Rede des Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern Dr. Edmund
Stoiber (CSU) zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur
Veränderung"
vom 14. März 2003
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren!
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Wahlsieger!)
Millionen Menschen in Deutschland haben Angst, Angst um eine sichere Zukunft. Das gilt
sowohl für den außenpolitischen wie auch für den innenpolitischen Bereich. In weiten
Teilen unseres Landes herrscht tiefe Depression.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie glauben, das, was ich hier sage, lächerlich machen zu
können, kennen Sie offenbar die Wirklichkeit nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Eine richtige Therapie - Sie haben heute versucht, Therapien zu verordnen - setzt eine
richtige Analyse voraus. Wenn Sie sich vor Augen halten, dass laut einer Umfrage von
Gallup Deutschland, die in fast 100 Ländern durchgeführt wurde, nur noch 13 Prozent der
Deutschen optimistisch gestimmt sind und dass Deutschland damit mit Abstand
auf dem letzten Platz liegt, dann kann ich ganz offen sagen: Natürlich herrscht in
diesem Lande gegenwärtig eine depressive Stimmung, wie ich sie in meinem Leben noch nicht
erlebt habe.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Katrin Dagmar Göring-Eckardt
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seien Sie doch nicht so traurig!)
Die heutige Debatte über die Zukunft Deutschlands ist überfällig.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mach ein Flasche Champagner auf!)
Aber sie wird überschattet von der Krise um den Irak. In der Außenpolitik sehen wir,
dass Säulen, die die Weltordnung bisher getragen haben und die uns fünf Jahrzehnte lang
Frieden und Freiheit gesichert haben, ins Wanken geraten. Die UN, die NATO und die
Europäische Union sind gespalten wie nie zuvor.
Dafür trägt diese Bundesregierung Mitverantwortung,
(Hubertus Heil [SPD]: Quatsch!)
und zwar durch ihre Vorwegfestlegungen und durch die Verweigerung des transatlantischen
Dialogs. Im deutschen Interesse muss unser gemeinsames Ziel lauten: Die Irakfrage darf
nicht zu einem dauerhaften Schaden führen, nicht für Deutschland, für Europa, für die
NATO und für die UN.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich möchte nicht mehr die Differenzierung zwischen Kriegswilligen und Friedfertigen
aufgreifen, die Sie in diesem Zusammenhang in diesem Hause getroffen haben. Ich möchte
festhalten - das sollte niemand mehr bestreiten -: Alle hier in diesem Hause wollen
Frieden. Niemand will den Krieg. Deshalb sollte man mit diesen Dingen sehr vorsichtig
sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Krieg ist immer eine Katastrophe,
(Hubertus Heil [SPD]: Dann muss man auch etwas dagegen tun!)
wo auch immer auf der Welt. Doch Friedenswille allein genügt nicht, um den Frieden zu
bewahren.
(Hubertus Heil [SPD]: Wir tun was gegen den Krieg!)
Der Friedenswille der Bundesregierung hat den Diktator in Bagdad nicht beeindruckt. Es war
die amerikanisch-britische Entschlossenheit, die zur Wiederaufnahme der Inspektionen und
zu den diplomatischen Initiativen geführt hat. Der deutsche Beitrag dazu war gleich null.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wenn das richtig wäre,
hätten wir schon Krieg!)
Herr Bundeskanzler, Sie halten sich zugute, die Inspektionen seien ein wirksames
Instrument. Aber Sie verschweigen erneut, dass nur die militärische Drohung, die Sie
abgelehnt haben, den Erfolg der Inspektoren überhaupt möglich gemacht hat. Wenn es nach
Ihnen gegangen wäre, wären im Irak keine Inspektoren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Peter Dreßen [SPD]: Das ist eine dumme
Unterstellung!)
Was Deutschland militärisch leistet, dieser militärische Beistand - Überflugrechte,
(Horst Kubatschka [SPD]: Die wollten Sie verbieten!)
Schutz amerikanischer Stützpunkte, ABC-Schützenpanzer, Patriot-Raketen und
AWACS-Einsätze, Hilfe zur See -, trennt uns nicht.
(Zurufe von der SPD: Ach!)
Doch außenpolitisch trennen uns Welten, nämlich infolge Ihres Sonderweges seit August
letzten Jahres Herr Bundeskanzler. Sie haben, statt den Dialog mit unseren amerikanischen
Freunden zu suchen, eine Mauer des Schweigens aufgebaut. Wir müssen schon heute daran
arbeiten, die Kluft zwischen Amerika und den internationalen Bündnissen wieder zu
schließen. Deswegen waren auch die Reise und die Gespräche der Kollegin Merkel so wichtig und notwendig.
(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ludwig
Stiegler [SPD]: Da hat nur noch der Stoiber gefehlt!)
Die Erfahrung der letzten Monate zeigt doch eindeutig: Partner mit Einfluss auf die
Vereinigten Staaten
(Hubertus Heil [SPD]: Und Rückgrat!)
kann nur ein einiges Europa sein. Herr Bundeskanzler, Sie haben heute - ich zitiere - ein
starkes, geeintes Europa und einen geeinten Kontinent, der Nationalismen überwindet,
angemahnt. Gegenwärtig erleben wir aber eine Renaissance nationalstaatlicher
Sonderwege, die der deutsche Bundeskanzler mit der Ausrufung des deutschen Weges im August
des letzten Jahres eingeleitet hat.
