weltweiten Stabilität. Dazu müssen wir Energieeffizienz
und erneuerbare Energien miteinander kombinieren. Wir müssen in Zukunftstechnologien
investieren und ihnen zum Durchbruch verhelfen. Letztlich müssen wir Ölimporte ersetzen
durch inländischen Ingenieursverstand und inländische Handwerksleistungen. Auf eine
solche Strategie kommt es jetzt an: weg vom Erdöl und hin zu mehr Arbeitsplätzen. Wir
werden das angehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Weil die Frage der Arbeitskosten so zentral ist, ist auch die Zusammenlegung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe richtig. 70 Prozent der Menschen, die heute
Arbeitslosenhilfe bekommen, erhalten weniger als den Sozialhilfesatz. Deswegen ist es
richtig, was der Bundeskanzler vorgeschlagen hat: dass diese Zusammenlegung vom Niveau her
auf der Höhe der Sozialhilfe stattfindet. Natürlich müssen diejenigen, Frau Merkel, die Kinder haben, mehr bekommen. Das war von
vornherein klar und das war mit "grundsätzlich" gemeint. An dieser Stelle wird
es darum gehen, zu neuen Angeboten zu kommen.
Wenn wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem Arbeitslosengeld II zusammenlegen, muss
das aber auf der anderen Seite heißen, dass jeder und jede ein Angebot erhält. Es muss
jedem ermöglicht werden, Arbeit, Leiharbeit, eine Weiterbildung oder eine öffentliche
Beschäftigung zu bekommen. Ich sage dies in aller Klarheit: Es kann nicht sein, dass die
Arbeitsämter in diesem Land heute eine Maßnahme nach der anderen streichen, die
insbesondere Jugendlichen zugute kommen. Zudem kann ich die Tonlage, die mit Blick auf die
ABM-Kräfte in Ostdeutschland angeschlagen wird, nach dem Motto: "Das ist eine Form
von sozialer Hängematte", nicht akzeptieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Diese Menschen in Ostdeutschland haben sich ihre Situation nicht ausgesucht. Wir müssen
dafür sorgen, dass die Fördermaßnahmen fortgeführt werden.
Fördermaßnahmen sind auch im Bereich der öffentlichen Beschäftigung notwendig. Die
Integration in den Arbeitsmarkt braucht Strukturen. Diese müssen überprüft und zum Teil
neu gestaltet werden. Wichtig aber ist, dass sie gerade angesichts dieser Situation
erhalten bleiben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Merkel, wir haben Ihre Auffassungen zum
Kündigungsschutz gehört. Natürlich gibt es im Arbeitsrecht eine Reihe von
Verkrustungen. Mir hat ein junger Unternehmer erzählt, er habe jetzt bereits drei Firmen
mit jeweils fünf Beschäftigten gegründet, weil er nicht wisse, wie sich seine Situation
in den nächsten Jahren entwickeln werde. Das kann doch nicht sein. Selbstverständlich
ist es gerecht, dass jemand, der seit 20 Jahren in einem Unternehmen beschäftigt ist,
einen umfassenden Kündigungsschutz hat. Auf der anderen Seite aber ist es nicht gerecht,
dass eine halbe Million Menschen unter 25 Jahren ohne Arbeit sind und noch nie auf dem
ersten Arbeitsmarkt tätig waren. Deswegen müssen wir in diesem Bereich etwas ändern.
Der Bundeskanzler hat hier sehr klar gesagt, um welche Änderungen es geht: Es geht um
Abfindungsregelungen. Es geht darum, dass hinsichtlich des Kündigungsschutzes bei
Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten diejenigen, die befristet und in der Probezeit
beschäftigt sind, herausgerechnet werden. - Wenn Sie zugehört hätten, Herr Westerwelle, hätten Sie das vielleicht
verstanden. - Die dadurch geschaffene Flexibilität ist sozial gerecht und führt
dazu, dass denjenigen, die sich schon lange in der Arbeitslosigkeit befinden, der
Zutritt zum Arbeitsmarkt erleichtert wird. Dies wird in anderen Ländern bereits
praktiziert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was uns nicht weiterhilft, Herr Westerwelle und
Herr Merz, ist ein Freund-Feind-Denken: hier die Wirtschaft, da die Arbeitnehmer. Ihre
Kriegserklärung gegen die Gewerkschaften ist dümmlich und spalterisch. Wie kommt es
eigentlich, Herr Westerwelle - das interessiert
mich schon -, dass Sie so nicht auch über bestimmte Gesundheitslobbyisten reden? - Sie
tun dies nicht, weil Ihnen das nicht in Ihren Klientelkram passt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich bin froh, dass der Bundeskanzler klar gemacht hat, dass in diesem Land weder die
Arbeitgeberverbände noch die Gewerkschaften regieren.
