Verordnung über Erwerbslosenfürsorge.
Vom 13. November 1918.
Auf Grund des vorstehenden Erlasses des Rates der Volksbeauftragten über
die Errichtung des Reichsamts für die wirtschaftliche Demobilmachung
(Demobilmachungsamt) vom 12. November 1918 wird verordnet, was folgt:
§ 1
Zur Unterstützung von Gemeinden oder Gemeindeverbänden auf dem
Gebiete der Erwerbslosenfürsorge werden Reichsmittel bereitgestellt.
§ 2
Die Gemeinden sind verpflichtet, eine Fürsorge für Erwerbslose
einzurichten, der sie nicht den Rechtscharakter der Armenpflege beilegen dürfen.
§ 3
Gemeinden, die trotz eines vorhandenen Bedürfnisses keine oder
keine genügende Erwerbslosenfürsorge einrichten, werden dazu von der
Kommunalaufsichtsbehörde oder von der seitens der Landeszentralbehörde hierzu
bestimmten Behörde angehalten, diese können die dazu notwendigen Anordnungen für
Rechnung der Gemeinde treffen, sie können auch bestimmen, daß ein weiterer
Gemeindeverband eine Gemeinde im Falle ihrer Leistungsunfähigkeit zu unterstützen oder
die Fürsorge zu übernehmen hat.
§ 4
Der Gemeinde oder dem Gemeindeverbande werden von dem
Gesamtaufwande für die Erwerbslosenfürsorge vom Reiche sechs Zwölftel und von dem
zuständigen Bundesstaate vier Zwölftel ersetzt. Die Reichsregierung oder die von
ihr bestimmte Behörde kann für leistungsschwache Gemeinden oder für einzelne Bezirke
eine Erhöhung der Reichsbeihilfe bewilligen. Soweit auf Grund der Bestimmungen vom
17. Dezember 1914, betreffend Kriegswohlfahrtspflege, und der dazu beschlossenen
Nachträge erhöhte Reichsmittel für eine Erwerbslosenfürsorge bewilligt sind, verbleibt
es bei diesen Bewilligungen.
§ 5
[1] Zuständig für die Gewährung der Erwerbslosenfürsorge ist
die Gemeinde des Wohnorts des Erwerbslosen oder der Gemeindeverband, in dessen Bezirk der
Wohnort belegen ist. Kriegsteilnehmer sind unbeschadet einer vorläufigen vorschußweisen
Unterstützung in ihrem Aufenthaltsort in dem Orte zu unterstützen, in dem sie vor ihrer
Einziehung zum Heere gewohnt haben.
[2] Personen, die während des Krieges zur Aufnahme von Arbeit in einen
anderen Ort gezogen sind, sollen möglichst in den früheren Wohnort zurückkehren und
sind nach ihrer Rückkehr in dem früheren Wohnort zu unterstützen.
[3] Freie Fahrt zur Reise in den früheren Wohnort ist von der Gemeinde des letzten
Wohnorts aus Mitteln der Erwerbslosenfürsorge zu bewilligen.
§ 6
Die Fürsorge soll nur arbeitsfähigen und arbeitswilligen über
14 Jahre alten Personen, die infolge des Krieges durch Erwerbslosigkeit sich in
bedürftiger Lage befinden, gewährt werden. Eine bedürftige Lage ist vorbehaltlich der
Bestimmungen in §§ 11, 12 nur anzunehmen, wenn die
Einnahmen des zu Unterstützenden einschließlich der Einnahmen der in seinem Haushalt
lebenden Familienangehörigen infolge gänzlicher oder teilweiser Erwerbslosigkeit derart
zurückgegangen sind, daß er nicht mehr imstande ist, damit den notwendigen
Lebensunterhalt zu bestreiten.
§ 7
[1] Weibliche Personen sind nur zu unterstützen, wenn sie auf Erwerbstätigkeit
angewiesen sind.
[2] Personen, deren frühere Ernährer arbeitsfähig zurückkehren, erhalten keine
Erwerbslosenunterstützung.
§ 8
Erwerbslose sind verpflichtet, jede nachgewiesene geeignete Arbeit
auch außerhalb des Berufs und Wohnorts, namentlich in dem früheren Beschäftigungsort
und dem vor dem Kriege bewohnten Orte sowie zu gekürzter Arbeitszeit, anzunehmen,
sofern für die nachgewiesene Arbeit angemessener ortsüblicher Lohn geboten wird, die
nachgewiesene Arbeit die Gesundheit nicht schädigt, die Unterbringung sittlich
bedenkenfrei ist und bei Verheirateten die Versorgung der Familie nicht unmöglich
wird. Freie Fahrt zur Reise in den Beschäftigungsort ist von der Gemeinde des letzten
Wohnorts aus Mitteln der Erwerbslosenfürsorge zu bewilligen.