Ihre Vorgänger, insbesondere Helmut Kohl, hätten schon im Vorfeld der Krise alles
versucht, die Europäer zusammenzuhalten. Vor allen Dingen hätte er den Draht in die
Vereinigten Staaten niemals abreißen lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [SPD]: Er hätte
das Scheckbuch gezogen!)
Eine solche Spaltung Europas hätte es mit der Union nicht gegeben. Dass die kleinen
Nationen jetzt einen eigenen Minikonvent stattfinden lassen, um sich gegen bestimmte
Maßnahmen, die Sie mit Ihren Kollegen aus den großen Ländern erörtern, abzustimmen,
halte ich für eine Katastrophe für die weitere Integration Europas.
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)
Wir haben immer versucht, genau das zu verhindern. Es war immer deutsche Außen- und
Europapolitik, nie zwischen großen und kleinen Ländern zu differenzieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Bundeskanzler, nicht nur außenpolitisch steht Deutschland in gewisser Weise vor
einem Scherbenhaufen. Auch innenpolitisch wissen die Menschen in Deutschland nicht mehr,
wie es weitergehen soll.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie führen sich rhetorisch auf
wie eine Scherbe! - Peter Dreßen [SPD]: Ach Gott, Herr Stoiber!)
Im Ergebnis haben Sie heute eingeräumt, was Sie im vergangenen Jahr noch erbittert
bestritten haben.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie führen sich nicht einmal wie
ein Scherbenhaufen, sondern nur wie eine einzelne Scherbe auf!)
Deutschland ist leider ein Sanierungsfall. Sie haben heute eingeräumt, dass die
Lohnzusatzkosten, die Steuern und die Staatsabgaben zu hoch sind.
(Horst Kubatschka [SPD]: Wer hat sie hochgetrieben?)
In der Analyse kommen Sie langsam in der bitteren Realität an, die Ihre Politik letztlich
mit verschuldet hat.
(Peter Dreßen [SPD]: Daran sieht man mal, welch einen Saustall Sie uns hinterlassen
haben!)
Vor dieser ehrlichen Analyse haben Sie sich bis zu den Wahlen gedrückt.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Die ganze Wahrheit ist jedoch: Nach viereinhalb Jahren unter Ihrer Regierung befinden sich
Wirtschaft und Arbeitsmarkt in einem steilen Abstieg.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)
Sie haben die Probleme nicht gelöst, sondern Probleme geschaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [SPD]: Machen Sie doch einmal einen
Vorschlag!)
Für Ihre heutigen Ankündigungen gilt: zu wolkig, zu orientierungslos, zu wenig und zu
spät. So führen Sie unser Land nicht aus der Krise.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE
GRÜNEN]: Null Optimismus! - Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber
Sie ganz bestimmt nicht! Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man Lust, die Füße auf den
Tisch zu legen!)
Wolkig ist Ihre Regierungserklärung, weil Sie wesentliche Positionen im Nebel lassen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Meine Güte!)
Was heißt "Wir müssen bestimmen, was künftig zum Kernbereich der gesetzlichen
Krankenversicherung gehört und was nicht"? Was heißt "Wir sind dabei, die
Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen
kann"?
(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie lange denn noch?)
Orientierungslos ist Ihre Regierungserklärung, weil Sie noch im Oktober des letzten
Jahres in Ihrer damaligen Regierungserklärung kreditfinanzierten Finanzspritzen eine
klare Absage erteilt haben. Sie sagten damals, dass solche Finanzspritzen keine
Wirkung entfalten würden. Heute preisen Sie solche Finanzspritzen als Wundermittel für
die Bauwirtschaft und die Kommunen an. Herr Bundeskanzler, auch wenn Sie das heute
abstreiten, bleibt es richtig: Das ist nichts anderes als ein Strohfeuer auf
Pump; denn auch die Kreditmittel der KfW sind natürlich staatliche Mittel, weil der Staat
für die Schulden haftet. Deswegen ist dies nur ein Trick. Sie machen
genau das, was Sie vor einem halben Jahr von diesem Platze aus noch kritisiert
haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Orientierungslos ist ebenso, dass Sie hier im Bundestag neue billige Kredite zur
Förderung des Wohnungsbaus versprechen, während Sie mit dem
Steuervergünstigungsabbaugesetz, das heute im Bundesrat abgelehnt wurde, die Demontage
der Eigenheimzulage betreiben.
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie falsch verstanden! Es geht nicht um
den Wohnungsbau!)
So viel Schizophrenie in der Regierung war in Deutschland noch nie.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Zu wenig bietet Ihre Regierungserklärung für den Mittelstand, der sehnlichst auf
umfassende Entbürokratisierung und spürbare Entlastungen wartet. Ihr "Small
Act" für den Mittelstand ist wahrlich zu klein geraten. Zu spät kommen Ihre
Ankündigungen, der Max-Planck-Gesellschaft erst im nächsten Jahr eine Ausgabenerhöhung
von 3 Prozent in Aussicht zu stellen, die Sie noch vor zwei Monaten verweigert haben,
obwohl es früher Zusagen gegeben hat, dass man genau in diesem innovatorischen Bereich
mehr Mittel zur Verfügung stellen will. Ihre Klagen über zurückgehende Innovationen
nützen gar nichts, wenn Ihre Regierung genau das Gegenteil von dem tut, was notwendig
wäre, um Innovationen zu fördern, Wissenschaftler im Land zu halten und vor allen Dingen
Wissenschaftler ins Land zu holen.
