[Entwurf der Verfassungs-Urkunde für den preußischen Staat
durch die Verfassungs-Kommission der preußischen verfassunggebenden Nationalversammlung.
("Charte Waldeck")[1]
Vom 26. Juli 1848.]
Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden, König von
Preußen,
thun kund und fügen zu wissen, daß Wir mit den nach dem Wahlgesetze vom 8. April 1848
gewählten und demnächst von Uns zusammenberufenen Vertretern Unseres getreuen Volkes die
nachfolgende Verfassung vereinbart haben, welche wir demnach hierdurch verkünden.
Titel I.
Von dem Staatsgebiete.
Art. 1.
Alle Landestheile der preußischen Monarchie in ihrem
gegenwärtigen Umfange bilden das preußische Staatsgebiet.
Art. 2.
Die Gränzen dieses Staatsgebietes können nur durch ein Gesetz verändert
werden.
Titel II.
Von den Rechten der Preußen.
Art. 3.
Die Bedingungen für die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft
eines Preußen, so wie für die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte, werden durch die
Verfassung und besondere Gesetze bestimmt.
Art. 4.
Es giebt im Staate weder Standes-Unterschiede noch
Standes-Vorrechte. Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Der Adel ist
abgeschafft.
Art. 5.
[1] Die persönliche Freiheit gewährleistet.
[2] Außer dem Falle der Ergreifung auf frischer That darf eine Verhaftung nur
kraft eines schriftlichen, die Anschuldigung bezeichnenden, richterlichen Befehls bewirkt
werden. Dieser Befehl muß entweder bei der Verhaftung oder spätestens innerhalb 24
Stunden zugestellt werden. In gleicher Frist ist das Erforderliche zu veranlassen, um den
Verhafteten dem zuständigen Richter vorzuführen.
Art. 6.
[1] Niemand darf wider seinen Willen vor einen anderen als den im
Gesetze bezeichneten Richter gestellt werden.
[2] Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft.
[3] Keine Strafe kann angedroht oder verhängt werden, als in Gemäßheit des
Gesetzes.
Art. 7.
Die Wohnung ist unverletzlich. Haussuchungen dürfen nur unter
Mitwirkung des Richters oder der gerichtlichen Polizei in den Fällen und nach den Formen
des Gesetzes vorgenommen werden.
Art. 8.
Die Strafen des bürgerlichen Todes und der Vermögens-Confiscation finden nicht
statt.
Art. 9.
Die Auswanderungs-Freiheit ist von Staats wegen nicht beschränkt.
Abzugsgelder dürfen nicht erhoben werden.
Art. 10.
Die Freiheit der Presse und Rede darf durch kein Gesetz
beschränkt werden. Die Censur bleibt für immer aufgehoben.
Art. 11.
Der Mißbrauch der Presse und Rede wird nach den allgemeinen
Landes-Gesetzes bestraft. Bis zur erfolgten Revision des Strafrechts bestimmt darüber ein
besonderes transitorisches Gesetz.
Art. 12.
[1] Ist der Verfasser einer Schrift bekannt und in Preußen bei
Einleitung des gerichtlichen Verfahrens wohnhaft und anwesend, so dürfen Drucker,
Verleger und Vertheiler, wenn deren Mitschuld nicht durch andere Thatsachen begründet
wird, nicht verfolgt werden. Auf der Druckschrift muß der Drucker oder Verleger genannt
sein.
[2] Eine Sicherheitsleistung von Seiten der Schriftsteller, Verleger oder Drucker
darf nicht verlangt werden.
Art. 13.
Alle Preußen sind berechtigt, sich friedlich und ohne Waffen in
geschlossenen Räumen zu versammeln. Wer eine Versammlung unter freiem Himmel
zusammenberuft, muß davon sofort der Ortspolizei-Behörde Anzeige machen, welche dieselbe
wegen dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verbieten kann.
Art. 14.
Alle Preußen sind berechtigt, sich ohne vorgängige
obrigkeitliche Erlaubniß zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht
zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen.
Art. 15.
Die Bedingungen, unter welchen Corporationsrechte ertheilt oder
verweigert werden, bestimmt das Gesetz.
Art. 16.
Das Petitions-Recht steht allen Preußen zu. Petitionen unter
einem Gesammt-Namen sind nur Behörden und Corporationen gestattet.
Art. 17.
[1] Das Biefgeheimniß ist unverletzlich. Die bei
strafgerichtlichen Untersuchungen und in Kriegsfällen nothwendigen Beschränkungen sind
durch die Gesetzgebung festzustellen.
