Rede des Bundesinnenministers Otto Schily zu den
Terroranschlägen in den USA und den Beschlüssen des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen sowie der Nato vor dem Deutschen Bundestag
Vom 19. September 2001
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen!
Heute erinnere ich mich an die US-amerikanischen Soldaten, die ihr Leben im Kampf gegen
den Faschismus, den Nationalsozialismus geopfert und aufs Spiel gesetzt haben. Ich
erinnere mich an die US-amerikanischen Soldaten, die am Ende des Krieges mit uns Kindern
ihre Essensrationen geteilt haben. Ich erinnere mich an die jungen Amerikaner, die zu uns
gekommen sind, um die Demokratie in Deutschland aufzubauen. Ich erinnere mich an die
amerikanischen Geschäftsleute, die - so im Gespräch mit meinem Vater - zusammen mit
ihren ehemaligen Feinden die Wirtschaft in Deutschland wieder aufgebaut haben. Ich
erinnere mich an den Tag, an dem wir gemeinsam vor dem Schöneberger Rathaus John F.
Kennedy zugejubelt haben, weil er an der Seite Berlins und für Freiheit stand. Ich
erinnere mich an viele Gespräche mit vielen respektablen Botschaftern der Vereinigten
Staaten, Herrn Burns, Herrn Burd, Herrn Kornblum und anderen, die in großer
demokratischer Offenheit auch über Meinungsverschiedenheiten in der Politik mit uns
gesprochen haben. Ich erinnere mich an die Worte des amerikanischen Präsidenten Bush vor
der Mauer hier in Berlin.
Ich finde, wir haben allen Grund, in diesen Tagen die Unverbrüchlichkeit der Freundschaft
zu Amerika zu betonen.
Das ist nicht nur eine Frage der Rhetorik, sondern etwas, was unser Volk mit dem
amerikanischen Volk verbindet, der Nation, die in der Menschheitsgeschichte allen voran
als Symbol für die Menschenrechte, für Freiheit und Demokratie gilt.
In diesen Tagen sind wir Zeugen mörderischer Verbrechen geworden, deren grauenvolle
Dimension uns alle im tiefsten Innern erschauern lässt. Es sind Verbrechen, in denen sich
Hass, Fanatismus, Feindschaft und Menschenverachtung auf unvorstellbare und erschreckende
Weise verdichtet haben. Es sind Tage des Schreckens, der Trauer und des Zorns. Es sind
für viele das ist schon in einigen Debattenbeiträgen gesagt worden - auch Tage der
Sorgen, der Angst und der Furcht.
In dieser Lage muss jeder seine Verantwortung kennen und wahrnehmen. Wir müssen
Festigkeit und Entschlossenheit beweisen. Zaghaftigkeit und Unsicherheit dürfen nicht die
Devise sein. Wir sind auf die Mitwirkung aller angewiesen. Deshalb danke ich heute dem
gesamten Parlament - ich möchte über ein paar kleinere Unstimmigkeiten hinwegsehen -,
dass es diese Einmütigkeit bewiesen hat.
Wir sollten diese Einmütigkeit in den Vordergrund rücken.
Ich bedanke mich auch für das Angebot zur Zusammenarbeit. Gernot Erler und Frau Merkel
haben es hier mit Recht angesprochen: Ich glaube in der Tat, dass uns der American Spirit,
der Geist des Mutes und des aufrechten Ganges, den wir heute in Amerika beobachten
können, als Vorbild dienen kann. Die Feuerwehrleute, die Bergungskräfte, die Börsianer,
die Schuhputzer, die Krankenschwestern, die unzähligen Menschen, die sich zur Blutspende
bereit erklärt haben, und auch Hillary Clinton mit ihrer eindrucksvollen Rede sind
Vorbilder für uns. Wir sollten in dieser Situation von unserer Zaghaftigkeit und von
unserem Hang zum Pessimismus Abschied nehmen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit Entschlossenheit, Klarheit und Festigkeit den
Kampf gegen den Terrorismus gewinnen werden. Aber dieser Kampf wird schwierig werden und
er wird lange dauern. Darüber sollte sich niemand Illusionen machen.
Ich neige bekanntlich nicht zu Dramatisierungen und Übertreibungen. Ich bin für
realistische Einschätzungen. Ich habe aktuell stets darauf hingewiesen, dass im
Augenblick keine konkrete Gefahr für unser Land besteht. Das ist die Einschätzung
unserer Dienste und unserer europäischen Nachbarn. Aber niemand sollte sich über den
Ernst der Lage täuschen. Die Sicherheitssituation kann sich in sehr kurzer Frist
grundlegend verändern.
