Rede des Bundesministers des Auswärtigen Joschka Fischer
(Bündnis 90/Die Grünen) zur deutschen Außenpolitik und zum Irak-Krieg im Rahmen der
Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages
vom 20. März 2003
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, es geht mir so wie den anderen
Kollegen: Es fällt mir schwer, am heutigen Tag eine sicherlich wichtige, aber dennoch
übliche Haushaltsdebatte zu einem Einzelplan zu führen. Angesichts des Beginns der
ersten Militäraktionen gilt das, was Kofi Annan gestern bei der Sitzung des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gesagt hat, nämlich dass dies ein trauriger Tag
ist. Ich möchte hinzufügen: Für mich und die Bundesregierung ist dies eine bittere
Nachricht; denn Krieg ist die schlechteste aller Lösungen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch
[fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Krieg darf immer nur letztes Mittel sein. Diese Bundesregierung hat sowohl im Kosovo wie
auch in Afghanistan keine Alternative hierzu gesehen und hat, so schwer es ihr gefallen
ist, zu diesem letzten Mittel gegriffen. Bevor man aber zu diesem letzten Mittel greifen
kann, bedarf es immer der Klärung, welches Risiko besteht und ob tatsächlich alle
friedlichen Mittel ausgeschöpft sind. Das sind vor allen Dingen die Gründe, warum die
Bundesregierung diesen Krieg ablehnt und sich nicht daran beteiligen wird.
Wenn man sich die Situation im Irak anschaut, dann wird man feststellen: Saddam Hussein
ist ein furchtbarer Diktator. Er hat zweimal seine Nachbarn überfallen. Er verfügte
über Massenvernichtungswaffen und es gab den begründeten Verdacht, dass er auch
weiterhin Massenvernichtungswaffen habe. Aus all diesen Gründen hat man gegenüber dem
Irak seit dem ersten Golfkrieg eine Containment-Politik aufrechterhalten, hat
Flugverbotszonen eingerichtet und ein scharfes Embargo verhängt, Letzteres auch mit
fatalen Konsequenzen für weite Teile der Bevölkerung.
Man hat in der ganzen Zeit aber keine Appeasement-Politik gegenüber dem Irak gemacht.
Dennoch hat man sich im Sicherheitsrat entschieden, eine neue Resolution zu formulieren.
Die Resolution 1441 hat dazu
geführt, dass die Inspektoren wieder ins Land kamen. Die Inspektoren haben bei ihrer
Arbeit Fortschritte gemacht. Der Irak hat nur zögerlich kooperiert, am Anfang mehr
schlecht als recht. Dennoch ist es mit dem Instrument der Inspektionen gelungen, das
Risiko zu minimieren. Kann man eine zögerliche Kooperation allen Ernstes als Kriegsgrund
anführen, wenn gleichzeitig die Kontrolle verstärkt und das Risiko reduziert wurde? Wir
meinen: eindeutig Nein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es hat sich gezeigt, dass das Mittel der Inspektionen wirkt. Es wird aber immer gesagt, es
wirke nur in Verbindung mit einer militärischen Drohkulisse. Am heutigen Tag müssen wir
das allerdings hinterfragen. Wer in den letzten Tagen amerikanische Zeitungen wie die
"Washington Post", die "New York Times" oder das "Wall Street
Journal" gelesen hat, für den ist es klar und eindeutig, dass es sich um einen
militärischen Aufbau gehandelt hat, der mehr ist als Drohkulisse und eine entsprechende
Wirkung hatte.
In diesem Zusammenhang wird auch die Begrenztheit der Vorwürfe deutlich, die gestern die
Oppositionsführerin, Frau Merkel, gegenüber dem Bundeskanzler und die Bundesregierung
erhoben hat. Solche Vorwürfe gegenüber der Bundesregierung zu erheben halte ich für
schlichtweg abwegig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es hat eine friedliche Alternative zu dieser Entscheidung zum Krieg gegeben. Das wurde
gerade am gestrigen Tag wieder klar. Hans Blix hatte eine Entscheidung bezogen auf die
al-Samud-Raketen getroffen. Diese Raketen waren Teil des entsprechend der
Sicherheitsratsresolution vorgelegten Berichts. Die Inspektoren haben gearbeitet
und eine Reichweitenüberschreitung festgestellt. Nach Feststellung dieser
Reichweitenüberschreitung war klar, dass die Raketen abgerüstet, zerstört werden
mussten. Hans Blix hat den Beginn der Zerstörung auf den 1. März terminiert und das
Prozedere festgelegt.