[2] Die Beschlagnahme von Briefen und Papieren darf nur auf Grund eines
richterlichen Befehls vorgenommen werden.
Art. 18.
Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist
unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse und der Theilnahme an irgend einer
Religions-Gesellschaft. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf dadurch
kein Abbruch geschehen. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und
der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet.
Art. 19.
[1] Jede Religions-Gesellschaft ist in Betreff ihrer inneren
Angelegenheiten und der Verwaltung ihres Vermögens der Staatsgewalt gegenüber frei und
selbstständig.
[2] Der Verkehr der Religions-Gesellschaften mit ihren Oberen ist unbehindert. Der
Erlaß und die Bekanntmachung ihrer Anordnungen ist nur denjenigen Beschränkungen
unterworfen, welchen alle übrigen Veröffentlichungen unterliegen.
Art. 20.
Das Kirchen-Patronat sowohl des Staates als der Privaten soll
aufgehoben werden. Die Aufhebung regelt ein besonderes Gesetz.
Art. 21.
Die bürgerliche Gültigkeit der Ehe wird durch deren
Abschließung vor dem dazu von der Staatsgesetzgebung bestimmten Civilstandes-Beamten
bedingt.
Art. 22.
Unterricht zu ertheilen und Unterrichts-Anstalten zu gründen,
steht Jedem frei. Vorbeugende beengende Maßregeln sind untersagt. Die Aeltern oder
Vormünder sind verpflichtet, ihre Kinder oder Pflegebefohlenen in den
Elementar-Gegenständen unterrichten zu lassen. Die Befugniß der Aeltern oder Vormünder,
darüber zu bestimmen, wo ihre Kinder oder Pflegebefohlenen unterrichtet oder erzogen
werden sollen, darf auf keine Weise beschränkt werden.
Art. 23.
Die Mittel zu Errichtung, Unterhaltung und Erweiterung der
öffentlichen Volksschule werden von den Gemeinden, aushülfsweise von den
Gemeinde-Verbänden und vom Staate aufgebracht. In der öffentlichen Volksschule wird der
Unterricht unentgeltlich ertheilt.
Art. 24.
Die öffentlichen Volksschulen, so wie alle übrigen öffentlichen
Unterrichts-Anstalten, stehen unter Aufsicht eigener Behörden und sind von jeder
kirchlichen Aufsicht frei.
Art. 25.
Ein Unterrichts-Gesetz regelt das ganze öffentliche
Unterrichtswesen auf Grund vorstehender Bestimmungen.
Art. 26.
[1] Jeder Preuße ist nach vollendetem zwanzigsten Jahre
berechtigt, Waffen zu tragen. Die Ausnahmefälle bestimmt das Gesetz.
[2] Jeder waffenberechtigte Preuße ist dem Staate wehrpflichtig. Ausnahmen dürfen
nur eintreten wegen körperlicher Unfähigkeit oder aus Rücksichten des Gemeinwohls nach
Maßgabe des Gesetzes.
Art. 27.
[1] Die bewaffnete Macht besteht: aus dem stehenden Heere, der Landwehr, der
Volkswehr.
[2] Besondere Gesetze regeln die Art und Weise der Einstellung und die Dienstzeit.
Art. 28.
Die bewaffnete Macht wird auf die Verfassung verpflichtet. Sie
kann zur Unterdrückung innerer Unruhen nur auf Requisition der Civilbehörden und in den
vom Gesetze bestimmten Fällen und Formen verwendet werden.
Art. 29.
Die Volkswehr besteht aus denjenigen wehrhaften Männern vom
vollendeten 21sten bis zurückgelegten 50sten Lebensjahre, welche nicht im aktiven Dienste
stehen. Sie hat vorzugsweise die Pflicht, die konstituirten Gewalten zu schützen und für
die Aufrechterhaltung der Ordnung und der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes zu
wachen. Im Kriege kann sie zur Unterstützung des stehenden Heeres und der Landwehr,
jedoch nur im Innern des Landes, nach Maßgabe des Gesetzes verwendet werden.
Art. 30.
Die Volkswehr hat das Recht, ihre Führer bis zu den Chefs
der Bataillone einschließlich selbst zu wählen. Sind höhere Führer erforderlich, so
hat die Regierung das Recht der Wahl unter drei von der Volkswehr vorgeschlagenen
Kandidaten. Der Landwehr steht das Recht der Wahl nur bis zum Grade des Hauptmanns
einschließlich zu. Die Art der Wahl bestimmt das Gesetz.