Es ist allerdings nicht hilfreich, wenn sich einige in der Ausmalung ausufernder
Schreckensszenarien überbieten.
Nicht hilfreich ist ebenso, wenn manche die engagierte, gefahrvolle und schwere Arbeit
unserer Polizei und unserer Sicherheitsdienste wider besseres Wissen bemäkeln.
Gerade jetzt und auch künftig sollten wir unserer Polizei, den Sicherheits- und den
Verfassungsschutzbehörden unsere besondere Anerkennung, unseren besonderen Dank und auch
unser Vertrauen aussprechen.
Aber selbstverständlich werden wir unsere Anstrengungen erhöhen müssen. Manche
Gemächlichkeit und Umstandskrämerei müssen wir ablegen. In meinem Haus gilt der
Grundsatz - der gerade im Bereich der inneren Sicherheit seine Bedeutung hat -, dass sich
niemand dadurch auszeichnet, dass er mir umständlich erklärt, was angeblich nicht geht.
Vielmehr kam und kommt es stets darauf an, rasch herauszufinden, was geht, was zum Erfolg
führt.
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Anschläge haben wir zu Sofortmaßnahmen gegriffen, im
Bereich der Luftsicherheit, der Verkehrswege, der Infrastruktur insgesamt, des
Objektschutzes. Wir haben unsere Aufklärungsmaßnahmen verstärkt. Denn Aufklärung ist
natürlich das wichtigste Mittel im Kampf gegen den Terrorismus. Wir werden heute im
Kabinett eine Reihe von weiteren Maßnahmen beschließen. Diese, Herr Merz, sind - ich
sage dies, damit bei Ihnen kein Irrtum entsteht - noch nicht vollständig; das wird
weiterzuführen sein. Ich bedanke mich jedoch schon jetzt ausdrücklich für das Angebot,
das Sie, Herr Merz, gemacht haben, in diesen Fragen eng mit uns zusammenzuarbeiten. Das
ist der Konsens der Demokraten, der jetzt im Vordergrund stehen muss.
Ich bin froh darüber, dass Bedenken, die in kirchlichen Kreisen zeitweise durchaus
vorhanden waren, überwunden werden konnten und dass wir jetzt endlich dem Zustand ein
Ende bereiten, dass Vereine, die sich mit religiösen Zielsetzungen tarnen, weiter ihr
Unwesen treiben dürfen. Wir werden das Religionsprivileg im Vereinsrecht beseitigen.
Wir müssen zusammen mit der Polizei und unter Anwendung des Strafrechtes dafür sorgen,
dass wir alle terroristischen Gruppen erfassen, nicht nur jene, die ihre Zielsetzungen mit
Aktivitäten im Innern entfalten. Deshalb ist es dringend erforderlich, das
Strafgesetzbuch zu ändern. Wir werden das umsetzen, indem wir einen § 129 b einfügen.
Wir werden darüber hinaus auch andere Maßnahmen ergreifen müssen, etwa im Bereich der
Überprüfung des Sicherheitspersonals beim Luftverkehr. Auch dafür werden wir heute die
rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Überdies werden wir - das ist schon von mehreren
angesprochen worden - dafür sorgen müssen, dass wir den Geldern auf die Spur kommen, mit
denen der Terrorismus Mord und Totschlag finanziert. Das ist ja einer der schrecklichsten
Zusammenhänge, deren wir ansichtig werden.
Meine Damen und Herren, wir werden uns von manchen Vorurteilen und Denkgewohnheiten
verabschieden müssen. An anderer Stelle werden wir über das Zuwanderungsgesetz zu reden
haben. Ich werde mich - das sichere ich Ihnen zu - von diesem Projekt nicht verabschieden.
Das wäre ein Sieg der Terroristen. Diesen Sieg dürfen wir nicht zulassen. Ich bin dem
Herrn Bundeskanzler für das dankbar, was er in seiner Regierungserklärung dazu gesagt hat. Aber
eines muss auch klar sein: Das Sicherheitsproblem bei der Zuwanderung ist gar nicht in
erster Linie ein Problem der Arbeitsmigration, die wir steuern und regeln wollen, sondern
die Frage danach, welche Personen unter dem Zeichen des Flüchtlings- oder Asylschutzes zu
uns kommen. Darunter befinden sich leider einige, die das Asyl- und das Flüchtlingsrecht
missbrauchen.
