Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur
Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in
Afghanistan
Vom 11. Oktober 2001
Gerhard Schröder, Bundeskanzler [SPD] (von der SPD sowie von
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 7. Oktober haben die
Vereinigten Staaten von Amerika als Teil der notwendigen Antwort auf die terroristischen
Anschläge von New York und Washington mit militärischen Maßnahmen gegen die
Infrastruktur des terroristischen Netzwerks von Osama Bin Laden und gegen Einrichtungen
des Taliban-Regimes in Afghanistan begonnen. In dieser Situation wird von Deutschland
aktive Solidarität und verantwortliches Handeln erwartet und auch geleistet, eine
Solidarität, die sich nicht in Lippenbekenntnissen erschöpfen darf, und eine Politik,
die Deutschlands Verantwortung in der Welt, aber auch der Verantwortung der
Bundesregierung für die Menschen in Deutschland angemessen ist.
Übrigens haben wir das, was wir hier an politischen Aktivitäten entwickelt haben, nicht
zuletzt auch gemeinsam mit der Opposition erarbeitet. Ich sage sehr deutlich: Ich bin für
manchen Rat - auch für den, der nicht öffentlich gegeben wurde - dankbar. Das Gleiche
gilt für diejenigen, die in der Vergangenheit Verantwortung für unser Land getragen
haben und mit denen ich mich beraten habe.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)
Nicht nur bei uns stellen sich viele Menschen die Fragen: Welcher konkrete Beitrag wird im
Kampf gegen den Terrorismus von uns gefordert und welche Risiken müssen wir alle
miteinander dabei eingehen? Stehen wir vor einer neuen Phase internationaler
Instabilität, mit allen Konsequenzen für die äußere und innere Sicherheit, aber auch
mit allen Konsequenzen für unsere Freiheit? - Die Antwort der Bundesregierung und -
soweit ich das verstanden habe - fast des gesamten Hohen Hauses auf diese Fragen ist
eindeutig: Wir befinden uns mitten in einer entscheidenden und wahrscheinlich langwierigen
Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus.
Wir - das gilt für uns alle - haben diesen Konflikt nicht gewollt. Er ist uns durch
barbarische Attentate in den Vereinigten Staaten aufgezwungen worden. Aber wir nehmen
diese Auseinandersetzung mit dem Terrorismus an und wir werden sie miteinander gewinnen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)
Die Vereinigten Staaten von Amerika und wir als Verbündete führen keinen Krieg gegen
einzelne Staaten oder Völker und schon gar keinen gegen die islamische Welt insgesamt.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg.
Dr. Ilja Seifert [PDS])
Aber wer den Terrorismus fördert und unterstützt, wer seinen Hintermännern und
Drahtziehern Unterschlupf bietet, wer ihnen gestattet, ihre Netzwerke des Terrors zu
betreiben und ihre Verbrechen vorzubereiten, der wird dafür zur Rechenschaft gezogen.
Das Taliban-Regime hat all das gewusst. Die Machthaber in Kabul, die ja auch die
Unterdrücker ihres Volkes sind, hatten Zeit genug, den Forderungen der Staaten- und
Völkergemeinschaft nachzukommen. Sie haben die derzeitige Konfrontation gewollt.
Das afghanische Volk ist selbst Opfer von Terrorismus, Armut und Unterdrückung. Darum
wollen wir die Menschen in Afghanistan im Rahmen der atlantischen Solidarität, aber vor
allem im Rahmen der Vereinten Nationen mit einem wirklich umfassenden
Hilfsprogramm unterstützen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Meine Damen und Herren, ebenso klar ist, dass die Menschen in Deutschland auf eines bauen
können: Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um die Sicherheit der Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land zu gewährleisten. Gewiss: Im Moment gibt es keine konkreten
Hinweise auf akute Bedrohungen durch terroristische Anschläge. Zu Furcht oder gar zu
Panik besteht also überhaupt kein Anlass. Gleichwohl haben wir den Schutz besonders
gefährdeter Einrichtungen verstärkt und weitere Maßnahmen zur besseren Bekämpfung
aller Formen des Terrorismus und der Gewalt ergriffen.