Art. 31.
Die bewaffnete Macht steht außer dem Kriege und Dienste unter dem
bürgerlichen Gesetze. Die militairische Disziplin im Kriege und Frieden bestimmt das
Gesetz.
Art. 32.
Kein bewaffnetes Corps darf berathschlagen.
Art. 33.
Das Eigenthum kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohls gegen
vorgängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig festzustellende Entschädigung
nach Maßgabe des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden.
Art. 34.
Die Errichtung von Lehen und Stiftungen von
Familienfideikommissen ist untersagt. Die bestehenden Lehen und Familienfideikommisse
werden ohne Entschädigung der Erbfolgeberechtigten freies Eigenthum in der Hand
desjenigen, welchem am Tage der Verkündung der gegenwärtigen Verfassung das Lehen oder
Fideikommiß angefallen war.
Art. 35.
Die Aufhebung der Lehnsherrlichkeit erfolgt ohne Entschädigung.
Art. 36.
Vorstehende Bestimmungen (Art. 34 und 35) finden auf die Thronlehen, das Königliche Haus- und prinzliche
Fideikommiß, so wie auf die außerhalb des Staates belegenen Lehen und die
standesherrlichen Lehen und Fideikommisse, insofern letztere durch das deutsche
Bundesrecht gewährleistet sind, zur Zeit keine Anwendung. Die Rechtsverhältnisse
derselben sollen durch besondere Gesetze geordnet werden.
Art. 37.
[1] Das Recht der freien Verfügung
über das Grundeigenthum unterliegt keinen anderen Beschränkungen, als denen der
allgemeinen Gesetzgebung. Die Theilbarkeit des Grundeigenthums und die Ablösbarkeit der
Grundlasten wird gewährleistet.
[2] Aufgehoben ohne Entschädigung sind: |
|
a) die Gerichtsherrlichkeit, die gutsherrliche Polizei und obrigkeitliche
Gewalt, so wie die gewissen Grundstücken zustehenden Hoheitsrechte und Privilegien,
wogegen die Lasten und Leistungen wegfallen, welche den bisher Berechtigten oblagen;
b) die aus diesen Befugnissen, aus der Schutzherrlichkeit, der früheren
Erbunterthänigkeit, der früheren Steuer- und Gewerbe-Verfassung herstammenden
Verpflichtungen. |
[3] Bei erblicher Ueberlassung eines
Grundstückes ist nur die Ubertragung des vollen Eigenthums zulässig; jedoch kann auch
hier ein fester, ablösbarer Zins vorbehalten werden. |
Titel III.
Vom Könige.
Art. 38.
Die Königliche Gewalt ist erblich in dem Mannesstamme des
Königlichen Hauses nach dem Rechte der Erstgeburt und der agnatischen Linealfolge.
Art. 39.
[1] Der König ist mit Vollendung des 18ten
Lebensjahres volljährig.
[2] Er leistet vor Ergreifung der Königlichen Gewalt im Schloß der vereinigten
Kammern folgenden Eid: |
|
"Ich schwöre, die Verfassung des Königreichs fest und
unverbrüchlich zu halten und in Uebereinstimmung mit derselben und den Gesetzen zu
regieren." |
Art. 40.
Ohne Einwilligung beider Kammern kann der König nicht zugleich Herrscher eines
anderen Staates sein.
Art. 41.
Im Falle der Minderjährigkeit des Königs vereinigen sich beide
Kammern zu Einer Versammlung, um die Regentschaft und die Vormundschaft anzuordnen,
insofern nicht schon durch ein besonderes Gesetz für Beides Vorsoge getroffen ist.
Art. 42.
Ist der König in der Unmöglichkeit, zu regieren, so beruft das
Ministerium sofort beide Kammern, um in Gemäßheit des Art. 41 zu
handeln.
Art. 43.
[1] Die Regentschaft kann nur Einer Person übertragen werden.
[2] Der Regent schwört vor Antretung der Regentschaft den im Art. 39
vorgeschriebenen Eid.
[3] Während der Regentschaft ist eine Aenderung der Verfassung nicht gestattet.
Art. 44.
[1] Die Person des Königs ist unverletzlich. Seine Minister sind
verantwortlich.
[2] Alle Regierungsakte des Königs bedürfen zu ihrer Gültigkeit der
Gegenzeichnung eines Ministers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.