(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Das wussten wir schon vorher!)
Rot-Grün regiert und handelt.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Kollegin, das sollten Sie, das machen Sie aber nicht!)
Alle müssen einen Beitrag dazu leisten.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Da müssen Sie etwas verwechseln!)
Wenn ich mir heute die Aufstellung in diesem Haus ansehe, möchte ich an Folgendes
erinnern: Es ist erst ein knappes Jahr her, als Frau Merkel
im Bayerischen frühstücken war. Wenn man sich die Chaostruppe heute ansieht, dann fragt
man sich: Telefonieren Sie eigentlich noch manchmal mit Herrn Stoiber oder laufen Ihre Vorstellungen inzwischen alle
nebeneinanderher? Bezug des Arbeitslosengeldes kürzer, länger oder gar nicht!
Kündigungsschutz so oder anders! Aus Ihren Reihen gibt es dazu mindestens drei
verschiedene Vorschläge. Als der Bundeskanzler vorhin gesagt hat, er wolle erreichen,
dass der Beitrag zur Krankenversicherung auf unter 13 Prozentpunkte sinkt, hat Herr Stoiber ganz hektisch in seinem Manuskript gestrichen.
Wahrscheinlich stand dort noch sein Vorschlag mit 14 Prozentpunkten.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist Ihre Politik. Ganz schnell wird noch etwas geändert. Frau Merkel wusste vermutlich noch nicht einmal, dass er dies
heute vorschlagen wollte. Ich kann nur sagen: Ihr Verhalten ist schon sehr bemerkenswert.
Ich erinnere auch an gestern, als Sie hier ein wahres Affentheater
veranstaltet haben.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Tiere sind geschützt! Reden Sie nicht von Affentheater!)
Sie haben einen Hammelsprung herbeigeführt wegen der Verlängerung der
Ladenöffnungszeiten um vier Stunden. Man kann wirklich nur fragen: Wo ist die Reformkraft
in diesem Lande, wenn Sie wegen der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten um vier Stunden
einen Hammelsprung herbeiführen müssen, anstatt zuzustimmen, damit sich in diesem Lande
etwas bewegt?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Volker Kauder
[CDU/CSU]: Sie hatten doch gar keine Mehrheit! Sie reden Unsinn!)
Wenn Sie bei der Union herausfinden wollen, wer bei Ihnen den Hut aufhat, dann müssen Sie
- den Eindruck habe ich - erst einmal einen Stuhlkreis - so kennen wir das aus dem
Kindergarten - veranstalten.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Hartmut Schauerte
[CDU/CSU]: So etwas von peinlich!)
Zum Thema Rente. Frau Merkel, auch hier wieder
Fehlanzeige. Ich weiß nicht, ob Sie sich in den letzten Jahren überhaupt einmal mit den
Reformen der Rentenversicherung beschäftigt haben. Sie haben wieder den demographischen
Faktor angeführt. Wie schön! Den kennen wir schon. Wir haben einen demographischen
Faktor in die Rentenformel aufgenommen. Das haben Sie vielleicht nicht mitbekommen, aber
das ist so.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt ihn doch wieder außer Kraft gesetzt!)
Es gibt einen immer größeren Anteil älterer Menschen in unserem Land.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ach?)
Auch wenn wir mit der Privatvorsorge den entscheidenden Strukturschritt gemacht haben,
müssen wir weiter darauf reagieren. Das bewältigen wir, glaube ich, nicht mit
kurzfristigen Maßnahmen. Wir haben uns sehr darüber geärgert - Sie wissen das -, dass
im letzten Jahr beschlossen worden ist, die Rentenbeiträge steigen zu lassen und nicht
auch von den Rentnerinnen und Rentnern einen Beitrag zu verlangen. Mit solch kurzfristigen
Maßnahmen kommen wir jetzt nicht weiter. Wir müssen auch das auf eine solide Grundlage
stellen.