Wenn sich unter denen einige befinden, die terroristischen Aktionen dienen, dann müssen
wir - das versteht sich von selber - diesen Herrschaften auf die Spur kommen.
Deshalb darf mir und anderen an dieser Stelle niemand in den Arm fallen: Es kann nicht
sein, dass bestimmte Dateien, die wir zur Verfügung haben, um diese Dinge aufzuklären,
nicht genutzt werden. Datenschutz ist in Ordnung, aber der Datenschutz darf nicht zur
Behinderung von Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung führen.
Kerstin Müller und auch einige von der SPD-Fraktion haben hier gesagt, der Rechtsstaat
dürfe dafür nicht geopfert werden.
Das stimmt mit meinen Überzeugungen überein. Alles andere wäre ja auch eine Torheit und
das sieht, glaube ich, niemand in diesem Hause anders. Aber man muss schon sehr
sorgfältig unterscheiden: Ist es ein Verstoß gegen die Freiheitsrechte, wenn wir dafür
sorgen, dass niemand seine Identität verschleiert oder andere darüber täuscht?
Identitätssicherung, damit der Staat seine Kontrollpflichten und Kontrollrechte ausüben
kann, ist in einem Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit.
Die Zeit lässt es nicht zu, dass ich Ihnen alle Einzelheiten vortrage.
Selbstverständlich gehört dazu auch, dass wir den Katastrophenschutz voranbringen. Wir
haben schon vor den Ereignissen einiges in Bewegung gebracht. Ich bin in dieser Beziehung
sehr dankbar für die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem Bund. Wir hatten
gestern eine Schaltkonferenz der Innenminister der Länder und des Bundes. Ich möchte
nicht versäumen, meinen besonderen Dank an meine Kollegen in den Ländern auszusprechen.
Es ist vorbildlich, in welcher Einmütigkeit und Entschlossenheit Bund und Länder gegen
den Terrorismus vorgehen und sich über die Maßnahmen geeinigt haben.
Es wird auch - das gehört zu dem, was wir gestern in der Schaltkonferenz gemeinsam
erörtert haben - ein Ineinandergreifen von militärischen und polizeilichen Operationen
notwendig sein. Wenn man es mit einer Herausforderung wie dem Terrorismus zu tun hat, darf
man sich nicht auf philosophische Haarspaltereien einlassen. Ich habe das übrigens
bereits viel früher, schon im vergangenen Jahr, der Weizsäcker-Kommission gesagt. Es ist
eine Situation, die eine Verbindung von polizeilichen und militärischen Strategien
erforderlich macht. Wir werden jetzt gegen Bin Laden, wo immer er sein sollte, vermutlich
nicht die üblichen Verfahren - ein Auslieferungsgesuch zu stellen, im Rahmen eines
Rechtshilfeverfahrens innerhalb von mehreren Jahren herauszufinden, wo er ist, um dann
vielleicht eine Entscheidung zu treffen - einhalten können. Auch im Kosovo-Konflikt gab
es, wie Sie feststellen können, wenn Sie den Dingen genau auf den Grund gehen, eine
polizeiliche Zielsetzung, die wir mit militärischen Mitteln gemeinsam durchgesetzt haben.
Es wird also ein Ineinandergreifen von militärischen und polizeilichen Strategien geben
müssen. Das darf aber nicht so missverstanden werden, dass nun die Bundeswehr überall in
der Bundesrepublik postiert werden soll; das ist nicht der Fall. Aber im Rahmen der durch
die Verfassung gezogenen Grenzen wird auch die
Bundeswehr ihre Aufgaben bei der Sicherung der Infrastruktur und militärischer
Einrichtungen in Deutschland zu erfüllen haben; das versteht sich ganz von selbst.
Ich bin nicht dafür, dass wir uns jetzt in Schuldzuweisungen verstricken. Herr Kollege
Glos, das sage ich an Ihre Adresse. Ich begrüße es, dass der Freistaat Bayern soeben
durch eine Kabinettsentscheidung den Personaleinsatz beim Verfassungsschutz erhöht hat.
Ich werde daraus nicht den Vorwurf ableiten, dass es in der Vergangenheit irgendwelche
Versäumnisse gegeben hat.