Zu spät kommt Ihre Regierungserklärung für Hunderttausende von Menschen, die allein in
den letzten Wochen und Monaten arbeitslos geworden sind oder ihre Existenz verloren haben.
Wieder einmal versprechen Sie Mut zur Veränderung. Viele Regierungserklärungen von Ihnen
haben dies als Überschrift gehabt. Wenn Sie heute tatsächlich mutig gewesen wären, dann
hätten Sie Ihre Dutzende Steuererhöhungen zurückgezogen, die heute im Bundesrat
gescheitert sind
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und auch im Vermittlungsausschuss nicht unsere Zustimmung erhalten werden. Herr Müntefering, Sie können sich darauf verlassen:
Natürlich gibt es auch innerhalb der CDU/CSU eine breite Diskussion.
(Hubertus Heil [SPD]: Was für eine breite Diskussion?)
Aber wir arbeiten eng zusammen, was den Erfolg, den wir in den letzten Wochen und Monaten
erzielt haben, begründet hat. Machen Sie sich mehr Sorgen um Ihre als um unsere Partei.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Franz Müntefering [SPD]:
Blockierer! - Hubertus Heil [SPD]: Blockade-Ede!)
Was sollen die Menschen über folgende Worte denken: "Die Menschen erwarten, dass wir
die Belastungen durch Steuern und Abgaben senken"? - Das haben Sie
heute hier gesagt. Gleichzeitig bürden Sie den Bürgern und der Wirtschaft allein in
diesem Jahr Belastungen in Form von Abgaben und Steuern in Höhe von zusätzlich 24
Milliarden Euro auf. Mit diesem Vorgehen werden Sie mit Sicherheit nicht das Vertrauen der
Bürger bekommen. Auf der einen Seite weniger Belastungen für die Bürger zu versprechen,
auf der anderen Seite 36 knallharte Steuererhöhungen in
Ihrem Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuererhöhungsgesetz ist,
vorzulegen, das ist Schizophrenie. Dafür werden Sie bei den Bürgerinnen und
Bürgern niemals Verständnis finden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Franz Müntefering [SPD]: Sie lassen die Städte
und die Gemeinden im Stich!)
Wenn Sie heute tatsächlich mutig gewesen wären, dann hätten Sie Ihr
Wahlkampfversprechen gehalten. Vor einem halben Jahr waren Sie noch der Überzeugung:
Steuererhöhungen sind ökonomischer Unsinn und schaden Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland. - Diese Kehrtwende wäre tatsächlich Mut zur Veränderung. Wir alle müssen
uns darüber klar werden
(Franz Müntefering [SPD]: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung!)
und dies auch den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land deutlich machen: Deutschland
befindet sich in der größten Strukturkrise seit 1949. Das Grundübel in Deutschland ist
die Massenarbeitslosigkeit. Massenarbeitslosigkeit zerstört Lebensperspektiven. Sie
zerrüttet die öffentlichen Haushalte und die Sozialkassen. Es ist heute jedem klar: Mehr
Arbeitslose bedeuten weniger Beitrags- und Steuerzahler. Weniger Beitrags- und
Steuerzahler bedeuten weniger Sozialversicherungs- und Steuereinnahmen. Arbeitslosigkeit
vernichtet das Einkommen, den Wohlstand und die soziale Sicherheit von Millionen Menschen.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Machen Sie einen Vorschlag!)
Nicht Reformen führen zum sozialen Kahlschlag in unserem Land, sondern das Hinnehmen von
Massenarbeitslosigkeit. Das ist der entscheidende Ansatzpunkt bei allen
Reformvorschlägen, die wir bisher gemacht haben.
(Zurufe von der SPD: Welche?)
- In der letzten und in dieser Legislaturperiode. Von Ihnen wurden sie immer sofort als
sozialer Kahlschlag bezeichnet.
Ich erinnere mich, was Sie auf dem Kongress des DGB gesagt haben: Sie haben versprochen,
dass es selbstverständlich keine Eingriffe in die sozialen Besitzstände gäbe.
(Ute Kumpf [SPD]: Woher wissen Sie denn das alles?)
- Ich war einen Tag später da. - Mir ist vorgehalten worden, dass wir den Kahlschlag
planen würden, während Sie den sozialen Besitzstand großartig sichern. Man will auf
Ihrer Seite nicht begreifen, dass sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist heute unsere
primäre soziale Aufgabe.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unter den 4,7 Millionen Arbeitslosen befinden sich nicht nur ältere und gering
qualifizierte, sondern auch immer mehr junge und gut qualifizierte Menschen. Selbst sie
finden phasenweise keine Arbeit mehr oder verlieren ihre sicher geglaubte Stelle. Weil
viele junge Menschen keine Perspektive mehr sehen, wandern natürlich auch die Besten ab.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Leo Kirch!)