Wenn sich die Rentnerinnen und Rentner beteiligen sollen - sie sind dazu bereit -, dann
müssen wir die Grundlage für die Rentenanpassung verändern. Das können wir so
verändern, dass sich die Rentenanpassung nicht mehr nur an denjenigen bemisst, die
Einkommen beziehen, sondern an all denjenigen, die Rentenbeiträge zahlen,
also auch an den Arbeitslosen. Wenn die Rentenanpassung tatsächlich die Entwicklung des
Lebensstandards widerspiegeln soll, dann sollten wir das so ändern; denn dann beteiligen
sich alle, auch die Rentnerinnen und Rentner. Das ist ein Beitrag zu mehr
Generationengerechtigkeit, der auf lange Sicht auch tatsächlich Wirkung entfaltet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
1,6 Millionen Frauen und Männer in Deutschland, und zwar meist Mütter, arbeiten nur
deswegen nicht, weil es keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Das DIW rechnet vor:
Wenn die alle in Arbeit wären, hätten wir 6 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen und
fast 9 Milliarden Euro mehr in den Sozialkassen. Nun würden sicherlich nicht alle Jobs
bekommen; aber wir brauchen weiterhin Fachkräfte in Deutschland und wir verschenken
weiterhin ein riesiges Potenzial. Wenn ich mir das unendliche Gezerre um die
Ganztagsschulen angucke, Frau Merkel oder die Damen
und Herren auf der Bundesratsbank - so viele sind es nicht mehr -, dann kann ich nur darum
bitten: Lassen Sie uns das mit der Kinderbetreuung anders machen! Herr Stoiber und Frau Reiche - ich weiß nicht, ob sie noch
hier ist -, vielleicht unternehmen Sie noch einmal einen Anlauf. Frau Merkel hat von der Demographie und von den vielen
Schwierigkeiten geredet. Nachdem Sie jetzt Ihr Familiengeld unter Absingen des Chorals vom
größten Wahlbetrug feierlich beerdigt haben, bitte ich Sie: Machen Sie einen neuen
Anfang mit uns - für mehr Kinderbetreuung!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Michael Glos [CDU/CSU]: Das war
sehr originell, Frau Kollegin!)
Zu Recht hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen, dass der entscheidende Reformteil im
Gesundheitssystem stattfinden muss, weil es dort falsche Anreize für Patienten wie für
Ärzte und Krankenhäuser gibt. Es kann nicht sein, dass man mit einer Laboruntersuchung
x-fach mehr verdienen kann als mit einem ausführlichen Gespräch beim Hausarzt. Es kann
nicht sein, dass in Deutschland die Heilungschancen bei Brustkrebs deutlich
geringer sind als in vielen anderen Ländern dieser Welt. Es kann nicht sein, dass
wir uns eine doppelte Facharztstruktur leisten.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Freie Berufe abschaffen! Typisch Rot-Grün!)
Deswegen brauchen wir mehr Wettbewerb. Herr Seehofer, ich glaube, dass wir da an vielen
Stellen übereinkommen. Wir brauchen mehr Wettbewerb um das Richtige, nämlich um
Qualität und Effizienz. Aber wir müssen auch ganz ehrlich sagen: Wir werden in diesem
System nicht mehr alles aus der Solidargemeinschaft bezahlen können. Wir müssen uns also
gemeinsam entscheiden, wie wir welche Finanzierung vornehmen. Die beiden Vorschläge, die
der Bundeskanzler gemacht hat, nämlich beim Krankengeld und bei einer Gebühr für den
Arztbesuch einzusteigen, finde ich richtig, weil sie uns weiterbringen, auch was die
Beitragssätze angeht.
