Rede des Bundesaußenminister Joschka Fischer vor dem Deutschen
Bundestag zu den internationalen Konsequenzen der terroristischen Angriffe in den USA und
ihren Auswirkungen auf die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland
Vom 26. September 2001
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!
Die furchtbaren Verbrechen, der terroristische Angriff auf die Vereinigten Staaten von
Amerika, auf die Bürgerinnen und Bürger der USA und auf die Regierung der USA, stellen
eine Zäsur für die internationale Politik, aber auch so haben wir alle und
Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, fern vom Ort des furchtbaren Geschehens
an den Fernsehschirmen, es empfunden einen tiefen Einschnitt in unseren Alltag dar.
Ich möchte heute hier vor allen Dingen über die internationalen Konsequenzen und auch
über die Konsequenzen für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland sprechen.
Denn wenn wir heute über den außenpolitischen Etat reden, dann können wir diese völlig
neue Orientierung, die uns durch einen verbrecherischen Terrorismus aufgezwungen wurde,
nicht ignorieren.
Ich hatte die Gelegenheit, in den USA selbst Gespräche zu führen. Ich möchte dem Hohen
Haus den Eindruck vermitteln, wie tief die Menschen in den USA, auch die
Entscheidungsträger, durch diesen furchtbaren Terroranschlag getroffen sind und wie
wichtig und notwendig die internationale nicht nur politische, sondern auch
emotionale Solidarität mit den Opfern wie auch mit dem gesamten Land, das von
diesem furchtbaren Schlag getroffen wurde, ist.
Meine Damen und Herren, Bündnisse sind nicht nur für Schönwetterzeiten gedacht. Wenn
wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Keiner von uns, wirklich keiner hätte gedacht,
dass die USA es sein würden, die als Erste Art. 5 des NATO-Vertrages in Anspruch nehmen.
Wir alle sind in den vergangenen Jahrzehnten davon ausgegangen, dass es ein europäischer
Staat, ja dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar die Bundesrepublik Deutschland sein
würde.
Nun wurden die USA auf furchtbare Art und Weise angegriffen. Das ist zugleich ein Angriff
auf die offene Gesellschaft. Wenn zivile Flugzeuge, die alle von uns benutzen, durch einen
todesverachtenden und mörderischen Terrorismus in Lenkwaffen umgewandelt werden, wenn
diese in Kamikazeangriffen in Hochhäuser gejagt werden, um diese zum Einsturz zu bringen,
dann ist dies ein Angriff auf die offene Gesellschaft, dann ist dies auch ein Angriff auf
uns alle. Wir werden uns dieser Herausforderung stellen müssen.
Insofern geht es hier nicht nur um eine abstrakte Bündnissolidarität. Ich bin der festen
Überzeugung: Über kurz oder lang werden auch wir direkt damit konfrontiert werden.
Dieses Verbrechen wurde von den Tätern ganz offensichtlich zum Teil in Deutschland und
anderen europäischen Staaten geplant.
Dieser Terrorismus ist international. Auch für uns wird sich nicht
nur die Frage stellen, wie wir uns gegen ihn sichern, sondern vor allen Dingen auch, was
wir tun müssen, um uns dieser Herausforderung nicht nur zu stellen, sondern sie auch
wirklich zu bestehen, indem wir diesem Terrorismus keine Chance zur Weiterentwicklung
einräumen.
Das Recht auf Selbstverteidigung ist für mich eine Selbstverständlichkeit, wie es auch
in dem Beschluss des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen heißt. Wir werden hier in Zukunft vor
schwierigen Entscheidungen stehen. Die Resolution des Bundestages war das habe ich
auf meiner Reise in den USA persönlich erlebt sehr hilfreich. Denn in der
US-Öffentlichkeit wird jetzt natürlich sehr genau hingeschaut, wie die Bündnispartner
sich tatsächlich verhalten.
Wir werden schwierige Entscheidungen zu treffen haben. Dazu müssen Information und
Konsultation bei den Planungen gegeben sein. Dann werden wir unsere eigene
Entscheidungskompetenz über das, was wir für verantwortbar und notwendig halten,
wahrzunehmen haben. Auch das hat die Entschließung des Bundestages klar gemacht.
Meine Damen und Herren, es wäre falsch, zu verschweigen, dass diese Entwicklung bei
vielen Menschen große Sorgen und Ängste auslöst, und zwar quer zu den politischen
Lagern. Das ist nicht eine Frage eines grün-alternativen, pazifistischen oder linken
Lagers. Bis weit hinein in die Wählerschaft der Union, ja in konservativste Kreise
herrscht Angst vor dieser neuen Herausforderung sagen wir es doch direkt: auch
Kriegsangst , Angst vor einer nicht kontrollierbaren Konfrontation.