Bereits am 19. September haben wir im Kabinett ein erstes Antiterrorpaket beschlossen.
Dadurch werden wir die Sicherheit im Luftverkehr verbessern. Das betrifft die
Überprüfung und Überwachung der Beschäftigten auf den Flughäfen, die Intensivierung
der Gepäckkontrollen und die Begleitung deutscher Flugzeuge durch entsprechendes
Sicherheitspersonal. Wir haben Geld für die Bekämpfung des Terrorismus mobilisiert und
wir werden das Strafrecht so regeln, dass wir ausländische Kriminelle und terroristische
Vereinigungen besser verfolgen können. Wir schaffen das Religionsprivileg im Vereinsrecht
ab; denn das Grundrecht der Glaubens- und der Bekenntnisfreiheit darf nicht jene
schützen, die religiös-fanatischen Zielen nachhängen und unter dem Schutz dieses
Grundrechts Terror und Mord planen.
Es ist ganz klar: Auf die neuen Formen des Terrorismus müssen wir durch eine engere
nationale, aber auch internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden reagieren.
Genauso unmissverständlich können und dürfen wir festhalten: Der Standard der inneren
Sicherheit in Deutschland genügt höchsten internationalen Ansprüchen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz, die Dienste und die Polizei leisten gute und
wirksame Arbeit und dafür sind wir ihnen zu Dank verpflichtet.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP sowie bei
Abgeordneten der PDS)
Der Terrorismus, mit dem wir es zu tun haben, organisiert sich in einem internationalen
Netzwerk. Viele Maßnahmen erfordern daher sinnvollerweise eine engere europäische und
internationale Kooperation. Darum haben wir uns auf der Sondersitzung des Europäischen
Rates am 20. September in Brüssel intensiv mit den Problemen der Verhütung und der
Bekämpfung des Terrorismus beschäftigt. Ein weiteres, informelles Treffen wird am 19.
Oktober in Gent folgen. Dabei geht es allen Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union vor allem darum, einen europäischen Haftbefehl einzuführen, der zu spürbar
vereinfachten Verfahren bei der gegenseitigen Überstellung von Straftätern führen wird.
Ferner wollen wir die Arbeit der Antiterrorexperten der einzelnen Länder wirksamer
vernetzen und die transatlantische polizeiliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten
von Amerika organisieren und optimieren. Außerdem brauchen wir im Asyl- und
Einwanderungsrecht auch auf europäischer Ebene Regelungen, die für mehr Schutz vor dem
Terrorismus sorgen.
Die Bundesregierung wird noch in diesem Monat ein zweites umfassendes Antiterrorpaket
beschließen. Vor allem müssen wir den Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden
effizientere Möglichkeiten geben, um zusätzliche Informationen zur Bekämpfung von
Terrorismus und Kriminalität zu nutzen. Das kann heißen: Personalausweise, Pässe und
Visaanträge werden zukünftig um Fingerabdrücke oder andere biometrische Merkmale
ergänzt. Es handelt sich übrigens um eine Regelung, die in den Vereinigten Staaten bei
Aufenthaltsgenehmigungen schon seit Jahren praktiziert wird, um eine Regelung, die
Qualität und Effizienz in der Bekämpfung des Terrorismus sehr wohl verbessern wird, mit
der aber keineswegs der Bestand der Grundrechte gefährdet oder, wie man gelegentlich
liest, gar der Rechtsstaat abgeschafft wird.
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
Wir müssen und wir werden den Verfassungsschutz an die veränderte Bedrohungslage
personell wie strukturell anpassen. Unsere Ermittlungen haben gezeigt, dass es auch bei
uns in Deutschland Strukturen terroristischer Netzwerke gibt. Deren Gefährdungspotenzial
müssen wir alle sehr ernst nehmen und diese Netzwerke müssen zerschlagen werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und
der PDS)
Handlungsbedarf gibt es auch beim Zivil- und Katastrophenschutz, der teilweise von den
Ländern und teilweise von uns zu organisieren ist. Nach dem Ende des Kalten Krieges
schienen die früheren Gefährdungslagen weggefallen zu sein. Wir werden unsere
Bemühungen um den Schutz der Bevölkerung, die wir nicht aufgegeben haben, nunmehr sehr
gezielt auf die neuen Problemlagen hin verstärken. Es geht in erster Linie darum, die
erforderlichen Informationen schnell, länderübergreifend und bundesweit zu vernetzen
sowie ihre Weiterleitung zu garantieren, um auf diese Weise effiziente Einsätze
sicherzustellen. Dazu gehört auch ein entsprechendes Warnsystem für die Bevölkerung.
