Rede des Staatsministers im Auswärtigen Amt Dr. Ludger Volmer
zu den Terroranschlägen in den USA und den Beschlüssen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie der Nato vor dem Deutschen Bundestag
Vom 19. September 2001
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Der Terrorangriff auf die USA hat großes menschliches Leid gebracht. Er hat ein
Nervenzentrum der westlichen Welt zerstört. Er hat eine aufregende multikulturelle Stadt
verwüstet. Er hat aber noch ein Weiteres bewirkt: Er hat das festgefügte Weltbild ins
Wanken gebracht, das manch einer mit den dominant wirkenden USA verband.
Der Schock in der amerikanischen Gesellschaft über den Verlust der vermeintlichen
Unverwundbarkeit geht mit der verstörten Einsicht bei uns einher, dass die Garantiemacht
für unsere Sicherheit nun Opfer geworden ist. 50 Jahre lang haben die USA geholfen, in
Europa Sicherheit, Freiheit und Demokratie zu sichern. Deshalb ist es jetzt, in dieser
schweren, schicksalshaften Stunde, an uns Europäern, den USA beizustehen.
Wir werden dies, wie es Bundeskanzler Gerhard Schröder erneut betont hat, mit aller
Entschlossenheit tun, aber auch mit der nötigen Besonnenheit, mit Augenmaß und mit dem
Blick auf die Folgen unseres Handelns. Wir bewundern eine amerikanische Haltung, die
Trauer und Wut zwar in starke Worte kleidet, jedoch ohne übereilte Aktionen versucht,
gemeinsam mit den Partnern einen vernunftgesteuerten Plan zu entwickeln, wie die neue,
erschreckende Dimension des Terrorismus bekämpft werden kann, ohne die Falschen zu
treffen, ohne potenzielle Freunde zu Gegnern zu machen, ohne den gezielten Kampf gegen
Verbrecherorganisationen in einen allgemeinen Kampf der Kulturen münden zu lassen.
Außenminister Fischer ist heute in Washington, um unseren amerikanischen Freunden erneut
unsere Solidarität zu versichern und mit ihnen das weitere Vorgehen abzustimmen.
Die NATO hat mit ihrem Beschluss vom
12. September ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Vereinigten Staaten
gesetzt. Die nordatlantische Allianz ist kein Schönwetterbündnis. Gegen
menschenverachtende Mörder, die ohne Hemmungen die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens
zerstören wollen, muss das Bündnis gemeinsam auftreten. Wir als Verbündete des
angegriffenen Partners haben nicht nur das moralische Recht, sondern auch die moralische
und politische Verpflichtung, unseren Beitrag zur Verteidigung zu leisten und die Täter,
Organisatoren und Sponsoren terroristischer Akte zur Rechenschaft zu ziehen. Diese
Verpflichtung wird ausdrücklich auch in der Resolution des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 12. September 2001 formuliert, in der der Angriff auf die USA
als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit bewertet wird.
Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus wird schwierig und langwierig sein. Täter,
Mithelfer und Anstifter müssen bestraft werden. Tun wir das nicht, dann wird dies nur zu
einer weiteren Eskalation einladen. Soll die Gefährdung aber nicht binnen kurzer Zeit in
anderer Gestalt wieder erstehen, muss die gesamte internationale Gemeinschaft in einer
konzertierten Aktion, in einer weltweiten Koalition, handeln. Es steht nicht Kultur gegen
Kultur, sondern Zivilisation gegen Barbarei.
Aus vielen Ländern kommen dazu ermutigende Signale: aus Russland, aus China, aus Pakistan
und aus Indien. Die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan haben
ihre uneingeschränkte Unterstützung zugesagt. Es bildet sich eine regionale Koalition,
die zum einen dem Terror entschlossen entgegentreten will und zum anderen verhindern
möchte, dass das afghanische Talibanregime die gesamte Region destabilisiert. Ägypten
hat eine internationale Terrorismuskonferenz vorgeschlagen; die EU wird am Freitag einen
Sonderrat zur Terrorismusbekämpfung einberufen.
Fast die gesamte arabisch-islamische Welt das scheint mir
entscheidend zu sein hat die Terroranschläge schärfstens verurteilt. Auch sie hat
wie wir teure Angehörige in den Trümmern des World Trade Centers verloren. Nicht wenige
arabische Staaten haben selber sehr schmerzvolle Erfahrungen mit dem Terrorismus gemacht.
Wenn die Spuren der Täter in die arabisch-islamische Welt weisen, so soll dies Anlass
sein, die arabischen Staaten in der internationalen Allianz zur Bekämpfung dieser Geißel
der Menschheit willkommen zu heißen.
Dieser Kampf wird umso effektiver sein, je mehr sich der Dialog der Kulturen vertieft.
Wenn aber der Kulturdialog ein unabdingbarer außenpolitischer Faktor ist, dann muss er
auch ein innenpolitischer sein und bleiben. Es war eine großartige Geste, dass Präsident
Bush in einer Washingtoner Moschee zu Toleranz gegenüber den Moslems aufgerufen hat. Auch
in Deutschland sollten wir auf unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zugehen
und ihnen zeigen, dass wir den Unterschied zwischen Islam und Islamismus sehr genau
begriffen haben.
Ein weiterer Faktor für die Bekämpfung des islamistischen Terrors sind rasche und
sichtbare Erfolge im israelisch-palästinensischen Friedensprozess. Jede weitere
Eskalation im Nahen Osten würde die extremistischen Kräfte in der gesamten islamischen
Welt fördern.
