Rede des Bundesaußenministers Joschka Fischer zur Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan

Vom 11. Oktober 2001


Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen [Bündnis 90/Die Grünen]:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 11. September hat uns einen Kampf aufgezwungen, den niemand von uns wollte, nicht die Menschen in den USA, nicht die Regierung der USA, nicht die Führung der NATO, auch nicht die Bundesregierung und die Menschen in Deutschland. Dieser 11. September war ein An griff auf die Menschen in New York, auf die Regierung der Vereinigten Staaten, er war ein Angriff auf unseren wichtigsten Bündnispartner. Insofern ist Solidarität, umfassende Solidarität, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Er war auch ein Angriff auf die offene Gesellschaft, ein Angriff auf unsere Demokratie. Insofern sind es unsere elementaren Interessen, die uns zwingen, hier zu widerstehen, ja Widerstand zu leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist eine mörderische, eine totalitäre Herausforderung, vor der wir stehen. Wer gestern im Fernsehen gesehen hat, wie neue Massenmorde angekündigt werden, und wer weiß, dass es sich hierbei nicht mehr nur um Rhetorik handelt, der stellt nicht mehr die Frage nach den Beweisen, die ja vorliegen, die vorhanden sind. Alles zieht sich dorthin zu. Es gibt keine alternativen Erkenntnisse, nicht nur bei uns nicht, sondern auch im gesamten Bündnis und bei an deren Diensten nicht. Nach den vorbereiteten Erklärungen von Bin Laden und nach dem gestrigen Aufruf zu neuen Massenmorden ist völlig klar: Wir stehen hier vor einer internationalen totalitären Herausforderung, die den Islam miss braucht, die die religiösen Gefühle von Menschen missbraucht, um ihre totalitären Ziele mit dem Mittel des Massenmordes durchzusetzen. Und das darf nicht siegen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus ist kein Kampf der Kulturen - das anzunehmen wäre der größte Fehler, den wir innen- wie außenpolitisch machen könnten -, aber sie ist ein Wertekonflikt. Die Grundwerte der Demokratie, die Grundwerte der Menschenrechte werden hier infrage gestellt - auf mörderische Art und Weise. Deswegen geht es um die Verteidigung dieser Grundwerte und nicht um ihre Infragestellung. Wie der Bundeskanzler in seiner, wie ich finde, großen Rede heute Morgen klar gemacht hat,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

muss die Linie sein: Festigkeit und Besonnenheit, Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus, Entschlossenheit aber auch in der Verteidigung der offenen Gesellschaft, der Demokratie sowie - ich betone dies - des multikulturellen Charakters der offenen Gesellschaft, den wir haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich finde, das verdient nachdrücklich Unterstützung.

Die Antwort auf den Terrorismus muss umfassend sein. Das Militärische steht jetzt sehr stark im Vordergrund. Ich kann hier nur unterstreichen, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt hat: Die Antwort muss auf die Lösung ökonomischer und politischer Probleme ausgerichtet sein und wird sehr stark auch des kulturellen Dialogs bedürfen. Die eine Welt ist eben nicht nur eine Sonntagsveranstaltung, sondern sie ist auch voller Konflikte und voller Gefahren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber die eine Welt ist unsere Zukunft. Die Pluralität der Kulturen bedarf nicht der kulturellen Konfrontation, sondern des interkulturellen Dialogs im Zentrum der internationalen Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir reden hier über nichts Geringeres als über den Entwurf einer Friedenspolitik im 21. Jahrhundert. Anders als zu Zeiten des Kalten Krieges bedeutet Friedenspolitik in der einen Welt im 21. Jahrhundert internationale Ordnungspolitik im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Das heißt, es geht darum, eine Weltordnung zu schaffen, die Zonen der Ordnungslosigkeit oder gar, wie es in weiten Teilen der Fall ist, des völligen politischen Ordnungsverlustes nicht mehr zulässt. Ich sage das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Bedrohungen, die durch Zonen der Ordnungslosigkeit für uns erwachsen können; die eigentliche Gefahr besteht vielmehr in dem Leid der betroffenen Zivilbevölkerung. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])