Was im Kampf gegen den Terrorismus nicht so sehr weiterhilft, ist eine abstrakte
Diskussion über die Verschiebung von Grundsätzen, nach denen unser Gemeinwesen
organisiert ist. Ich will gar keine Zweifel aufkommen lassen: Ich plädiere dafür, dass
wir unter allen Umständen an der Unterscheidung von äußerer und innerer Sicherheit
festhalten.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der PDS)
Ich halte es nicht nur für zulässig, sondern auch für angemessen - auch daran will ich
keinen Zweifel aufkommen lassen -, dass man über den einen oder anderen
Verfassungsartikel unseres Grundgesetzes, etwa
über den, der sich zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren äußert, diskutiert. Ich
möchte darauf hinweisen und vor allen Dingen der Öffentlichkeit klar machen - es handelt
sich zwar um eine juristisch vielleicht interessante, aber nicht sehr weit führende
Diskussion -: Die Verfassungslage lässt den Einsatz der Bundeswehr von jeher in
bestimmten Situationen zu: in Situationen, in denen das sinnvoll ist und in denen die
Bundeswehr in der Lage ist, jene Kräfte zu ergänzen, nämlich die Polizei, die
eigentlich für die innere Sicherheit zuständig ist.
Wir haben zum Beispiel den Ministerpräsidenten der Länder mitgeteilt, dass der
Bundesverteidigungsminister kein Problem damit hat, Hilfe zur Verfügung zu stellen - die
einschlägigen Verfassungsartikel geben das her
-, falls in ihren Ländern amerikanische Einrichtungen zu schützen sind und die
Bundeswehr dabei wirksam helfen kann. Ich glaube nicht, dass wir eine Änderung der Verfassung im Hinblick auf diese und ähnliche -
begrenzte - Aktivitäten der Bundeswehr im Innern wirklich brauchen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und
des Abg. Walter Hirche [FDP])
In meiner Regierungserklärung vom 19.
September habe ich darauf hingewiesen, dass wir unsere besondere Aufmerksamkeit auf
die finanziellen Strukturen der terroristischen Netzwerke richten müssen und dass es
unsere Aufgabe ist, diese Finanzströme zu erfassen und wirksam zu unterbinden. Dazu
bedarf es Maßnahmen auf nationaler, aber natürlich auch auf internationaler Ebene. Wir
werden eine Zentralstelle zur Bekämpfung der Geldwäsche einrichten sowie Strukturen und
Instrumente schaffen, um unerlaubt betriebene Bankgeschäfte und das Schattenbankwesen
leichter verfolgen zu können.