Art. 45.
Dem Könige steht die vollziehende Gewalt zu. Er ernennt und
entläßt die Minister. Er befiehlt die Verkündung der Gesetze und erläßt die zu deren
Ausführung nöthigen Verordnungen, ohne jemals die Vollziehung der ersteren aufschieben
oder erlassen zu können.
Art. 46.
Der König führt den Oberbefehl über das Heer und besetzt alle
Stellen in demselben, so wie in den übrigen Zweigen des Staatsdienstes, insofern nicht
das deutsche Bundesrecht die Verfassungs-Urkunde oder das Gesetz ein Anderes verordnet.
Art. 47.
[1] Der König hat das Recht, Krieg zu erklären, Frieden zu
schließen und Verträge mit fremden Regierungen zu errichten, insofern dies Recht nicht
durch das deutsche Bundesrecht beschränkt ist oder werden wird.
[2] Unter dieser letzten Beschränkung bedürfen alle Verträge und
Friedensschlüsse mit fremden Staaten zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung oder der
nachträglichen Genehmigung der Kammern.
Art. 48.
[1] Der König hat das Recht der Begnadigung und der
Strafmilderung.
[2] Zu Gunsten eines wegen seiner Amtshandlungen verurtheilten Ministers
kann dies Recht nur auf Antrag derjenigen Kammer ausgeübt werden, von welcher die Anklage
ausgegangen ist.
[3] Er kann bereits eingeleitete Untersuchungen nur auf Grund eines besonderen
Gesetzes niederschlagen.
Art. 49.
[1] Dem Könige steht die Verleihung von Orden und anderen mit
keinen Privilegien versehenen Auszeichnungen zu.
[2] Er übt das Münzrecht nach Maßgabe des Gesetzes.
Art. 50.
Das Gesetz bestimmt die Civilliste für die Dauer jeder Regierung.
Art. 51.
[1] Der König beruft die Kammern und schließt ihre Sitzungen. Er
kann sie entweder beide zugleich oder nur eine auflösen.
[2] In der Auflösungs-Urkunde muß der Tag der neuen Wahlen und der
Berufung der Kammern bestimmt und die desfallsige Frist für die ersteren nicht über 40,
für die letztere nicht über 60 Tage ausgedehnt werden.
Art. 52.
Der König kann die Kammern vertragen. Ohne deren
Zustimmung darf diese Vertagung die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während
derselben Session nicht wiederholt werden.
Titel IV.
Von den Ministern.
Art. 53.
[1] Die Minister, so wie die zu ihrer Vertretung abgeordneten
Staatsbeamten, haben Zutritt zu jeder Kammer und müssen auf ihr Verlangen gehört werden.
[2] Jede Kammer kann die Gegenwart der Minister verlangen.
[3] Die Minister haben in einer oder der anderen Kammern nur dann Stimmrecht, wenn
sie Mitglieder derselben sind.
Art. 54.
[1] Die Minister können durch Beschluß einer Kammer wegen des Verbrechens der
Verfassungs-Verletzung, der Bestechung und des Verraths angeklagt werden. Ueber solche
Anklagen entscheidet der oberste Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten; so
lange noch zwei oberste Gerichtshöfe bestehen, treten dieselben zu obigen Zwecken
zusammen.
[2] Die näheren Bestimmungen über die Fälle der Verantwortlichkeit, über das
Verfahren und das Strafmaß werden einem besonderen Gesetze vorbehalten.
Titel V.
Von den Kammern.
Art. 55.
[1] Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den
König und durch zwei Kammern ausgeübt.
[2] Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetz
erforderlich.
[3] Wird jedoch ein Gesetzes-Vorschlag unverändert von beiden Kammern zum
drittenmale angenommen, so erhält er durch die dritte Annahme Gesetzeskraft.
Art. 56.
Die zweite Kammer besteht aus 350 Mitgliedern. Die Wahlbezirke
werden nach Maßgabe der Bevölkerung festgestellt.
Art. 57.
Jeder Preuße, welcher das vierundzwanzigste Lebensjahr vollendet
und nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen
Erkenntnisses verloren hat, ist in der Gemeinde, worin er seit sechs Monaten seinen
Wohnsitz oder Aufenthalt hat, stimmberechtigter Urwähler, insofern er nicht aus
öffentlichen Mitteln Armen-Unterstützung bezieht.
Art. 58.