Wir verlieren Hunderttausende von jungen, gut ausgebildeten Menschen. Das können wir uns
auf Dauer nicht leisten. Deswegen sollte man im Zusammenhang mit der Debatte über die
Zukunft Deutschlands neben der Zuwanderung viel intensiver über die Auswanderung reden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutsche Traditionsunternehmen, die bis vor kurzem als krisenfest galten, bauen Tausende
Stellen ab oder überlegen, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die wandern aus Bayern aus!)
37 700 Insolvenzen haben im letzten Jahr Kapital in Höhe von 50 Milliarden Euro
vernichtet.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bayerische Landesbank! - Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles bayerische Unternehmen!)
Der DAX ist im internationalen Vergleich deshalb am stärksten abgestürzt, weil in
Deutschland die Hoffnung, dass sich hier etwas ändert, am geringsten ist. Deutschland
lebt zunehmend von der Substanz; aber auch die Substanz ist bald aufgebraucht. Das
Wachstum in Deutschland bleibt seit Jahren hinter dem Wachstum in Europa zurück.
Deutschland ist das Schlusslicht. Deutschland fällt ab.
Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Der
Anteil Deutschlands am Welthandel ist im letzten Jahrzehnt von 11 Prozent auf 8 Prozent
zurückgegangen. Das zeigt: Auch wenn der Export nominal gewachsen ist, verlieren wir
Anteile. Deswegen müssen wir hier darüber reden. Derjenige, der darauf hinweist, macht
Deutschland nicht schlecht. Das Wichtigste für eine Therapie ist die richtige Analyse.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Deswegen müssen wir uns mit der Frage auseinander setzen, auf welchen Gebieten wir
verloren haben. Über 4 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland waren in den letzten
Jahren im globalen Wettbewerb nicht mehr wettbewerbsfähig.
(Franz Müntefering [SPD]: Eine schlechte Diagnose führt nicht zu einer richtigen
Therapie!)
Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland den Sprung von der Nationalökonomie in die
Globalökonomie noch nicht geschafft hat. Diesen alles entscheidenden Sprung werden Sie
mit den Strukturkonservativen in der SPD und den Gewerkschaften niemals schaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Hier wurde Herr Bsirske zitiert, der Ihre wolkige Rede auch noch als großen Angriff auf
den Sozialstaat bezeichnet. Wenn man diese Äußerung hört, kann man sich vorstellen, was
in solchen Köpfen vorgeht. Sie wollen nicht begreifen, dass unser Land dringend Reformen
braucht, wenn wir den Wohlstand für unsere Kinder und Kindeskinder sichern wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Klaus Uwe Benneter [SPD]: Genau das hat Schröder
auch schon gesagt!)
In Ihrer heutigen Rede hätten Sie etwas mehr über den deutschen Tellerrand schauen
müssen. Andere Länder haben längst ihre Hausaufgaben gemacht. Finnland und Norwegen
haben in den vergangenen Jahren ihre Staatsquote um 10 Prozent gesenkt.
(Ludwig Stiegler [SPD]: Aber sie liegen noch höher als wir!)
Schweden, ein Land mit einer ähnlichen Sozialstaatstradition wie Deutschland, hat durch
zahlreiche mutige Strukturreformen die Arbeitslosenquote von 8 Prozent auf 5 Prozent
gesenkt.
(Franz Müntefering [SPD]: Das sind Sozialdemokraten! Das schaffen wir hier auch!)
In diesen Ländern gibt es wieder mehr Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
(Franz Müntefering [SPD]: Es sind die Sozialdemokraten, die das machen, weil die das
können! Die können das nämlich besser!)
- Herr Müntefering, Sie haben vor einigen
Wochen festgestellt: Es macht doch nichts, wenn die anderen Länder ein etwas höheres
Wachstum haben; dann holen sie im Grunde genommen nur auf. Sie müssen aber auch
feststellen, dass die anderen Länder nicht nur aufholen, sondern dass uns die Engländer,
Franzosen, Iren und Holländer überholt haben. Sie überholen uns nicht nur, sondern sie
haben auch ein höheres Wirtschaftswachstum. Das ist die Realität, mit der man sich
auseinander setzen muss.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Franz Müntefering (SPD):
Stoiber ist auch überholt worden!)
Die Finnen, Norweger und Schweden sind nicht besser als die Deutschen, aber sie werden
offensichtlich besser regiert. Die Folge von Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche ist
ein akuter Notstand in den öffentlichen Kassen. Den deutschen Ländern brechen die
Steuereinnahmen weg.
(Franz Müntefering [SPD): Sie wollten doch einen Plan vorlegen! Wo bleibt der denn?)
Werfen Sie einen Blick in die Länderhaushalte! Dort fehlen die Mittel für Straßen,
Schulen und Krankenhäuser. Das kostet zusätzliche Arbeitsplätze in der Bauindustrie.
Die rot-grüne Steuerreform hat den Kommunen einen Kahlschlag verpasst. Die Verschuldung
der Kommunen ist allein in den vergangenen eineinhalb Jahren um 50 Prozent explodiert,
Herr Müntefering. Viele Städte sind bereits
so stark verschuldet, dass sie keine neuen Kredite mehr aufnehmen können und dürfen.