Ich bin mir sicher: Hätte sich Saddam Hussein damals ablehnend verhalten, wären wir
schon wesentlich früher in eine Militäraktion geraten. Als die Inspektionen positiv zu
wirken begannen - bis heute sind über 70 dieser Raketen zerstört worden -, hieß es
plötzlich, dass das irrelevant sei. Gestern hat jedoch Hans Blix auf genau dieser
Grundlage seinen konkreten Arbeitsbericht vorgelegt.
Warum sage ich Ihnen das alles? Ich tue das, weil ich der festen persönlichen und
politischen Überzeugung bin, dass wir die Chance gehabt haben, den Irak friedlich
umfassend abzurüsten und die Gefahr, die aufgrund möglicher Massenvernichtungswaffen von
dort ausgegangen ist, zu beseitigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Man muss hier ebenfalls klar sagen - das habe ich schon mehrfach getan -: Wir hätten
damit allerdings nicht die Beseitigung Saddam Husseins von der Macht erreicht. Dies war
aber auch niemals Gegenstand der Sicherheitsratsresolution und der Politik, die der
Sicherheitsrat vertreten hat.
Ich komme zu dem entscheidenden Punkt: Warum ist es nicht gelungen, die Kluft im
Sicherheitsrat zu überwinden? Ich verstehe die begrenzte innenpolitische Sicht und das
innenpolitische Kalkül nicht, mit der hier der Bundesregierung Vorwürfe wegen einer zu
frühen Festlegung und Ähnlichem gemacht werden. Mit den objektiven Fakten hat dies
nichts zu tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Wir haben es im Sicherheitsrat gestern wieder erlebt: An den Mehrheitsverhältnissen im
Sicherheitsrat hat sich auch nach monatelanger Debatte und sehr schwierigen Situationen
für einzelne Mitglieder tatsächlich nichts geändert. Die Mehrheitsverhältnisse sind so
geblieben, wie sie zu Anfang waren. Die eindeutige Mehrheit im Sicherheitsrat ist genauso
wie die Bundesregierung, die für die Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat
vertreten ist, der Meinung, dass es ein Fehler ist, zu militärischen Mitteln zu greifen,
weil sich die friedlichen Mittel noch nicht erschöpft haben. Auch das hat der gestrige
Tag klar gemacht. Man muss doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen, dass die eindeutige
Mehrheit im Sicherheitsrat dagegen ist.
Das hat nichts damit zu tun, dass sich irgendjemand zu früh festgelegt hat, er isoliert
werden soll oder Ähnliches mehr. Es sind teilweise engste Partner - so wie wir - der
Vereinigten Staaten von Amerika, etwa Mexiko und Chile. Es sind keine Länder, an deren
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten auch nur ein Jota Zweifel bestehen kann, wie dies
bei den Europäern ebenfalls nicht der Fall ist. Man muss doch feststellen, dass dies
gravierende Argumente sind.