Die Urwähler einer jeden Gemeinde wählen auf jede Volkszahl von
250 Seelen ihrer Bevölkerung einen Wahlmann.
Art. 59.
Die Abgeordneten werden durch die Wahlmänner gewählt. Die Wahlbezirke sollen
so organisirt werden, daß mindestens zwei Abgeordnete von einem Wahlkörper gewählt
werden.
Art. 60.
Nach Ablauf von zwei Legislatur-Perioden der zweiten Kammer
können direkte Wahlen für dieselbe durch das Gesetz eingeführt werden.
Art. 61.
Die Legislatur-Periode der zweiten Kammer wird auf drei Jahre festgesetzt.
Art. 62.
Zum Abgeordneten der zweiten Kammer ist jeder Preuße
wählbar, der das dreißigste Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen
Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses nicht verloren und bereits
ein Jahr lang in Preußen seinen Wohnsitz hat.
Art. 63.
Die erste Kammer besteht aus 175 Mitgliedern.
Art. 64.
Die Mitglieder der ersten Kammer werden durch die Bezirks- und
Kreisvertreter erwählt. Die vereinigten Bezirks- und Kreisvertreter eines Bezirks bilden
je einen Wahlkörper und wählen die nach der Bevölkerung auf den Bezirk fallende Zahl
der Angeordneten.
Art. 65.
Die Legislatur-Periode der ersten Kammer wird auf sechs Jahre
festgesetzt.
Art. 66.
Wählbar zum Mitgliede der ersten Kammer ist jeder Preuße, der
das vierzigste Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge
rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses nicht verloren und bereits ein Jahr lang in
Preußen seinen Wohnsitz hat.
Art. 67.
Die Kammern werden nach Ablauf ihrer Legislatur-Periode neu
gewählt. Ein Gleiches geschieht im Falle der Auflösung. In beiden Fällen sind die
bisherigen Mitglieder wieder wählbar.
Art. 68.
Das Nähere über die Ausführung der Wahlen zu beiden Kammern
bestimmt das Wahlausführungs-Gesetz.
Art. 69.
Stellvertreter für die Mitglieder beider Kammern werden nicht gewählt.
Art. 70.
[1] Die Kammern werden durch den König regelmäßig im Monat
November jeden Jahres und außerdem, so oft es die Umstände erheischen, einberufen.
[2] Am letzten Tage dieses Monats, so wie spätestens am zehnten Tage nach dem Tode
des Königs, versammeln sich dieselben von Rechts wegen.
[3] Ist in letzteren Falle die eine oder andere Kammer aufgelöst und erst auf
einen späteren Zeitpunkt wieder einberufen, so tritt die aufgelöste Kammer bis zur
Zusammenkunft der neugewählten in Wirksamkeit.
[4] Bis zur Eidesleistung des Thronfolgers oder des Regenten übt das
Staats-Ministerium unter eigener Verantwortlichkeit die Königliche Gewalt aus.
Art. 71.
[1] Die Eröffnung und Schließung der Kammern geschieht durch den
König in Person oder durch einen dazu von ihm beauftragten Minister in einer Sitzung der
vereinigten Kammern.
[2] Beide Kammern werden gleichzeitig berufen, eröffnet, vertagt und geschlossen.
[3] Wird eine Kammer aufgelöst, so setzt die andere ihre Sitzungen aus.
Art. 72.
[1] Dem Könige, so wie jeder Kammer, steht das Recht zu, Gesetze
vorzuschlagen.
[2] Vorschläge, welche durch eine der Kammern oder durch den König verworfen
worden sind, können in derselben Session nicht wieder vorgebracht werden.
[3] Jeder Gesetzesvorschlag über Einnahme und Ausgabe des Staates, so wie über
Ergänzung des stehenden Heeres, muß zuerst von der zweiten Kammer genehmigt werden.
Art. 73.
Eine jede Kammer hat die Befugniß, Kommissionen zur Untersuchung
von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamter Zeugen
eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren.
Art. 74.
[1] Keine der beiden Kammern kann einen Beschluß fassen, wenn
nicht die Mehrheit ihrer Mitglieder anwesend ist.
[2] Jede Kammer faßt ihre Beschlüsse nach absoluter Stimmenmehrheit,
vorbehaltlich der durch die Geschäfts-Ordnung für Wahlen etwa zu bestimmenden Ausnahmen.
Art. 75.
[1] Jede Kammer prüft die Legitimation ihrer Mitglieder und
entscheidet darüber. Sie regelt ihren Geschäftsgang durch eine Geschäfts-Ordnung und
erwählt ihren Präsidenten, ihre Vice-Präsidenten und Schriftführer.