Trotzdem müssen wir über die versicherungsfremden Leistungen reden. Brauchen wir in
Deutschland noch ein Sterbegeld? Ist es denn wirklich noch gerechtfertigt, dass Ehefrauen
oder Ehemänner, die weder Kinder erziehen noch Angehörige pflegen, in der gesetzlichen
Krankenversicherung auf Kosten der Solidargemeinschaft mitversichert werden? Das ist,
finde ich, nicht gerecht. Durch die Abschaffung dieser Leistung könnten die
Beitragssätze um einen Punkt gesenkt werden. Das sollten wir für die Gerechtigkeit in
diesem System tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie müssen aber auch sagen, wie Sie unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten - nur
das meine ich - mit Zuwanderung umgehen wollen. Die Frage der Zuwanderung wird eine
Nagelprobe für die Modernisierung der Wirtschaft sein. In einer schwierigen
wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Situation einfach zu sagen: "Macht die
Grenzen dicht!", zeugt von wirtschaftspolitischer Inkompetenz. Denn zu einer modernen
Wirtschaft gehört ein modernes Zuwanderungsrecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zuwanderung heißt auch - das haben Ihnen die Wirtschaftsverbände ins Stammbuch
geschrieben -, dass es in Deutschland zu Neugründungen und Flexibilität kommt. Dadurch
entstehen Arbeitsplätze für Deutsche; eigentlich wissen Sie das. Ich hoffe, Sie kommen
zur Vernunft, und ich hoffe, wir werden im Bundesrat ein Übereinkommen erzielen. Dies
betrifft die Menschen, die zu uns kommen, sowie Innovationen in Deutschland und sogar in
Bayern, Herr Stoiber. Deswegen sollten Sie sich an
dieser Stelle bewegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zum Schluss möchte ich auf ein Potenzial verweisen, das wir verspielen, wenn wir nicht
sehr schnell handeln. Ich meine Investitionen in die Köpfe. Auch dazu haben wir von Frau Merkel keinen Vorschlag, sondern nur Blabla gehört.
Also Fehlanzeige!
Dem Aufschrei nach der PISA-Studie folgte hektische Aktivität. Inzwischen haben wir
hektische Lähmung. Ich verstehe nicht, warum es so schwer sein soll, Schulautonomie und
Durchlässigkeit zu organisieren. Ich verstehe nicht, warum wir Kinder nach wie vor
gleichschalten. Ich verstehe nicht, wie wir es zulassen können, dass 23 Prozent der
Jugendlichen ohne ausreichende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben die Schulen verlassen.
Wenn damit nicht endlich Schluss sein wird, wenn die Chancen der Kinder und der
Jugendlichen nicht endlich verbessert werden, dann werden die Chancen Deutschlands rapide
sinken.
Deswegen ist es richtig, dass wir heute sagen: Wir müssen in Bildung und in Forschung
investieren. Diese Bereiche dürfen den Sparmaßnahmen, die an vielen Stellen richtig
sind, nicht zum Opfer fallen. Diese Zukunftsinvestitionen in Forschung und Technologie
müssen gerade vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit erfolgen. Hier darf nicht gespart
werden. Im Gegenteil!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meine Damen und Herren, bei allen Problemen, die wir haben, halte ich nichts davon,
Deutschland bzw. die deutsche Wirtschaft, die deutsche Politik und die deutschen Verbände
schlecht zu reden; denn wir reden uns damit selber schlecht. Ich glaube, dass dieses Land
die Kraft hat, aus der Krise herauszufinden. Die Bereitschaft ist vorhanden. Die Lobby
derer, die sagen: "Reformen ja, aber nicht bei uns!",
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Müntefering!)
hat spätestens mit dem heutigen Tag klar gesagt bekommen, dass man damit nicht mehr
durchkommt.
Wir brauchen die Allianz mit den Bürgerinnen und Bürgern. Das wollen wir im Interesse
aller, im Interesse unserer Kinder und unserer Kindeskinder. Wir müssen endlich wieder
das Ganze bzw. das Gemeinwohl im Blick haben. Dann können wir es schaffen.
Im Vorfeld ist ja viel über die Regierungserklärung geredet worden.
(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Aber nicht bei uns! - Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das
sollte ein Jahrhundertwerk sein?)
Manchmal hatte ich das Gefühl: Wenn der Kanzler all dem gerecht werden wollte, was gesagt
worden ist, dann hätte er über Wasser gehen oder mit fünf Broten und ein paar Fischen
die ganze Nation satt und glücklich machen müssen. Weil wir aber Menschen sind, kann man
keine Wunder erwarten. Man kann jedoch erwarten, dass wir das Notwendige tun. Was das
Notwendige ist, hat der Kanzler sehr eindrücklich in Form der Agenda 2010 dargestellt.
Sie steht Ihrem Chaos, Frau Merkel und Herr Stoiber, und der allgemeinen Eierei gegenüber.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Osterzeit naht!)
Ich kann nur empfehlen: Machen Sie mit, damit es mit Deutschland endlich wieder aufwärts
geht!
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
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