§ 9
[1] Art und Höhe der Unterstützung, die Feststellung einer
kurzen Wartezeit von höchstens einer Woche für die Erwerbslosen mit Ausnahme der
Kriegsteilnehmer, die Weiterzahlung der Krankenkassenbeiträge ist dem Ermessen der
Gemeinde oder des Gemeindeverbandes überlassen. Es ist jedoch für eine ausreichende
Unterstützung, die mindestens den nach der Reichsversicherungsordnung festgesetzten und
nach der Zahl der Familienmitglieder für den Ernährer einer Familie angemessen zu
erhöhenden Ortslohn erreichen muß, zu sorgen; an Stelle von Geldunterstützung können
auch Sachleistungen (Gewährung von Lebensmitteln, Mietsunterstützung und dergleichen)
treten. Für Kriegsteilnehmer darf eine Wartezeit nicht festgesetzt werden.
[2] Erreichen Arbeitnehmer infolge vorübergehender Einstellung oder
Beschränkung der Arbeit in einer Kalenderwoche die in ihrer Arbeitsstätte ohne
Überarbeit übliche Zahl von Arbeitsstunden nicht, so erhalten sie für die ausgefallenen
Arbeitsstunden Erwerbslosenunterstützung, sofern siebzig vom Hundert ihres regelmäßigen
Arbeitsverdienstes den doppelten Unterstützungbetrag im Falle gänzlicher
Erwerbslosigkeit nicht erreichen. Der fehlende Betrag ist als
Erwerbslosenunterstützung zu zahlen.
§ 10
[1] Die Gemeinden oder Gemeindeverbände könne die
Erwerbslosenfürsorge von weiteren Voraussetzungen (Teilnahme an der Allgemeinbildung
dienenden Veranstaltungen, fachlicher Ausbildung, Besuch von Werkstätten und Lehrkursen
und dergleichen), insbesondere für Jugendliche, abhängig machen.
[2] Sie können bestimmte Ausschließungsgründe für den Bezug der
Erwerbslosenfürsorge (Mißbrauch der Einrichtung, Nichtbefolgung der Kontrollvorschriften
und dergleichen) festsetzen.
§ 11
Kleiner Besitz (Spargroschen, Wohnungseinrichtung) darf für die
Beurteilung der Bedürftigkeit nicht in Betracht gezogen werden.
§ 12
Unterstützungen, die der Erwerbslose auf Grund eigener oder
fremder Vorsorge bezieht, sowie Rentenbezüge dürfen auf die von der Gemeinde oder dem
Gemeindeverbande zu gewährenden Beihilfe nur insoweit angerechnet werden, als die
Erwerbslosenunterstützung und sonstige Unterstützungen und Rentenbezüge zusammen den
vierfachen Ortslohn übersteigen. Anzurechnen sind auch Zinsen von Spargroschen und
dergleichen.
§ 13
[1] Für die Durchführung der Erwerbslosenfürsorge
sind Fürsorgeausschüsse zu errichten, zu denen Vertreter der Arbeitgeber und
Arbeitnehmer in gleicher Zahl hinzugezogen werden müssen.
[2] Die Fürsorgeausschüsse entscheiden über Streitigkeiten in
Angelegenheiten der Erwerbslosenfürsorge.
[3] Über Beschwerden entscheidet die Kommunalaufsichtsbehörde
endgültig.
§ 14
Auf Antrag einer Arbeitnehmerorganisation ist die
Auszahlung der Erwerbslosenunterstützung und die Kontrolle der Erwerbslosen der
betreffenden Organisation zu übertragen, falls sie |
- ihren Mitgliedern satzungsgemäß eine Erwerbslosen- (Arbeitslosen-) Unterstützung
gewährt,
- ausreichende Gewähr dafür bietet, daß die Auszahlung der Unterstützung und die
Kontrolle der Arbeitslosen ordnungsgemäß erfolgt.
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§ 15
Bestimmungen bestehender Erwerbslosenfürsorgeeinrichtungen, die
für die Erwerbslosen günstiger sind als die vorstehenden, sind
aufrechtzuerhalten.
§ 16
[1] Gemeinden und Gemeindeverbände haben Anträge auf
Erstattung der Kosten durch Vermittlung der höheren Verwaltungsbehörde bei den
Landeszentralbehörden zu stellen. Diese melden die Anforderungen sowie Anträge auf
Bewilligungen für jeden Monat bis zum 15. des folgenden Monats beim Reichskanzler
(Reichsschatzamt) an.
[2] Der Reichskanzler (Reichsschatzamt) hat einzelnen Bundesstaaten auf
Ansuchen Vorschüsse auf den Bedarf eines Monats zu gewähren.
§ 17
Die Landeszentralbehörde kann Ausführungsvorschriften zu dieser
Verordnung erlassen. Sie kann bestimmen, daß für einheitliche Wirtschaftsgebiete der
gleiche von ihr festzusetzende Ortslohn zu gelten hat.
§ 18
Diese Verordnung tritt mit dem Tage der Verkündung in Kraft und gilt bis
spätestens ein Jahr nach dem Tage der Verkündung.[1]
Die Reichsregierung oder die von ihr bestimmten Behörde kann einen Zeitpunkt des
Außerkrafttretens bestimmen.
Berlin, den 13. November 1918.
Reichsamt für die wirtschaftliche Demobilmachung
Koeth[2]
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