[2] Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in die Kammer. Durch die Annahme
eines besoldeten Staats-Amtes oder einer Beförderung im Staatsdienste verliert jedes
Mitglied einer Kammer Sitz und Stimme in derselben und kann seine Stelle nur durch eine
neue Wahl wieder erlangen.
[3] Niemand kann Mitglied beider Kammern sein.
Art. 76.
[1] Jede Kammer hat für sich das Recht, Adressen an den König zu
richten.
[2] Niemand darf den Kammern oder einer derselben in Person eine Bittschrift oder
Adresse überreichen.
[3] Jede Kammer kann die an sie gerichteten Schriften an die Minister überweisen
und von denselben Auskunft über eingehende Beschwerden verlangen.
Art. 77.
Die Sitzungen beider Kammern sind öffentlich. Jede Kammer tritt
auf den Antrag ihres Präsidenten oder von 10 Mitgliedern zu einer geheimen Sitzung
zusammen, in welcher dann zunächst über diesen Antrag zu beschließen ist.
Art. 78.
[1] Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes.
[2] Sie stimmen nach ihrer freien Ueberzeugung und sind an Aufträge und
Instructionen nicht gebunden.
Art. 79.
[1] Sie können für ihre Abstimmungen oder für die in ihrer
Eigenschaft als Abgeordneter abgegebenen schriftlichen oder mündlichen Aeußerungen nicht
zur Rechenschaft gezogen werden.
[2] Kein Mitglied einer Kammer kann ohne ihre Genehmigung während der
Sitzungs-Periode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder
verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That oder binnen der nächsten 24
Stunden nach derselben ergriffen.
[3] Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden nothwendig.
[4] Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied einer Kammer und eine jede
Untersuchungs- oder Civil-Haft wird für die Dauer der Sitzung aufgehoben, wenn die
betreffende Kammer es verlangt.
Art. 80.
Die Mitglieder beider Kammern erhalten aus der Staats-Kasse Reisekosten und
Diäten nach Maßgabe des Gesetzes. Ein Verzicht hierauf ist unstatthaft.
Titel VI.
Von der richterlichen Gewalt.
Art. 81.
[1] Die richterliche Gewalt wird im Namen des Königs durch
unabhängige, keiner anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfene Gerichte
ausgeübt wird.
[2] Die Urtheile werden im Namen des Königs ausgefertigt und vollstreckt.
Art. 82.
[1] Die Richter werden vom Könige auf ihre Lebenszeit ernannt.
[2] Sie können nur durch Urtheil und Recht aus Gründen, welche die Gesetze
vorgesehen und bestimmt haben, ihres Amtes entsetzt, zeitweise enthoben, unfreiwillig an
eine andere Stelle versetzt oder pensionirt werden.
[3] Auf die Versetzungen, welche durch Veränderungen in der Organisation der
Gerichte oder ihrer Bezirke nöthig werden, findet diese Bestimmung keine Anwendung.
Art. 83.
Das Richteramt ist mit der gleichzeitigen Verwaltung eines anderen
besoldeten Staatsamtes unvereinbar. Ausnahmen finden nur auf Grund eines Gesetzes statt.
Art. 84.
Die Verleihung von Titeln, die nicht unmittelbar mit dem Amte
verbunden sind, und von Orden, so wie die Zuwendung von Gratificationen an Richter, darf
nicht stattfinden.
Art. 85.
[1] Es sollen in ganzen Umfange der Monarchie Einzelrichter,
Landgerichte und Appellationsgerichte eingeführt werden.
[2] Die Organisation wird durch das Gesetz bestimmt, welches gegenwärtiger
Verfassungs-Urkunde beigefügt ist.
Art. 86.
Niemand darf zu einem Richteramte berufen werden, welcher sich
nicht zu demselben nach näherer Vorschrift der Gesetze befähigt hat.
Art. 87.
[1] Handels- und Gewerbegerichte sollen im Wege der Gesetzgebung
an den Orten errichtet werden, wo das Bedürfniß solche erfordert.
[2] Die Einrichtung der zur Aufrechterhaltung der militairischen Disziplin
nothwendigen Militairgerichte wird durch das Gesetz bestimmt.
[3] Die Organisation und Zuständigkeit der Handels-, Gewerbe- und
Militairgerichte, das Verfahren bei denselben, die Ernennung ihrer Mitglieder, die
besonderen Verhältnisse der Letzteren und die Dauer ihres Amtes werden durch das Gesetz
festgestellt.