Am vergangenen Wochenende haben sich die Finanzminister der G-7-Staaten und Russlands auf
einen umfassenden Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus durch Verhinderung von
Geldwäsche und Überwachung der Finanzströme geeinigt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die vom Bundesfinanzminister entwickelten Maßnahmen und der in internationaler
Kooperation verabredete Aktionsplan sind geeignet, die Finanzquellen des Terrorismus
auszutrocknen und damit den terroristischen Netz werken eine wichtige Voraussetzung ihrer
Existenz wirksam zu entziehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)
Aus dem, was ich gesagt habe, ergibt sich, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes überzeugt sein können, dass ihre Sicherheit ein zentrales Anliegen der
Bundesregierung, aber auch der Parteien hier im Hohen Hause ist und bleiben wird. Ich sage
auch ganz unzweideutig: Genauso wenig wie wir uns von den Terroristen in einen "Kampf
der Kulturen" treiben lassen, werden wir im Kampf gegen den Terrorismus jene Werte,
die unsere Welt zusammenhalten - die Werte von Freiheit, Solidarität, Rechtssicherheit
und Gerechtigkeit -, auch nur einen Millimeter preisgeben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU,
der FDP und der PDS)
Meine Damen und Herren, ich denke, wir haben Grund, bei der Formulierung und Durchsetzung
unserer Außenpolitik - vielleicht spüren Sie, dass es mir darum geht, dass man in dieser
Frage soweit wie irgend möglich Gemeinsamkeiten, die entwickelt wurden, bewahrt - das
eine oder andere zu verändern. Das war auch Kern der Gespräche, die ich in Washington
und New York geführt habe. Es gibt sicher viele Gründe, warum Deutschland in der
aktuellen Situation seine Präsenz und seine aktive Solidarität unseren Freunden in den
Vereinigten Staaten und in der internationalen Allianz gegen den Terrorismus zeigen muss:
historische, gegenwärtige, aber auch Gründe, die mit der Positionierung Deutschlands in
der Zukunft zu tun haben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit
Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer
neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen, einer Verantwortung, die unserer
Rolle als wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber auch als starker
Demokratie und starker Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht. Noch vor zehn Jahren
hätte niemand von uns erwartet, dass Deutschland sich anders als durch so etwas wie
"sekundäre Hilfsleistungen" - also Zurverfügungstellung von Infrastruktur oder
Gewährung von Finanzmitteln - an internationalen Bemühungen zur Sicherung von Freiheit,
Gerechtigkeit und Stabilität beteiligt. Ich sage das durchaus auch bezogen auf mein
eigenes Denken und Handeln. Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik - darauf habe ich
bereits unmittelbar nach dem 11. September hingewiesen - ist unwiederbringlich vorbei.
Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe und Solidarität unserer amerikanischen und
europäischen Freunde und Partner die Folgen zweier Weltkriege überwinden konnten, um zu
Freiheit und Selbstbestimmung zu finden, haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen
Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt - und das sage ich ganz
unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung
von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit
ausdrücklich ein.
Bei den gezielten Militärschlägen, die im Augenblick von den Vereinigten Staaten und
Großbritannien durchgeführt werden, haben unsere amerikanischen und britischen Freunde
deshalb nicht nur unsere uneingeschränkte Solidarität verdient. Diese Militärschläge
stehen - das kann gar nicht oft genug betont werden - völlig im Einklang mit der
Beschlussfassung des Weltsicherheitsrates über die Anwendung legitimer
Selbstverteidigung, also mit den Resolutionen 1369 und 1373.
In seiner wegweisenden Resolution
1373 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in beeindruckender Weise das
Völkerrecht im Hinblick auf die neu entstandenen Bedrohungen angepasst. Das Völkerrecht
angepasst zu haben heißt für uns, es innerhalb bestimmter Zeit im Inneren wirksam
umzusetzen und es als Richtschnur für nationales und internationales Handeln zu
begreifen.
Diese Bedrohungen und Angriffe überschreiten das Maß dessen, was in der internationalen
Politik, aber vor allem im Zusammenleben der Menschen, in der Geschichte menschlicher
Zivilisation bisher als Angriff von einzelnen Terroristen und terroristischen Gruppen
vorstellbar gewesen und tatsächlich realisiert worden ist.