Auf diese Ängste müssen wir eingehen. Eine Demokratie lebt von der Zustimmung der
Menschen. So wichtig die Solidarität der Verantwortlichen hier ist die
Bundesregierung und auch der Bundestag haben ihre Position zweifelsfrei klar gemacht
, genauso wichtig wird es sein, dass wir die Menschen mitnehmen und sie überzeugen.
Wir haben die neue Herausforderung in der Tat entsprechend darzustellen und zu erklären.
Wir müssen auf die Ängste dort reagieren, wo sie begründet sind, und sie aufzulösen
versuchen, wo sie nicht begründet sind.
Ich möchte nochmals deutlich machen, worum es diesem Terrorismus geht. Haben wir denn
eine Alternative, indem wir nicht, auch nicht mit militärischen Mitteln, auf ihn
reagieren? Würde der Verzicht auf eine Reaktion diese Terroristen von ihrem nächsten
Anschlag abhalten, wäre dies ja eine rationale Position. Ich behaupte aber: Wenn Sie sich
mit den Erkenntnissen der Dienste und Sicherheitsbehörden sowie mit dem beschäftigen,
was öffentlich vorliegt, dann kommen Sie nicht um die Feststellung herum, dass das Ziel
dieser Terroristen schlicht und einfach darin besteht, durch diese Terroranschläge einen
Krieg der Kulturen zu entfesseln, den islamisch-arabischen Raum umzustürzen und in Brand
zu setzen sowie Israel zu zerstören.
Duckten wir uns weg, führte dies nicht zu einem Ende des Terrors; vielmehr beflügelte
eine solche Botschaft eher den Terror. Die erforderlichen Reaktionen wünscht sich die
Bundesregierung nicht; aber das ist die bittere Wahrheit, die wir den Menschen bei uns
sagen müssen. Deswegen werden wir nicht umhinkommen, diese Herausforderung anzunehmen.
Die offene Gesellschaft, die Demokratie, muss sich gegenüber dem menschenverachtenden
Terrorismus durchsetzen; anderenfalls brauchen wir über eine Weltordnung, wie wir sie uns
für das 21. Jahrhundert vorstellen, allen Ernstes nicht zu sprechen.
Es ist offensichtlich, dass auf diesem Gebiet jetzt auch politische Gestaltungsaufgaben
auf uns zukommen. Wenn man über Selbstkritik redet, dann vielleicht in folgender Weise
das meine ich gar nicht parteipolitisch : Wir hätten eigentlich durch die
Entwicklung auf dem Balkan und das Wiederentstehen des Nationalismus gewarnt sein müssen.
Wir hätten nach dem Ende des Kalten Krieges im Laufe der 90er-Jahre begreifen müssen,
dass eine ökonomische Globalisierung allein nicht zureichend ist, wenn die politischen
Konflikte in der Welt zunehmen, wenn Ungerechtigkeiten nicht angegangen werden und wenn es
keine multilaterale Anstrengung der Weltgemeinschaft nicht einer oder zweier
Mächte gibt, eine Ordnung zu schaffen, die auf Menschenrechte, Demokratie,
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gründet und die in den heißen Konflikten dieser Welt
einen Interessenausgleich herbeizuführen versucht. Wenn wir das nicht aufnehmen, wird der
Kampf gegen die terroristische Herausforderung nicht zu gewinnen sein.
Meine Damen und Herren, darauf kommt es ganz entscheidend an. Das bezeichne ich als die
richtige Kritik an der Globalisierung. Es gibt aber auch eine falsche Kritik. Wenn die
Ereignisse zu einer weiteren Abschottung führen, wenn die offene Weltwirtschaft und auch
die offene Kommunikation im Endeffekt dazu führen, dass wir uns vielleicht aus den
Notwendigkeiten der inneren Sicherheit heraus wieder abschotten, wenn sich
Angstdenken breit macht, wenn wir uns zwar dagegen wehren, Menschen, die anders aussehen
und aus einem anderen Kulturkreis kommen, als Feinde zu sehen, aber unter dem Druck des
Terrorismus mehr und mehr so fühlen das wird sein Ziel sein , dann, so
fürchte ich, werden wir in eine Entwicklung geraten, in der nicht mehr die Offenheit, der
Dialog, auch nicht mehr die wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten einer offenen
Gesellschaft und auch einer offenen Weltwirtschaft überwiegen werden, und dann wird die
Abschottung zu Ängsten, diese wiederum zu Ideologien und diese zu Konfrontationen
führen. Das wäre der erste große Sieg der Terroristen.
Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir jetzt die Kürze der Zeit lässt eine
längere Ausführung nicht zu die politischen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Das
bedeutet aber auch, dass wir im Rahmen der Antiterrorkoalition die Menschenrechte nicht
vergessen dürfen.
Hier wird nun von mancher Regierung, deren demokratische Legitimation ich
formuliere das jetzt sehr zurückhaltend nach unseren Maßstäben nicht gegeben
ist, versucht, mit der politischen Opposition reinen Tisch zu machen. Aber auch hier
besteht die Aufgabe und Notwendigkeit der Differenzierung. In diesem Zusammenhang betone
ich erneut: Die Kritik an den Ereignissen in Tschetschenien, die wir formuliert haben,
beinhaltet keine Kritik an der Legitimation ich behaupte sogar: an der Pflicht
der Russischen Föderation, ihre territoriale Integrität zu erhalten. Russland hat
nicht nur das Recht auf, sondern auch die Pflicht zur Selbstverteidigung gegenüber
Terrorismus. Das habe ich nie infrage gestellt. Man muss aber sehr wohl die Frage stellen,
ob dies Menschenrechtsverletzungen in dem Ausmaß legitimiert, wie sie etwa unabhängige
Menschenrechtsorganisationen dargestellt haben.
Diese Kraft der Differenzierung dürfen wir nicht aufgeben. Gäben wir sie auf, bedeutete
das ebenfalls, dass der Terrorismus mit seiner Ideologie einen Sieg davongetragen hätte.
Die offene Gesellschaft muss sich jetzt erweisen. Das gilt auch für unser humanitäres
Engagement. Wir haben die Afghanistan-Unterstützungsgruppe, der wir vorsitzen, für
morgen erneut einberufen, denn wir sehen in diesem Land eine humanitäre Katastrophe.
Allerdings existiert diese humanitäre Katastrophe, die sich jetzt verschärft, seit
Jahren. Ich frage jetzt hier, ob wir bisher wirklich angemessen auf die Tatsache reagiert
haben, dass seit 1992 in Algerien 100 000 Menschen ihr Leben verloren, oder ob unsere
Reaktion nur dadurch bedingt war, dass die Massaker dort und nicht in Europa stattfanden.
Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam für die Zukunft daraus lernen, dass wir mit dieser
terroristischen Herausforderung nur fertig werden, wenn wir eine neue Ära des Engagements
für diese eine Welt einleiten. Anderenfalls werden wir meines Erachtens in unseren
Bemühungen scheitern.
Lassen Sie mich deswegen noch ganz kurz, fast im Telegrammstil sagen, wie wichtig es sein
wird, dass sich der Nahostkonflikt nicht weiter entwickeln kann und dass wir auf dem
Balkan keine Eskalation zulassen. Hätten wir auf dem Balkan nicht eingegriffen, wäre die
Lage der vertriebenen albanischen Muslime in Albanien, in Mazedonien und anderswo weit
schlechter. Schauen Sie sich die Erfahrungen in Bosnien an und die Kontakte, die es damals
zum islamistischen Radikalismus gab. Daran erkennen Sie, wie wichtig es war, dass Europa
keinen Krieg der Religionen zugelassen hat, sondern dass sich das "christliche
Europa" für europäische Muslime, ihre Menschenrechte und elementaren Interessen
eingesetzt hat. Angesichts dessen kann ich nur sagen: Der Balkan macht ebenfalls klar,
dass wir uns verstärkt einmischen müssen, und zwar nicht, um eine Kriegspolitik zu
betreiben. Lassen wir doch endlich diesen Quatsch von gestern! Wenn wir uns hier nicht mit
allem, was wir haben, von der militärischen Seite bis zur humanitären, über Wirtschaft,
Politik und Kultur, einmischen, dann kann das unabsehbare Folgen zeitigen.
Ein letzter Satz: Ich bedaure es sehr, dass Europa hinsichtlich der politischen
Integration noch nicht weiter vorangekommen ist. Gerade in dieser Krise mussten wir es
wieder erleben. Wir dürfen aber nicht beim Bedauern stehen bleiben. Ich war immer der
Meinung, dass wir in diesem Jahrzehnt die politische Union, das international
handlungsfähige Europa brauchen, bedingt durch die Erweiterung der Europäischen Union,
bedingt durch die ökonomischen Konsequenzen des Euro und bedingt durch internationale
Krisen, die von außen auf uns einwirken.
Ich ging allerdings nicht davon aus, dass es zu einer solchen Zäsur kommen würde. Umso
wichtiger wird es sein, dass wir Europäer jetzt noch sehr viel schneller politisch
erwachsen werden.
Ich bedanke mich.
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