Deshalb bringen billige Kredite den meisten Kommunen nichts.
Längst fordern Länder und Kommunen gemeinsam, dass die rot-grüne Erhöhung der
Gewerbesteuerumlage sofort rückgängig gemacht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Das würde den Kommunen schneller etwas bringen als alles, was Sie heute vorgeschlagen
haben.
Zuerst haben Sie mit der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage den Städten mehr als 2
Milliarden Euro pro Jahr entzogen. Jetzt bieten Sie ihnen billige Kredite an. Es ist doch
eine absurde Politik, den Kommunen zuerst Geld wegzunehmen, aber dann zu beklagen, dass es
ihnen schlecht geht, und ihnen billige Kredite anzubieten.
(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch dem
Steuervergünstigungsabbaugesetz zu!)
Schon heute hangeln sich die Stadtkämmerer mit kurzfristigen Krediten von Monat zu Monat.
(Ludwig Stiegler [SPD]: Weil der Freistaat so verschuldet ist!)
Viele Stadthallen verfallen. Städtische Schulen und Bibliotheken werden geschlossen,
Stadttheater und Orchester aufgelöst.
Angesichts dieser dramatischen Lage sind Ihre heute angekündigten Maßnahmen völlig
ungenügend. Arbeitslosigkeit treibt auch die Sozialversicherungen in den Ruin. Die
Sozialsysteme stehen vor dem Kollaps. Die steigenden Beiträge treiben die
Lohnzusatzkosten in die Höhe.
(Hubertus Heil [SPD]: Haben Sie jetzt mal einen Vorschlag?)
Das macht Arbeit teuer und schadet der Wettbewerbsfähigkeit. Es kostet Arbeitsplätze und
führt wiederum zu Beitragsausfällen. Das ist der Teufelskreis der deutschen Krankheit,
den wir durchbrechen müssen.
Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Arbeitslosigkeit, entgegen Ihren ständigen
Bekundungen, nicht konjunkturelle, sondern zu 85 Prozent strukturelle - also hausgemachte
- Ursachen hat. Diese Ursachen liegen im Arbeitsmarkt. Notwendig sind Reformen,
die deutsche Arbeit und deutsche Produkte auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig machen.
Sie aber haben Gesetze beschlossen, die das Gegenteil bewirken. Wer den bedeutenden
Kosten- und Standortfaktor Energie mit der Ökosteuer im nationalen Alleingang verteuert,
vernichtet in Deutschland, das im Wettbewerb mit anderen Ländern in Europa steht,
Arbeitsplätze.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es bleibt dabei, Herr Müntefering: Wer nach
der Finanzplanung auch in den nächsten Jahren die Investitionsausgaben des Staates
zusammenstreicht, sodass sie ein Rekordtief von 10 Prozent des Haushalts erreichen,
vernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.
(Franz Müntefering [SPD]: Weshalb lehnen Sie dann das Steuervergünstigungsabbaugesetz
ab?)
Wer den Mittelstand und den Mut junger Existenzgründer durch noch mehr Bürokratie, das
verschärfte Betriebsverfassungsgesetz und das Scheinselbstständigengesetz stranguliert,
vernichtet ebenfalls Arbeitsplätze in Deutschland.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auch wer jetzt im Hauruckverfahren den Meisterbrief im Handwerk infrage stellt,
(Zurufe von der SPD: Aha!)
und zwar mit einer solch eigenartigen Begründung, der vernichtet in Deutschland
Arbeitsplätze.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])
Sie werden auf erbitterten Widerstand stoßen, wenn Sie den Meisterbrief in der
angekündigten Art und Weise - darauf läuft es praktisch hinaus - schleifen wollen; denn
damit zerstören Sie ein wichtiges Strukturelement unseres deutschen Mittelstands.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Franz Müntefering [SPD]: Entbürokratisierung,
Herr Stoiber!)
Wer bei 4,7 Millionen Arbeitslosen mehr Zuwanderung will und den Anwerbestopp aufheben
will, der überfordert den deutschen Arbeitsmarkt und bewirkt Einwanderung in die sozialen
Sicherungssysteme Deutschlands.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ludwig Stiegler [SPD]: Wer so was sagt, redet
Unsinn!)
Das bleibt das Problem. Hier werden wir uns niemals verständigen können, wenn Sie an der
Ausweitung der Zuwanderung festhalten.
Herr Bundeskanzler, zu lange haben Sie der Strukturkrise Deutschlands tatenlos zugesehen.
So wenig politische Führung wie durch die jetzige Regierung war noch nie in Deutschland.
Zugleich gilt: Eine so konstruktive Opposition war nie in Deutschland.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir, die Opposition, machen konkrete Vorschläge.
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Zurufe von der SPD: Wo?)