Ich trage das hier deshalb nochmals vor, weil ich glaube, dass das über den Tag hinaus
von großer Bedeutung ist. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Selbst wenn ich nicht das
negativste Bedrohungsszenario zugrunde lege, wird das nicht die letzte Problemlage dieser
Art auf dieser Welt sein. Das wissen Sie so gut wie wir. Heißt das in
der Konsequenz, dass die neue Weltordnung auf Abrüstungskriege gegenüber Diktatoren, die
in dem Verdacht stehen oder bei denen man schon begründete Hinweise hat, dass sie
Massenvernichtungswaffen haben, gegründet wird? Müssen wir nicht vielmehr darauf setzen
- das ist die Auffassung der Mehrheit im Sicherheitsrat -, dass die Strukturen und
Instrumente, die wir jetzt entwickelt haben und die an die Vereinten Nationen angebunden
sind, uns mehr Sicherheit geben? Ein wirksames Nichtverbreitungsregime soll die neuen
Gefahren und Risiken tatsächlich bekämpfen, Grundlagen dafür sollen aber nicht die
individuellen Entscheidungen einer einzelnen Macht, sondern die zu entwickelnden
gemeinsamen Regeln kollektiver Sicherheit und entsprechende Instrumente sein. Das ist die
Position der Bundesregierung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Unsere tiefe Sorge gilt dem Schicksal der Menschen. Wir alle hoffen - ich möchte
ausdrücklich die eingesetzten Soldaten einbeziehen -, dass die Kampfhandlungen möglichst
schnell beendet werden und vor allen Dingen die Zivilbevölkerung, die in den vergangenen
Jahrzehnten unter diesem Diktator, aber auch unter anderen Bedingungen genug zu leiden
hatte, geschützt wird. Auf keinen Fall - das betone ich nochmals - darf es zu einem
Einsatz von Massenvernichtungswaffen kommen und auf keinen Fall darf es zu einem Angriff
auf Israel kommen. Ich hoffe, darin sind wir uns völlig einig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Anders als in früheren Zeiten war es für die Bundesregierung eine
Selbstverständlichkeit, dass wir auf Anfrage Patriot-Raketen nach Israel geliefert haben.
Es muss alles getan werden - das hat gestern ein beeindruckender Beitrag von Kofi Annan
zum Ende der Sicherheitsratssitzung klar gemacht -, um eine humanitäre Katastrophe zu
verhindern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Die Vereinten Nationen haben auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren Großes
geleistet. Über 2 Millionen Menschen waren und sind direkt von den
Nahrungsmittellieferungen der Vereinten Nationen abhängig. Gerade die Schwächsten -
Kranke, Alte, Behinderte und Kinder - sind auf diese Lieferungen angewiesen. Deshalb kommt
es ganz entscheidend darauf an, dass wir hier unser Engagement verstärken. Ich möchte
mich schon jetzt für die Zusage aus den Fraktionen recht herzlich bedanken, dass diese
Verstärkung Realität wird; denn wir müssen alles tun, um eine humanitäre Katastrophe
zu verhindern.
Entscheidend aber ist, dass der Sicherheitsrat und die VN die zentralen Instanzen bleiben.
Gleiches gilt für die Verhandlungen über eine politische Lösung und die
Wiederherstellung des Friedens in der Region. Das ist von entscheidender Bedeutung, wenn
wir tatsächlich ein Ende der Bedrohungen erreichen wollen.
Ein kurzer Rückblick. Ich habe nach den Ereignissen vom 11. September bei meinen Besuchen
in Washington am 18. und 19. September versucht, eine Diskussion über mögliche Defizite
zu führen. Der eine oder andere Kollege von Ihnen weiß das; denn wir
haben unter vier oder manchmal unter sechs Augen mit Vertretern der Opposition
darüber gesprochen. Ich kenne also Ihre Bedenken und Sorgen. Wenn es nach dem
11. September ein Defizit gegeben hat, dann ist die entscheidende Frage nicht,
ob sich die Welt angesichts der neuen Bedrohungen verändern muss, sondern wie
sie sich verändern muss.
Die strategische Debatte im transatlantischen Raum hat eben nicht stattgefunden. Das ist
meines Erachtens das entscheidende Problem. Darüber werden wir uns auch nicht mit
historischen Reminiszenzen - dabei wende ich mich an die größere Oppositionsfraktion -
hinwegretten können. Wir müssen begreifen, dass wir mit unserer strategischen
Orientierung nicht alles hinnehmen müssen. Mir geht es nicht um Polemik. Aber man muss
doch sehen, dass es in nahezu allen Demokratien außerhalb der USA massive Widerstände
der Bevölkerung gegen den Krieg gibt. Das gilt für die engsten lateinamerikanischen
Verbündeten ebenso wie die engsten europäischen Verbündeten.
Diese Widerstände reflektieren genau dieses Diskussionsdefizit. Wie soll eine neue
Weltordnung gestaltet werden? Soll sie kooperativ sein? Soll sie auf multilateraler
Grundlage aufgebaut werden? Oder ist es eine unilaterale Weltordnung, die substanzielle
Unterschiede entlang der Machtverteilung macht? Über diese Fragen müssen vor allen
Dingen die Europäer diskutieren, und zwar nicht in Konfrontation mit den USA, sondern es
geht darum, unsere eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.