Meine Damen und Herren, Bürgermeister Giuliani hat mich vorgestern an den Ort dieser
Katastrophe geführt, an den Ort, an dem noch vor wenigen Wochen Tausende von Menschen
ihrer Arbeit im World Trade Center nach gingen. Die Erschütterung, die jeden denkenden,
fühlenden und mitfühlenden Menschen beim Anblick dieses "Ground Zero" erfasst,
kann man kaum beschreiben; denn - gestatten Sie mir, diese Erfahrung kurz mitzuteilen -
die Fernsehbilder, die wir alle gesehen haben, gehen gnädig mit den Zuschauern um, weil
sie Distanz schaffen. Wenn man es unmittelbar sieht und erlebt, kann man eigentlich nur zu
der Überzeugung kommen, das wir alles, aber auch wirklich alles tun müssen, damit sich
diese grausamen Anschläge nicht wiederholen können.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP sowie bei
Abgeordneten der PDS)
Unsere Verbündeten haben uns bisher nicht um einen direkten militärischen Beistand im
Kampf gegen den Terrorismus gebeten. Präsident Bush hat mir versichert, wie hoch er und
das amerikanische Volk den Beitrag schätzen, den wir bisher in der
nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, bei der Austrocknung der Finanzquellen und vor
allem bei der Herstellung der internationalen Allianz gegen den Terrorismus geleistet
haben. Ich habe gegenüber dem amerikanischen Präsidenten deutlich gemacht, dass
Deutschland seiner Verantwortung auf allen Gebieten nachkommen wird. Das schließt auch
die militärische Zusammenarbeit ausdrücklich ein. Eine solche Verpflichtung ergibt sich
für uns aus Art. 5 des NATO-Vertrages, dessen Anwendbarkeit auf die aktuelle Situation
vom NATO-Rat festgestellt worden ist.
Die Bereitschaft, auch militärisch für Sicherheit zu sorgen, ist ein wichtiges
Bekenntnis zu Deutschlands Allianzen und Partnerschaften. Aber nicht nur das: Die
Bereitschaft, unserer größer gewordenen Verantwortung für die internationale Sicherheit
gerecht zu werden, bedeutet auch ein weiter entwickeltes Selbstverständnis deutscher
Außenpolitik. International Verantwortung zu über nehmen und dabei jedes unmittelbare
Risiko zu vermeiden kann und darf nicht die Leitlinie deutscher Außen- und
Sicherheitspolitik sein.
Meine Damen und Herren, mit Bezug auf die innenpolitische Diskussion sage ich auch: Wir
sollten versuchen, nachzuvollziehen und zu verstehen, dass es viele Menschen gibt, die
sich Sorgen um Tatsache und Umfang eines militärischen Beitrags zur Bekämpfung des
Terrorismus machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg.
Dr. Ilja Seifert [PDS])
Mit den Menschen, die sich einer solchen Entwicklung noch verweigern wollen, müssen und
werden wir die Diskussion aufnehmen.
Im Übrigen: Dass unsere zivile Gesellschaft gegenüber der Notwendigkeit militärischer
Optionen und ihrer Ausübung zurückhaltender als jemals in der deutschen Geschichte
geworden ist, begreife ich als einen zivilisatorischen Fortschritt, auch wenn es die
eigene Argumentation bezüglich bestimmter Notwendigkeiten schwerer macht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU,
der FDP und der PDS)
Mir ist - ich glaube, da spreche ich den meisten aus den Herzen - die Zurückhaltung einer
Gesellschaft, die sich zu Recht etwas auf ihren zivilen Charakter einbildet, allemal
lieber als jede Form von Hurrapatriotismus.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP)
Wir Deutschen stehen - auch das hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen sehr
deutlich gemacht - an vorderster Front bei der konsequenten Sicherung des Friedens in der
Welt, aber ebenso bei der konsequenten Herstellung von Sicherheit und Stabilität, die auf
Menschenrechten und Menschenwürde basiert.
Die Bundesregierung hat immer gesagt, dass unser Hauptaugenmerk auf die Krisenprävention
und die Krisenregulierung gerichtet ist und dass unter Umständen erforderliche
militärische Beiträge in der internationalen Politik gelegentlich notwendige, aber
keineswegs hinreichende Bedingung für internationale Stabilität sind. Ich sage dazu: Das
war nie eine Ausflucht, nicht auch militärisch handeln zu wollen, wenn wir das müssen.
Das wird auch so bleiben.
Meine Damen und Herren, die vergangenen Wochen haben uns nicht nur schockiert, sondern sie
haben uns auch klar gemacht, dass wir etwas sehr Wertvolles zu verteidigen haben: das
Streben nach Glück, wie es die Amerikaner sagen, oder, wie es bei uns im Grundgesetz heißt, die Würde des Menschen, die
bei uns und nicht nur bei uns Maßgabe und Maßstab jeglicher Politik sein muss. Es geht
um Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, die wir nicht nur national, sondern auch
international durchsetzen müssen oder bei deren Durchsetzung wir Hilfe leisten müssen.