Frau Merkel hat vorhin auf die Entscheidung der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion von Anfang Februar hingewiesen. Wann hat es das zu Ihrer
Oppositionszeit gegeben, dass man auch schmerzhafte Vorschläge unterbreitet, obwohl man
sich damit einen Schiefer einzieht?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Auch wenn ich hier immer nur Ihr höhnisches Lachen höre, sage ich trotzdem: Wir reichen
der Bundesregierung die Hand zu notwendigen Strukturreformen; denn Deutschland ist ein
Sanierungsfall. Wir als Opposition können in der gegenwärtigen Phase - Deutschland
befindet sich in der tiefsten Strukturkrise - unsere Mitarbeit bei den notwendigen
Entscheidungen nicht verweigern.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Hubertus Heil [SPD]: Sie tun es aber!)
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten in den Jahren 1997 und 1998, als Herr Schröder und Herr Lafontaine die damalige
Steuerreform
(Zuruf von der SPD: Das war ein Schuldenprogramm!)
mutwillig gestoppt haben, um der Regierung Kohl Schaden zuzufügen. Das haben sie zwar
erreicht. Aber sie haben damit auch Deutschland Schaden zugefügt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer heutigen Regierungserklärung zum Teil das
angekündigt, was Sie damals bekämpft haben. Sie hätten es heute leichter, wenn Sie 1998
bestimmte Veränderungen in unseren sozialstaatlichen Sicherungssystemen akzeptiert
hätten. Das muss man - Sie ringen ja um Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung - immer
wieder deutlich machen.
Wir müssen in einem ersten Schritt die Weichen neu stellen. Wir müssen schnell und
wirksam reagieren. Dann können wir über die notwendigen und erforderlichen Maßnahmen
für den Umbau Deutschlands diskutieren. Deutschland braucht sofort eine Initiative zur
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, damit sehr schnell neue Arbeitsplätze entstehen.
Deutschland braucht Ruhe in der Steuerpolitik, damit Investoren wieder auf verlässliche
Rahmenbedingungen vertrauen können. Deutschland braucht sofort eine Vereinbarung über
die Belastungsgrenzen in den sozialen Sicherungssystemen, damit wettbewerbsfähige
Arbeitsplätze entstehen.
(Hubertus Heil [SPD]: Sehr konkret!)
Deutschland braucht sofort eine Entlastung der öffentlichen Haushalte, damit
Entscheidungsspielräume und Luft für Investitionen entstehen. Deutschland braucht sofort
eine Stärkung des Vertrauens in die Wirtschaft sowie eine Ermutigung des Mittelstands
durch Deregulierung, damit Anleger und Unternehmer wieder in Deutschland investieren.
Ein Schwerpunkt eines Akutprogramms muss mehr Freiheit und Flexibilität auf dem
Arbeitsmarkt sein.
(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Uwe Benneter [SPD]: Herr Stoiber, wir sind hier nicht im
Bierzelt! Werden Sie mal konkreter!)
Wir brauchen - das hat schon Frau Merkel gesagt; wie
Sie das nennen, ist für mich nicht entscheidend - ein Sofortprogramm, mit dem sich
wesentliche Dinge sehr schnell umsetzen lassen; denn wir benötigen für
den wirklichen Umbau des Sozialstaates, wenn wir zum Beispiel das Arbeitsmarktrecht
neu regeln und es aus dem Richterrecht herauslösen wollen, ein bisschen mehr Zeit. Aber
so viel Zeit haben wir nicht. Also müssen wir meines Erachtens sehr schnell ein
Akutprogramm oder ein Sofortprogramm vorlegen, mit dem wir die wichtigsten Dinge regeln.
Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Dazu sollten meines Erachtens die
Regelungen zum Kündigungsschutz nicht für Unternehmen gelten, die weniger als 20
Mitarbeiter beschäftigen.
(Franz Müntefering [SPD]: Ach ja! - Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat Schröder
vorgetragen!)
Ich bin für jede sinnvolle Lösung offen. Das ist gar keine Frage. Derzeit gilt der
Kündigungsschutz nicht für Betriebe mit maximal fünf Beschäftigten. Das schützt zwar
die fünf Beschäftigten, verhindert aber in vielen Fällen, dass es sechs, sieben, acht,
neun oder zehn Beschäftigte werden.
(Widerspruch bei der SPD)
Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an: Es gibt in Deutschland 1,46 Millionen Betriebe
mit bis zu fünf Beschäftigten, aber nur 260 000 Betriebe mit sechs bis neun
Beschäftigten. Nur 200 000 Betriebe haben zwischen zehn und 20 Beschäftigte.
(Hubertus Heil [SPD]: Warum nicht 100?)
Dieses Ungleichgewicht zeigt doch ganz eindeutig: Der Schwellenwert von fünf Mitarbeitern
wirkt durchaus als Jobbremse.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Was Sie vorschlagen, ist nicht ehrlich. Sie sagen: Die Zeitarbeitsverträge zählen nicht
mehr mit. Das ist Trick 17.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So ist es!)