Wenn wir uns in letzter Zeit, was die Schaffung einer Weltordnung angeht, alle miteinander selbstkritisch etwas vorzuwerfen haben, dann vielleicht, dass wir der Illusion einer friedlichen Welt zu sehr erlegen waren. Für die Europäer gilt das zwar weniger, weil der Balkan so nahe ist - aber nur deswegen! Wenn Sie dem zustimmen, dann komme ich - völlig unpolemisch - zu der Frage, ob angesichts der neuen Herausforderungen über das Ziel eines Niedrigsteuerstaats nicht völlig neu diskutiert werden muss. Ich möchte einmal sehr ernsthaft die Frage diskutieren, ob das neue Engagement für eine auf Pluralität gründende Weltordnung, das ein Mehr an Sicherheit im Inneren und Äußeren erfordert und mehr Einsatz in der Außenpolitik, in der Friedenspolitik und in der Entwicklungspolitik notwendig macht, mit den Vorstellungen von einem Niedrigsteuerstaat, denen wir alle angehangen haben, tatsächlich noch vereinbar ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Eine Weltordnung schaffen, die allen Völkern die Perspektive voller Teilhabe ermöglicht, das klingt zwar sehr ambitioniert, ist aber nur die Konsequenz aus einem erfolgreichen Kampf gegen den Terrorismus. Lassen Sie mich hier unterstreichen: Multilateralismus und nicht Unilateralismus wird die Welt im 21. Jahrhundert zu bestimmen haben. Auch das ist eine wichtige Konsequenz dessen, was wir erlebt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dabei gewinnen die Vereinten Nationen eine völlig neue Bestimmung. Bei all den Tragödien, die sich ereignet haben, müssen wir auch das Positive herausarbeiten: dass der Sicherheitsrat jetzt geschlossen handelt, dass das Völkerrecht fortentwickelt wird, und zwar auf eine sehr robuste, handlungsfähige Art und Weise, wie es immer gefordert worden ist. Ich erinnere mich an all die Auseinandersetzungen über die Einsätze auf dem Balkan. Jetzt handelt der Sicherheitsrat geschlossen.

Ich stimme auch Frau Merkel völlig zu - wir haben das schon vorher nachdrücklich unterstrichen -, dass diese Koalition der Staaten die Gemeinsamkeit in den Grundwerten nicht vergessen machen darf: Menschenrechtsverletzungen sind Menschenrechtsverletzungen, auch wenn sie von Koalitionspartnern begangen werden; Unterstützung von Terrorismus ist Unterstützung von Terrorismus, auch wenn sie durch Koalitionspartner erfolgt. So wichtig es ist, dass wir in dieser Auseinandersetzung Festigkeit bewahren, so wichtig ist es auch, dass wir mehr und nicht weniger an Menschenrechtsorientierung brauchen, wenn wir diesen Kampf bestehen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, der in vielen Reden, vor allen Dingen sonntags, diskutiert wird - allerdings weiß ich von vielen Kollegen, dass sie auf diesem Gebiet auch werktags sehr praktische Arbeit geleistet haben -: Was sind die Ziele des islamistischen Terrorismus? Ziel ist die Befreiung der islamischen Welt von äußerem Einfluss, was sich aktuell an den USA festmacht. Ziel ist aber auch - das ist eines der wichtigsten Ziele - die Zerstörung Israels. Hier sind wir besonders gefordert, wenn all die Erklärungen, die wir fraktionsübergreifend immer abgegeben haben und die ich immer ernst genommen habe, ernst gemeint waren. Hier haben wir eine besondere, auch historische Verantwortung und Verpflichtung. Eine Politik, die mit den Mitteln des Terrorismus und des Massenmordes auf die Zerstörung Israels zielt, verdient unseren energischsten Widerstand und den Einsatz aller Möglichkeiten, die wir haben.

(Beifall im ganzen Hause)

Terror gegen Israel ist von uns ohne Wenn und Aber zu verurteilen, egal, ob dieser von Bin Laden, von Hamas, von einem islamischen Dschihad, von der Hisbollah oder von wem auch immer ausgeht. Terrorismus gegen Israel wird von uns nicht akzeptiert. Hier wissen wir uns mit dem Staate Israel und den Menschen dort einig.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU/CSU)

Wir betonen hier noch einmal ausdrücklich das Existenzrecht Israels und seinen Anspruch auf sichere Grenzen und Frieden. Hier möchte ich als Freund Israels auch betonen, dass wir, weil wir das Existenzrecht Israels sichern wollen, den Friedensprozess wollen und alles tun werden, um diesen Friedens prozess weiter voranzubringen. Dazu gehört auch die Berücksichtigung der legitimen Interessen des palästinensischen Volkes; das schließt sein Selbstbestimmungsrecht und die Option auf einen eigenen Staat ein, wie es in der Berliner Erklärung der Europäischen Union während der deutschen Präsidentschaft hier geheißen hat; allerdings unter Wahrung des Existenzrechtes und der Sicherheitsinteressen Israels.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Westerwelle, ich möchte hier keine falsche Polemik betreiben; ich fände es aber gut, wenn Sie die doch sehr merkwürdigen Äußerungen des Kollegen Möllemann für die FDP wirklich einmal klarstellen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU - Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Westerwelle, ich unterstelle, dass Ihre Meldung bedeutet, dass Sie eine Zwischenfrage stellen wollen.

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Selbstverständlich möchte ich eine Zwischenfrage stellen, Herr Präsident.

Präsident Wolfgang Thierse: Bitte schön.

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Minister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass dies bereits am Montag unverzüglich durch den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und früheren Außenminister, der auch jetzt hier anwesend ist, erfolgt ist? Ich erkläre hier auch noch einmal ausdrücklich, dass das, was Herr Kinkel gesagt hat, auch die Meinung der Freien Demokraten ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich schließe mich voll an!)


Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Dafür bedanke ich mich. Ich denke, das war eine wichtige Klarstellung, denn in Israel schaut man schon sehr genau danach, wie geschlossen unsere Haltung in diesem Punkt ist. Mir geht es hier gar nicht um kleinliche parteipolitische Aufrechnung. Was wir hier, und zwar alle Fraktionen, in Deutschland bezüglich Israel sagen, tun oder nicht tun, wird dort aufgrund der tragischen historischen Beziehungen besonders wahrgenommen. Ich erlebe das als Außenminister. Insofern weiß ich, wie wichtig es ist, dass wir hier einen partei- und fraktionsübergreifenden Konsens im Deutschen Bundestag haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU/CSU - Michael Glos [CDU/CSU]: Jawoll, Herr Schulrat!)

Für mich ist, meine Damen und Herren, neben der Lösung der Regionalkonflikte noch ein anderer Punkt ganz entscheidend: Die Lösung des Nahostkonflikts wird von ganz entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Kampfes gegen den Terrorismus sein, nicht aufgrund eines unmittelbaren Zusammenhangs, sondern weil die Gefühle von Millionen von Menschen in der Region missbraucht werden können. Andere Regionalkonflikte, zum Beispiel in Zentralasien oder auch im südlichen Kaukasus, spielen ebenfalls eine Rolle; der Maghreb wird miteinzubeziehen sein. Das sind alles Regionen, die nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland, aber zu Europa liegen.

Gestatten Sie mir, dass ich hier eine Entwicklung anspreche, die ich mit einer gewissen Sorge betrachte. Wir erleben gegenwärtig die Verschiebung der zentralen Achsen der internationalen Politik. Russland wird sich völlig neu auf stellen. Das liegt in unserem Interesse. Die ernsthafte Öffnung Russlands, die sich, wie Präsident Putin hier in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, in einer neuen russischen Politik niederschlägt, liegt im deutschen und im europäischen Interesse. Wenn wir nicht Acht geben, könnte das ungewollte Konsequenzen haben. Ich halte überhaupt nichts davon, hier eine Entwicklung negativ zu bewerten, die in unserem Interesse liegt und eigentlich positiv ist. Wenn wir sie allerdings national betrachten und in einem rückwärts gewandten Sinne missverstehen, das heißt, wenn wir gewissermaßen diesen Schönheitswettbewerb der europäischen Nationalstaaten mitmachen, ohne zu begreifen, wie kurzsichtig ein solcher ist, und die Europäische Union dafür verbal kritisieren oder ihr sogar mit einer gewissen Arroganz entgegentreten, weil sie noch nicht so weit ist, wie sie sein müsste, dann laufen wir Gefahr, einem historischen und strategischen Irrtum zu unterliegen. Wir müssen nämlich sehen, dass in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der sich die Zentralachsen verschieben, nicht Deutsche, Franzosen oder Briten eine Rolle spielen werden, sondern nur ein integriertes Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen wird es von entscheidender Bedeutung sein, jetzt das europäische Engagement zu stärken. Wir werden weniger Zeit haben, als viele von Ihnen und ich bisher dachten, weil sich die Welt jetzt dramatisch verändert. Das ist ein weiteres Argument dafür, dass Deutschland nicht abseits stehen darf. Wir sind im europäischen Konzert zu groß und zu wichtig. Es geht hier nicht um Schönheitswettbewerbe, sondern es geht neben der Solidarität, die sehr wichtig ist, auch um Humanität, Menschenrechte und ein neues Engagement in einer globalen Welt. All das wird nur eine Zukunft haben, wenn wir den europäischen Integrationsprozess mit dem ganzen Gewicht unseres Landes in der Außen- und Sicherheitspolitik und durch die Schaffung einer europäischen Demokratie voranbringen. Wenn wir jetzt am nationalen Denken festhielten, würden wir einen großen Fehler machen.

Meine Damen und Herren, Kampf gegen den Terrorismus bedeutet deswegen nicht nur das Ein treten für eine neue, humanere Weltordnung und ein neues Engagement, mit dem wir ein Mehr an Leistungen aufzubringen und ein Mehr an Risiken zu schultern haben, es müssen auch Regionalkonflikte gelöst und interkulturelle Dialoge geführt werden. Er bedeutet vor allen Dingen auch, dass wir bei der europäischen Integration vorankommen müssen. Wenn wir getrennt bleiben, werden die Europäer in der neuen Weltordnung marginalisiert.

Ich bedanke mich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

 

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Quelle: Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 192. Sitzung vom 11. Oktober 2001, Stenographischer Bericht (Plenarprotokoll 14/192).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des Bundesaußenministers Joschka Fischer zur Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan (11.10.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_fischer_1011.html, Stand: aktuelles Datum.


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