Art. 88.
Nach Einführung eines gleichförmigen Gerichts-Verfahrens werden
die noch bestehenden obersten Gerichtshöfe zu einem einzigen vereinigt.
Art. 89.
[1] Alle Functionen, welche nicht im Rechtsprechen bestehen oder
dasselbe nicht vorbereiten, sollen von dem Richter-Amte getrennt sein.
[2] Ausnahmen bestimmt das Gesetz.
Art. 90.
[1] Die Verhandlungen vor den erkennenden Gerichten in Civil- und
Strafsachen sollen öffentlich sein. Die Oeffentlichkeit kann jedoch durch ein öffentlich
zu verkündendes Urtheil ausgeschlossen werden, wenn sie der Ordnung oder den guten Sitten
Gefahr droht.
[2] In Civilsachen kann die Oeffentlichkeit auch durch Gesetze beschränkt werden.
Art. 91.
Bei den mit schweren Strafen bedrohten Handlungen (Verbrechen), so
wie bei politischen und Preßvergehen, erfolgt die Entscheidung über die Schuld des
Angeklagten durch Geschworene. Die Bildung des Geschworenengerichts wird durch ein Gesetz
geregelt, welches der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde beigefügt ist.
Art. 92.
Die Kompetenz der Gerichte und Verwaltungs-Behörden wird durch
das Gesetz bestimmt. Ueber Kompetenz-Konflikte zwischen den Gerichten und den
Verwaltungs-Behörden entscheidet ein durch das Gesetz bezeichneter Gerichtshof.
Art. 93.
Es ist eine vorgängige Genehmigung der Behörden nöthig, um
öffentliche Civil- und Militair-Beamte wegen der durch Ueberschreitung ihrer
Amtsbefugnisse verübten Rechtsverletzungen gerichtlich zu belangen.
Titel VII.
Von den Staatsbeamten.
Art. 94.
Die besonderen Rechtsverhältnisse der nicht zum Richterstande
gehörigen Staatsbeamten, einschließlich der Staats-Anwalte, sollen durch ein Gesetz
geregelt werden, welches, ohne die Regierung in der Wahl der ausführenden Organe
zweckwidrig zu beschränken, den Staatsbeamten gegen willkürliche Entziehung von Amt und
Einkommen angemessenen Schutz gewährt.
Art. 95.
Auf die Ansprüche der vor Verkündung der Verfassungs-Urkunde
etatsmäßig angestellten Staatsbeamten soll im Staatsdiener-Gesetz besondere Rücksicht
genommen werden.
Titel VIII.
Von der Finanz-Verwaltung.
Art. 96.
Alle Einnahmen und Ausgaben des Staats müssen für jedes Jahr im
voraus veranschlagt und auf den Staatshaushalts-Etat gebracht werden. Letzterer wird
jährlich durch ein Gesetz festgestellt.
Art. 97.
Steuern und Abgaben für die Staatskasse dürfen nur, so weit sie
in den Staatshaushalts-Etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sind,
erhoben werden.
Art. 98.
[1] In Betreff der Steuern können Bevorzugungen
nicht eingeführt werden.
[2] Die bestehende Steuer-Gesetzgebung wird einer Revision unterworfen und dabei
jede Bevorzugung abgeschafft.
Art. 99.
Gebühren können Staats- und Kommunal-Beamte nur auf Grund von Gesetzen
erheben.
Art. 100.
Die Aufnahme von Anleihen für die Staatskasse findet nur auf
Grund eines Gesetzes statt. Dasselbe gilt von der Uebernahme von Garantieen zu Lasten des
Staats.
Art. 101.
[1] Zu Etats-Ueberschreitungen ist die nachträgliche
Genehmigung der Kammern erforderlich. Die Rechnungen über den Staats-Haushalt werden von
der Ober-Rechnungskammer geprüft und festgestellt. Die allgemeine Rechnung über den
Staats-Haushalt jeden Jahres wird von der Ober-Rechnungskammer zur Entlastung der
Staats-Regierung den Kammern vorgelegt.
[2] Ein besonderes Gesetz wird die Einrichtung und die Befugnisse der
Ober-Rechungs-Kammer bestimmen.
Titel IX.
Von den Gemeinden, Kreis- und Bezirksverbänden.
Art. 102.