Das ist keine offene, Vertrauen erweckende Politik. Sie trauen sich nicht, weil Sie es in
Ihrer Fraktion nicht können, aber Sie wollen trotzdem versuchen, die Notwendigkeiten zu
regeln. Also gehen Sie einen unklaren Weg. Der führt nicht zum Erfolg, Herr
Bundeskanzler.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Clement, für alle Unternehmen sollen bei
Neueinstellungen Abfindungsregelungen unter Verzicht auf den Kündigungsschutz ermöglicht
werden. Die Höhe der Abfindung wird gesetzlich geregelt. Unternehmen und Betriebsrat
sollen ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien selbst betriebliche Bündnisse für
Arbeit abschließen können. Ihr Vorschlag, der dies nur unter dem Vorbehalt der
Zustimmung der Tarifvertragsparteien zulässt, wird der dramatischen Situation in unserem
Land mit 4,7 Millionen Arbeitslosen in keiner Weise gerecht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie beschreiben in Ihrer Regierungserklärung eigentlich nur den Status quo, denn was Sie
vorschlagen, geht jetzt schon. Das ist aber doch nichts Neues, das führt uns nicht
weiter.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der nächste Krisenherd, den wir bereinigen, ist die Steuerfront. Bürger und Wirtschaft
warten doch sehnlichst auf Ruhe an der Steuerfront. Sie warten sehnlichst auf die
Botschaft: In Deutschland werden in den nächsten Jahren die Steuern nicht mehr erhöht.
(Franz Müntefering [SPD]: Wir senken sie doch! Wer denn sonst?)
Sie können gar nicht erahnen, wie viel Vertrauen Sie mit dem
Steuervergünstigungsabbaugesetz verloren haben.
Die Gemeindefinanzreform, die Sie heute anpreisen und die den Kommunen dauerhafte und
solide Finanzen sichert, muss natürlich umgehend kommen. Aber die haben Sie 1998 bereits
angekündigt. Sie haben dreieinhalb Jahre nichts getan. Sie haben im Sommer des letzten
Jahres die Kommission eingesetzt. Diese Kommission tagt kaum.
(Zuruf von der SPD: Das ist doch Blödsinn!)
Prüfen Sie doch einmal nach, wie dort getagt wird. Es ist noch gar kein Konzept
ersichtlich, was dabei eigentlich herauskommen kann.
(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind hier nicht auf dem Nockherberg!)
Sie kündigen etwas zum 1. Januar 2004 an. Das ist wieder eine Ihrer vielen
Ankündigungen, die bei der Arbeitsweise, die Ihre Regierung in diesem Punkt an den Tag
legt, nicht realistisch sind. Dreieinhalb Jahre haben Sie nichts getan und jetzt sagen
Sie: Ich mache alles in einem halben Jahr.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der SPD: Was haben Sie gemacht? Gar
nichts!)
Ich glaube, dass wir folgenden Weg gehen sollten: Die Lohnzusatzkosten müssen in den
nächsten Jahren unter 40 Prozent sinken. Darin sind wir uns, glaube ich, einig. Das muss
meines Erachtens gesetzlich garantiert werden. Wenn wir uns nicht selbst binden, werden
wir nicht die Chance haben, unter 40 Prozent zu kommen. Wenn wir nicht unter 40 Prozent
kommen, dann haben wir keine Chancen mehr.
Es gibt leider große Unternehmen in Deutschland - ich will die Namen nicht nennen; Sie
kennen die Unternehmen, Herr Bundeskanzler -, die interne Anweisungen haben, keine
Erweiterungsinvestitionen mehr in Deutschland zu tätigen. Die Verlagerung von
Arbeitsplätzen findet zuhauf statt. 230 Arbeitnehmer verlieren in Passau bei der Firma
Siemens ihren Arbeitsplatz. Sie verlieren ihn an Griechenland und an Rumänien. Warum
verlieren sie ihn? - Auf den Vorhalt sagt mir Herr von Pierer: Es tut mir Leid, aber die
Arbeitnehmer dieser Länder haben heute dieselbe Produktivität wie bayerische
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber sie sind billiger. Ich als Vorsitzender einer
Aktiengesellschaft muss günstig produzieren. Das sind die Probleme, mit denen wir es zu
tun haben. Dass wir uns heute in einer so schwierigen Situation befinden, haben wir uns
vor einem oder vor zwei Jahren vielleicht nicht vorstellen können. Deswegen hätte Ihre
heutige Regierungserklärung ein größerer Wurf sein müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir müssen über das Arbeitslosengeld reden. In diesem Bereich gibt es verschiedene
Vorschläge. Ich habe in den vergangenen Tagen eine Befristung der Zahlung des
Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate zur Diskussion gestellt.
(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn die CDU dazu?)
Ihr heute vorgestelltes Vorhaben geht in die gleiche Richtung. Was Einsparungen angeht,
können wir sicherlich zu gemeinsamen Lösungen kommen. Außerdem sollten meines Erachtens
die Haushaltsmittel der Bundesanstalt für Arbeit für Weiterbildungsmaßnahmen halbiert
werden. Damit kann der Arbeitslosenversicherungsbeitrag sehr schnell um mindestens einen
Prozentpunkt gesenkt werden.