Ich habe mich in den Haushaltsdebatten der vergangenen Jahre in sehr guter Kooperation mit
dem Finanzminister für Mittel für die innere Sicherheit eingesetzt. Sie wissen - ich
habe das in jeder Haushaltsdebatte gesagt -, dass wir die Mittel für die Institutionen,
die für die innere Sicherheit zuständig sind, nicht gekürzt, sondern erhöht haben. Ich
habe einige Zahlen vor mir liegen, die ich Ihnen jetzt nicht alle erläutern kann. Ich
möchte nur folgende Zahl nennen: Für die Luftsicherheit haben wir seit 1998, also seit
unserem Regierungsantritt, 1,2 Milliarden DM aufgewendet. Das ist nun wahrlich kein
kleiner Betrag. Ich könnte Ihnen viele weitere Zahlen nennen. Sie haben Unrecht, Herr
Glos, wenn Sie sagen, wir hätten die Mittel für den BGS zurückgeführt; im Gegenteil.
Wir haben ihn nur anders organisiert. Das ist übrigens die BGS-Reform, die Ihre alte
Regierung beschlossen hat.
Wir wollen uns da nicht in irgendwelche Dinge verstricken.
Eines will ich Ihnen allerdings auch ankündigen: Wir werden den Personaleinsatz und die
Sachmittel für die innere Sicherheit an einigen Stellen verstärken müssen. Da muss ich
die Hilfe des Parlaments, vor allem natürlich die der Regierungsfraktionen, in Anspruch
nehmen. Das wird notwendig sein. Allerdings sollten nicht einfach nur quantitative
Forderungen gestellt werden. Es kommt vielmehr auf die Verbesserung der Qualität an.
Wer mit der Forderung, es müssten Zigtausende Polizeibeamte eingestellt werden, durch die
Lande wandert, den frage ich: Woher soll ich die eigentlich nehmen? Man muss sehr
vorsichtig sein, um die Dinge richtig zu entscheiden. Wir werden den
sicherheitsempfindlichen Bereichen den Vorrang geben. Dort werden wir eine Verstärkung
vornehmen. Das werden wir gemeinsam tun.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss sagen, dass für die Bundesregierung
Folgendes gilt: Wir müssen und wir werden gegen die Terroristen, die diese Verbrechen zu
verantworten haben, mit äußerster Konsequenz und mit der gebotenen Härte vorgehen. Wir
werden alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die
freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt. Wir werden
den Kampf gegen den hasserfüllten, menschenfeindlichen Terrorismus aber nur gewinnen,
wenn er zugleich ein Kampf für die Universalität und Unverbrüchlichkeit der Menschen
rechte ist, wenn er ein Kampf für geistige Freiheit, für soziale Gerechtigkeit, für den
Rechtsstaat und für die unbedingte Achtung der Würde des Menschen ist.
Wir dürfen uns nicht - ich wiederhole bewusst das, was der Bundeskanzler heute in seiner Regierungserklärung formuliert hat - in einen
angeblichen Kampf der Kulturen hineintreiben lassen. Im Gegenteil: Es ist an der Zeit,
dass wir ein geistiges Zeichen für den interkulturellen Dialog, für Aufklärung, für
Verständnisbereitschaft und geistige Offenheit setzen. Religiöser, hasserfüllter
Fanatismus hat in der Menschheitsgeschichte zu den schlimmsten Verbrechen geführt. Diese
Verbrechen waren zugleich immer die Verleugnung der vermeintlich eigenen religiösen
Überzeugungen, auf die sich die Fanatiker berufen haben.
Mit "geistiger Offenheit" meine ich sehr viel mehr als bloße Toleranz im Sinne
von Ertragen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Auffassungen. Geistige
Offenheit heißt, die eigenen Überzeugungen infrage zu stellen, infrage stellen zu lassen
und infrage stellen zu können, anstelle des Verharrens in starren Dogmen der
Gedankenfreiheit Raum zu geben und niemanden zu verdammen, der fortschreitende Erkenntnis
sucht.
Wir müssen uns heute und morgen in einer geistig-kulturellen Offensive vereinen, die die
Erkenntnisfähigkeit der Menschen in einer mitunter geistvergessenen Welt erweitert, ihre
moralischen Willensimpulse stärkt und ihre seelisch-geistigen Fähigkeiten gesunden
lässt. Niemand kann sich der Einsicht entziehen: Die Verbrechen beginnen im Geist und in
der Seele von Menschen, derer sich das Böse bemächtigt.
Der Kampf gegen das Böse ist ein realer Kampf. Das Böse ist eine geistige, eine
gesellschaftliche Realität. Wir werden und wir müssen diesen Kampf furchtlos aufnehmen.
Wir werden ihn gewinnen, wenn wir in uns und in den anderen den Frieden suchen und finden.
Vielen Dank. |