Ich finde es überhaupt nicht schlimm, dass die Europäer erkennen, dass sie in dieser
Frage noch nicht einig sind. Die Europäische Union ist an Krisen und neuen
Herausforderungen immer gewachsen. Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich verstehe nur zu gut
die andere Sicht vieler Osteuropäer, vor allen Dingen die unserer
polnischen Freunde. Angesichts der Erfahrung mit vier polnischen Teilungen, mit Russland
und auch mit uns ist es selbstverständlich, dass sie eine andere Sichtweise haben.
Gerade wir Deutsche wissen aus unserer eigenen Erfahrung mit dem Zusammenwachsen nach
der deutschen Einheit, welche Schwierigkeiten bestehen, welche Geduld und welche
Sensibilität im Aufeinanderzugehen notwendig sind.
Diese größere Union wird eine zerklüftetere Union werden. Bis sich die 50jährige
Teilung Europas überwinden lässt, wird sehr viel Erfahrung notwendig sein. Eine neue
Generation wird entstehen müssen. Das setzt aber auch voraus, dass wir gleichzeitig
stabile, diese größere und schwierigere Union integrierende Institutionen schaffen. Das
ist die Voraussetzung. Damit stehen wir als Europäer natürlich vor einer größeren,
auch globalen Verantwortung. Das ist auch eine der Konsequenzen der Erfahrungen der
letzten Monate. Dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Denn wenn Europa für einen erweiterten Sicherheitsbegriff steht, wenn Europa für
Multilateralismus steht, für eine kooperative neue Weltordnung, dann muss Europa auch in
der ganzen Breite die Möglichkeiten und den politischen Willen, die Institutionen und die
Fähigkeiten haben, um dieses zu leisten. Das wird ganz entscheidend von unserem Land als
dem größten Mitgliedstaat der Europäischen Union mitgestaltet werden.
Diese strategische Diskussion muss über den Tag hinaus geführt werden und sie muss dann
zu Entscheidungen führen. Gerade am heutigen Tag werden die Staats- und Regierungschefs,
wenn sie zusammentreten, dieses nicht vergessen dürfen.
Ich sage nochmals: Für mich ist das eine bittere Nachricht, weil eine friedliche
Alternative praktisch vorhanden war.
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Unglaublich!)
- Was ist daran unglaublich?
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Eine friedliche Alternative sei praktisch vorhanden gewesen!
- Gegenruf von der SPD: Schämen Sie sich doch einmal!)
- Ich habe gerade ausführlich dargestellt, dass die Mehrheit im Sicherheitsrat das so
gesehen hat.
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Und was haben die erreicht?)
- Entschuldigung, diesen Zwischenruf verstehe ich jetzt wirklich nicht. Ihr Zwischenruf
behauptet ja, dass eine friedliche Abrüstungsperspektive nicht bestanden hätte und das,
was Blix und al-Baradei uns vorgelegt haben - -, ja, was soll es gewesen sein?
(Dietmar Nietan [SPD]: Dann muss er es auch so sagen!)
Blix hat gesagt: Nicht Wochen, nicht Jahre fehlen uns, was wir brauchen, sind Monate.
Diese Chance hat bestanden. Wenn Sie das Gegenteil behaupten wollen, dann sollten Sie es
hier tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Nein, es ist ein bitterer Tag. Unsere Sorge gilt den Menschen. Wir wünschen uns und
hoffen, dass dieser Krieg möglichst schnell zu Ende geht. Unsere tiefe Sorge gilt der
Abwendung einer humanitären Katastrophe. Im Rahmen und unter der Leitung der VN wollen
wir das Unsere dazu beitragen, dass es dazu nicht kommt.
Darüber hinaus wollen wir eine multilaterale Weltordnung, wir wollen starke Vereinten
Nationen. Ich halte die These, der Sicherheitsrat sei geschwächt worden, schlicht für
falsch. Starke Vereinte Nationen setzen voraus, dass die Europäer zusammenfinden und das
Ihre dazu beitragen, dass eine multilaterale Weltordnung auf kooperativer
Sicherheitsgrundlage Wirklichkeit wird.
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
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