Auch wenn das unpopulär ist: Der Abstand zwischen Mindestlohn und Sozialhilfe muss
dringend vergrößert werden. Genauso wie die Sachverständigen schlage ich vor, die
Sozialhilfe für Arbeitsfähige generell um ein Viertel zu senken. Das ist schon heute
möglich, wenn einem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger nachgewiesen wird, dass er eine
Arbeit, die ihm angeboten wird, nicht annimmt. Aber wir müssen meines Erachtens ein
Stück weitergehen. Wer arbeitet, der muss mehr in der Tasche haben als jemand, der
nicht arbeitet. Das muss ein fester Grundsatz sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn dieser Grundsatz gelten soll, dann müssen wir dafür sorgen, dass alle, die arbeiten
können und wollen, auch tatsächlich Arbeit erhalten. Dafür zu sorgen ist unsere
Aufgabe. Diejenigen, die arbeiten, sollen mehr in der Tasche behalten dürfen. Mit Ihrem
Vorschlag rennen Sie bei uns offene Türen ein. Wenn Sie heute dafür eintreten, dass ein
Arbeitslosenhilfe- oder Sozialhilfeempfänger künftig vom Lohn für eine Arbeit, die er
angenommen hat, mehr behalten soll - gegenwärtig wird ihm faktisch fast alles abgezogen
-, dann muss ich Sie daran erinnern, dass wir schon vor einem Jahr entsprechende
Vorschläge gemacht haben. Damals sind wir bei Ihnen auf Widerspruch gestoßen. Sie und
die Gewerkschaften haben uns kritisiert. Ich freue mich, dass Sie mittlerweile etwas am
Baum der Erkenntnis der Union genascht haben. Das sollten Sie öfter tun.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich wiederhole: Mit dem von uns vorgeschlagenen Weg ist kein Sozialabbau, sondern der
Abbau von Schwarzarbeit verbunden. Sozialhilfe ist eine zweite Chance; aber sie darf kein
Lebensstil sein. Dass sie das ist, ist bei uns leider häufig der Fall.
Deutschland braucht einen Befreiungsschlag zur Stärkung der Wirtschaft und zur Stärkung
des Vertrauens in die Unternehmen. Ich teile Ihre Meinungen, was die Vorstandsvorsitzenden
und viele Selbstverpflichtungen der Mitarbeiter in den großen Betrieben anbelangt. Das
halte ich für richtig. Nur durch das, was Sie beschrieben haben, kann man Vertrauen
aufbauen.
Wir brauchen zur Stärkung des Vertrauens in Wirtschaft und Unternehmen auch eine
stärkere Deregulierung. Ich meine, dass man ein Kleinbetriebsrecht für Betriebe mit bis
zu 20 Beschäftigten schaffen sollte. Diese Kleinbetriebe können sich keinen
Steuerexperten und erst recht keine Rechtsabteilung leisten. Unter anderem schlage ich
deshalb vor, dafür zu sorgen, dass das Teilzeit- und Befristungsgesetz nur in Betrieben
mit mehr als 20 Mitarbeitern gilt. Das Arbeitszeitgesetz muss für Betriebe mit bis zu 20
Mitarbeitern flexibilisiert werden. Die geltende Arbeitsstättenverordnung muss für
Kleinbetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten aufgehoben werden. Das wäre ein weiteres
Stück Entriegelung unseres komplizierten Arbeitsmarktes und damit eine Hilfe gerade für
diejenigen Betriebe, in denen überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze entstehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Herr Bundeskanzler, alles, was Sie heute wissen, haben Sie schon bei Ihrer
Regierungserklärung im Oktober letzten Jahres gewusst. So lange ist das noch nicht her.
Alles, was Sie heute wissen, haben Sie auch im Wahlkampf gewusst. Deshalb bietet Ihre
heutige Regierungserklärung eine treffliche Übersicht über die Fehler und über die
Versäumnisse Ihrer Regierungszeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Was Sie vortragen, das sind zum großen Teil Ankündigungen, Wiederholungen von
Ankündigungen, Appelle, Drohungen in Richtung Wirtschaft und Beschwichtigungsgesten in
Richtung Gewerkschaften. Damit werden wir den Sanierungsfall Deutschland nicht lösen.
Täuschen Sie sich nicht, Herr Bundeskanzler: Mehr als zwei Drittel der Menschen in
Deutschland trauen Ihnen nicht mehr zu, dieses Land in eine bessere Zukunft zu führen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hier in diesem Hause haben Sie eine knappe Mehrheit,
(Franz Müntefering [SPD]: Aber eine Mehrheit!)
aber bei der Bevölkerung haben Sie keine Mehrheit mehr.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen werden Sie es auch nicht schaffen, den Menschen Mut zu machen.
Deutschland - da stimme ich Ihnen zu - hat Substanz. Deutschland hat kreative und
engagierte Menschen. Wir können Deutschland wieder zu einem starken, sozial sicheren und
zukunftsfähigen Land machen, wenn wir bereit sind, Einschnitte in unsere großartigen
sozialen Sicherungssysteme nicht mehr nur als sozialen Kahlschlag zu diffamieren, und wenn
wir in diesem Hause und darüber hinaus über Einschnitte diskutieren können, damit der
soziale Wohlstand in unserem Lande morgen und übermorgen erhalten bleibt und unsere
Kinder nicht das Schicksal unserer Eltern haben. Denen ist es schlechter gegangen als
meiner Generation. Ich möchte, dass es meinen Kindern morgen und übermorgen in diesem
Land mindestens so gut geht wie uns. Das ist in Gefahr.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, reichen wir die Hand, um einiges
mitzumachen. Aber Unsinn werden wir nicht mitmachen.
Herzlichen Dank.
(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)
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