Die Bundesregierung begrüßt daher die gestrige Erklärung von Präsident Arafat als
einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Frieden im Nahen Osten. Es ist eine strategische
Entscheidung der Palästinenser, sich unmissverständlich auf die Seite der
Antiterrorkoalition zu stellen und dazu beizutragen, dass die internationalen Netzwerke
des Todes zerstört werden können. Wir hoffen, dass Präsident Arafat die Kraft hat, sich
in dieser Stunde null der internationalen Politik mit seinem Bekenntnis zum
Waffenstillstand und zum Neuanfang gegen interne Widersacher, die heute Nacht wieder
gezündelt haben, zu behaupten, und dass er von israelischer Seite die entsprechende
Resonanz erhält.
Die Bundesregierung und insbesondere Bundesaußenminister Fischer haben sich in den
letzten Monaten engagiert und fortlaufend um eine Wiederbelebung des Friedensprozesses
bemüht.
Der Außenminister hatte sich auch mit Präsident Arafat mehrfach kurzgeschlossen und die
gestrige Erklärung eng mit ihm abgestimmt. Wir werden dieses Engagement fortsetzen. Wir
werden weiterhin daran arbeiten, dass die Israelis und die Palästinenser Gespräche
aufnehmen, und zwar wie es der Mitchellplan vorsieht: ohne jede Vorbedingung.
Auch die pakistanische Seite hat die Terroranschläge schnell und entschieden verurteilt.
Dieser Schritt war in der gegenwärtigen schwierigen und aufgeheizten Lage alles andere
als einfach. Präsident Musharraf hat sich klar zu Unterstützungsersuchen der USA
bekannt. Seine Regierung ist bemüht, einen breiten nationalen Konsens für einen
konstruktiven Kurs zu finden. Sie bedarf unserer Unterstützung, damit nicht über innere
Destabilisierung islamistisch-fundamentalistische Gruppen die Verfügungsmacht über das
pakistanische Atomwaffenpotenzial erhalten.
Wenn militärische Aktionen gegen die Beherrscher Afghanistans gerechtfertigt und
unvermeidlich sein sollten, stellt sich die Frage, mit welchem Ziel sie geführt werden
sollen. Wenn sie unvermeidlich sind, dürfen sie nicht die Voraussetzung dafür
zerstören, dass auch Afghanistan selber die Chance auf eine Zukunft, die Chance auf eine
aufgeklärte Regierungsführung, die Chance auf die Bewältigung des Armuts- und
Flüchtlingsproblems, die Chance auf Modernisierung und Demokratie hat.
Meine Damen und Herren, viele Menschen sind verunsichert, gerade auch Mitglieder und
Anhänger meiner Partei, aber auch die anderer Parteien. Sie haben Angst, auf eine schiefe
Bahn zu geraten, auf der die Politik in unaufhaltsame militärische Eskalation abrutscht.
Viele sehen sich vor der Gewissensfrage, eventuell dem Einsatz militärischer Mittel
zustimmen zu müssen. Sie sehen sich damit einer Situation ausgesetzt, die sie durch
präventive Sicherheitspolitik hatten verhindern wollen. Solche Bedenken sind ernst zu
nehmen. Wenn man diese Menschen dafür gewinnen will, militärische Aktionen auch gegen
große innere Zweifel zu tolerieren, müssen deren Dimensionen überschaubar sein und muss
ein Ende absehbar sein. Es muss deutlich sein, dass die absolute Priorität bei
politischen Maßnahmen liegt.
Auch deshalb möchte ich sagen: Der 11. September 2001 hat die Welt von Grund auf
verändert. Vieles, was über den Tag hinausweist, wird grundsätzlich neu zu beraten
sein. Wir werden eine neue Sicherheitspolitik entwerfen müssen, die dem Terrorismus als
Bedrohung Nummer eins begegnen kann. Diese wird nicht in erster Linie militärisch
ausgerichtet sein. Eine umfassende Politik der Krisenprävention muss darauf abzielen, dem
Terror mit den Mitteln einer internationalen Strukturpolitik den sozialen Resonanzboden zu
entziehen. Vieles übrigens, was in der Globalisierungsdebatte der letzten Monate von
Kritikern vorgetragen wurde, sollte ernsthaft bedacht werden. Auch wenn keine noch so
ungerechte Struktur Terror rechtfertigen kann, müssen wir realistischerweise sehen, dass
ein Mehr an Gerechtigkeit in der Welt ein Mehr an Fairness bei der Lösung von
Regionalkonflikten, ein Mehr an Dialogen auf Augenhöhe auch mit den kleineren und
ärmeren Staaten, ein Mehr an Sicherheit für uns bedeuten wird.
Lassen Sie mich abschließend noch sagen: Das Zusammenstehen in dieser schicksalhaften
Stunde macht uns bewusst, dass unsere transatlantischen Gemeinsamkeiten essenziell sind,
Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Fragen, die uns in der letzten Zeit viel
beschäftigt haben, dagegen geringfügig. Bei aller furchtbaren Tragik der Ereignisse
liegt darin sogar eine Chance für eine erneuerte transatlantische Partnerschaft, die
Chance für einen intensivierten Dialog gerade auch der jüngeren Generation diesseits und
jenseits des Atlantiks, die den Weltkrieg, die Nachkriegszeit und den Kalten Krieg nicht
oder nicht bewusst erlebt hat. Die Bekämpfung von Barbarei wird von nun an die gemeinsame
Agenda von Amerikanern und Europäern mitbestimmen und andere einbeziehen, die am Prozess
der Zivilisation mitarbeiten wollen.
Ich danke Ihnen.
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