Das Gebiet des preußischen Staates
wird in Bezirke, Kreise und Gemeinden eingetheilt, deren Gränzen, Einrichtungen und
Verwaltungsform durch besonderes Gesetz unter Festhaltung folgender Grundsätze näher
bestimmt wird: |
|
1) Ueber die inneren und besonderen Angelegenheiten der Bezirke, Kreise
und Gemeinden beschließen aus gewählten Vertretern bestehende Versammlungen, deren
Beschlüsse durch die Vorsteher der Bezirke, Kreise und Gemeinden ausgeführt werden.
Das Gesetz wird die Fälle bestimmen, in welchen die Beschlüsse der Gemeinden, Kreise und
Bezirke der Genehmigung einer höheren Vertretung oder der Staats-Regierung unterworfen
sind.
2) Die Vorsteher der Bezirke werden von der Staats-Regierung ernannt, die der Kreise
werden von den Gemeinden, die der Gemeinden von den Gemeinde-Mitgliedern gewählt.
Die Organisation der Exekutivgewalt des Staates wird hierdurch nicht berührt.
3) Den Gemeinden insbesondere steht die selbstständige Verwaltung ihrer
Gemeinde-Angelegenheiten zu, mit Einschluß der Ortspolizei.
4) Alle selbstständigen Mitglieder einer Gemeinde, welche seit Jahresfrist in derselbe
ihren Wohnsitz haben, zu den Lasten der Gemeinde beitragen und sich im Vollgenusse der
staatsbürgerlichen Rechte befinden, sind in Angelegenheiten der Gemeinde gleich
berechtigt und insbesondere zur Wahl der Gemeindevertreter berufen.
5) Die Bezirks-, Kreis- und Gemeinde-Berathungen sind der Regel nach öffentlich. Die
Ausnahmen bestimmt das Gesetz. Ueber die Einnahmen und Ausgaben muß mindestens jährlich
ein Bericht veröffentlicht werden. |
Allgemeine Bestimmungen.
Art. 103.
Kein Gesetz, keine Verordnung ist verbindlich, wenn sie nicht
zuvor in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt gemacht sind.
Art. 104.
Ein die Verfassung abänderndes Gesetz muß in jeder Kammer durch
eine Stimmenmehrheit von mindestens zwei Drittheilen angenommen sein. Die
Schluß-Bestimmung des Artikels 55 findet hierauf keine Anwendung.
Art. 105.
Nach erfolgter Annahme der gegenwärtigen Verfassung wird der
König in Gegenwart der zur Vereinbarung der Verfassung berufenen Versammlung den im
Artikel 39 aufgenommenen Eid leisten.
Art. 106.
Die Mitglieder der beiden Kammern, alle Staatsbeamte und die
bewaffnete Macht haben dem Könige und der Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören.
Art. 107.
Sollten nach dem Schlusse der gegenwärtigen Versammlung
durch die für Deutschland festzustellende Verfassung Abänderungen der gegenwärtigen
Verfassungs-Urkunde nöthig werden, so wird der König dieselben anordnen und diese
Anordnungen den Kammern bei ihrer nächsten Versammlung mittheilen. Die Kammern werden
dann Beschluß darüber fassen, ob die vorläufig angeordneten Abänderungen mit der
deutschen Verfassung in Uebereinstimmung stehen.
Art. 108.
Alle den Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde entgegenstehenden
gesetzlichen Vorschriften treten sofort außer Kraft.
Art. 109.
Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben, bis sie
durch Gesetz abgeändert werden.
Art. 110.
Im Falle eines Krieges oder Aufruhrs kann durch ein
besonderes Gesetz eine zeit- und distriktsweise Aufhebung der Artikel 5, 13 und 26 der Verfassungs-Urkunde längstens bis zur
nächstfolgenden Kammer-Sitzung ausgesprochen werden. Sind in diesem Falle die Kammern
nicht versammelt, so kann auf Beschluß und unter der Verantwortlichkeit des
Staats-Ministeriums jene Suspendirung provisorisch ausgesprochen werden. Die Kammern sind
in diesem Falle sofort zusammenzuberufen.
Berlin, den 26. Juli 1848.
Die Verfassungs-Kommission. |
Waldeck.
Berends.
Hartmann. |
Baumstark.
Blöm.
Reuter. |
Bauerband.
von Daniels.
Reichensperger. |
Baltzer.
Elsner.
Stein. |
Behnsch.
Evelt.
Ulrich. |
Wachsmuth.
|
Zachariä.
|
Zenker.
|
|