Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik
["Prager-Vertrag"]
[Vom 11. Dezember 1973][1]
Die Bundesrepublik Deutschland
und
die Tschechoslowakische Sozialistische Republik
IN DER HISTORISCHEN ERKENNTNIS, daß das harmonische Zusammenleben
der Völker in Europa ein Erfordernis des Friedens bildet,
IN DEM FESTEN WILLEN, ein für allemal mit der unheilvollen Vergangenheit in ihren
Beziehungen ein Ende zu machen, vor allem im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, der
den europäischen Völkern unermeßliche Leiden zugefügt hat,
ANERKENNEND, daß das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 der
Tschechoslowakischen Republik durch das nationalsozialistische Regime unter Androhung von
Gewalt aufgezwungen wurde,
ANGESICHTS DER TATSACHE, daß in beiden Ländern eine neue Generation
herangewachsen ist, die ein Recht auf eine gesicherte friedliche Zukunft hat,
IN DER ABSICHT, dauerhafte Grundlagen für die Entwicklung gutnachbarlicher
Beziehungen zu schaffen,
IN DEM BESTREBEN, den Frieden und die Sicherheit in Europa zu festigen,
IN DER ÜBERZEUGUNG, daß die friedliche Zusammenarbeit auf der Grundlage der Ziele
und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen
dem Wunsche der Völker sowie dem Interesse des Friedens in der Welt entspricht
sind wie folgt übereingekommen:
Artikel I
Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische
Sozialistische Republik betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im
Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig.
Artikel II
(1) Dieser Vertrag berührt nicht die Rechtswirkungen, die sich in
bezug auf natürliche oder juristische Personen aus dem in der Zeit vom 30. September 1938
bis zum 9. Mai 1945 angewendeten Recht ergeben.
Ausgenommen hiervon sind die Auswirkungen von Maßnahmen, die beide vertragschließende
Parteien wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit
als nichtig betrachten.
(2) Dieser Vertrag läßt die sich aus der Rechtsordnung jeder der beiden
Vertragsparteien ergebende Staatsangehörigkeit lebender und verstorbener Personen
unberührt.
(3) Dieser Vertrag bildet mit seinen Erklärungen über das Münchener Abkommen
keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der Tschechoslowakischen Sozialistischen
Republik und ihrer natürlichen und juristischen Personen.
Artikel III
(1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische
Sozialistische Republik lassen sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der
Gewährleistung der Sicherheit in Europa und in der Welt von den Zielen und Grundsätzen,
die in der Charta der Vereinten Nationen
niedergelegt sind, leiten.
(2) Demgemäß werden sie entsprechend den Artikeln 1 und 2
der Charta der Vereinten Nationen alle ihre
Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich in Fragen, die die
europäische und internationale Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigem
Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten.
Artikel IV
(1) In Übereinstimmung mit den vorstehenden Zielen
und Grundsätzen bekräftigen die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische
Sozialistische Republik die Unverletzlichkeit ihrer gemeinsamen Grenze jetzt und in der
Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer
territorialen Integrität.
(2) Sie erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und
solche auch in Zukunft nicht erheben werden.
Artikel V
(1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische
Sozialistische Republik werden weitere Schritte zur umfassenden Entwicklung ihrer
gegenseitigen Beziehungen unternehmen.
(2) Sie stimmen darin überein, daß eine Erweiterung ihrer nachbarschaftlichen
Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft, der
wissenschaftlich-technischen Beziehungen, der Kultur, des Umweltschutzes, des Sports, des
Verkehrs und ihrer sonstigen Beziehungen in ihrem beiderseitigen Interesse liegt.
Artikel VI
Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation und tritt am Tage des
Austausches der Ratifikationsurkunden in Kraft, der in Bonn stattfinden soll.
ZU URKUND DESSEN haben die Bevollmächtigten der Vertragsparteien diesen Vertrag
unterschrieben.
GESCHEHEN zu Prag am 11. Dezember 1973 in zwei Urschriften, jede in deutscher und
tschechischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist.
Für die
Bundesrepublik Deutschland
Willy Brandt
Walter Scheel
Für die
Tschechoslowakische Sozialistische Republik
Strougal
B. Chnoupek
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