Die Bundesregierung begegnet jener namenlosen Barbarei, der in New York und Washington
Tausende zum Opfer gefallen sind, mit Entschlossenheit, aber auch - das wissen Sie - mit
Besonnenheit. Durch intensive Bemühungen und vielfältige Aktivitäten ist es gelungen,
eine breite internationale Koalition gegen den Terrorismus herzustellen. Das ist ein hohes
Gut und wir müssen sehr viel politische Kraft einsetzen, um es zu bewahren. Die
internationale Gemeinschaft ist so entschlossen wie nie, mit vereinten Anstrengungen den
Durchbruch zum Frieden im Nahen Osten zu erreichen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Auch damit machen wir klar, dass der Terrorismus keine wie auch immer geartete
Legitimation hat und haben kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Meine Damen und Herren, mir liegt daran, dass deutlich wird: Die Aufteilung der Welt in
Arm und Reich ist ein bedauerliches Übel. Die Situation im Nahen Osten und die
Auseinandersetzungen, von denen wir tagtäglich erfahren, sind es auch. Aber die
Aufteilung der Welt in Arm und Reich ist keine und darf nicht verstanden werden als
monokausale Begründung für den Terrorismus.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und
der PDS)
Worum es geht, ist zu erkennen, dass der Terrorismus auf der einen Seite eine ganz eigene
Qualität hat, dass aber auf der anderen Seite solche Konflikte, die ich erwähnt habe,
wenn wir sie nicht lösen, es den Terroristen und ihren Helfershelfern gestatten, die
Massen, die mit diesen Konflikten in Berührung kommen, für ihre verbrecherischen Ziele
zu missbrauchen. Das ist der Zusammenhang, der hergestellt werden muss.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und
der PDS)
Deshalb wird der Bundesaußenminister, der dort sehr viel geleistet hat, seine
Bemühungen, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen, in völliger Übereinstimmung mit dem
Präsidenten der Vereinigten Staaten unbeirrt fortsetzen. Dies ist ein Teil der
Arbeitsteilung, die wir vornehmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roland Claus [PDS])
Unser Konzept wird das einer umfassenden Sicherheit sein: materielle Sicherheit, soziale
Sicherheit, aber auch Rechtssicherheit und in diesem Zusammenhang auch Wehrhaftigkeit.
Diese Konzeption, die wir bereits in den Balkankonflikten vorgeschlagen und, soweit das
möglich ist, umgesetzt haben, hat auch etwas genuin Europäisches.
Wir sagen heute stolz: Das Projekt der europäischen Integration ist die größte
Erfolgsgeschichte des 20. und, ich denke, auch des 21. Jahrhunderts. Die daraus
resultierenden Erfahrungen in der Bewältigung und Lösung von Konflikten wollen wir gern
anderen Völkern in anderen Regionen zur Verfügung stellen.
Ich will aber, meine Damen und Herren, auch einen anderen Stolz zum Ausdruck bringen: Die
Solidarität der deutschen Bevölkerung mit den Opfern des Terrorismus und die
Bereitschaft der Menschen bei uns, gegen jeden Extremismus und Terrorismus zu kämpfen,
dabei aber nicht in falschen Eifer zu verfallen, sind beispielhaft. Das ist ein großes
Kompliment, das sich die Menschen in unserem Land verdient haben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei
Abgeordneten der PDS)
Die Menschen in Deutschland, unsere zivile Gesellschaft wissen sehr genau, was auf dem
Spiel steht. Deshalb rufen sie nicht nach Rache und Vergeltung. Aber sie sind bereit,
unsere Gesellschaft und die Zukunftsfähigkeit unserer einen Welt in einem wirklich
umfassenden Sinne zu verteidigen. Dafür müssen wir ihnen dankbar sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Beifall bei der CDU/CSU
und der FDP)
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