Motive zum Verfassungs-Entwurf der Verfassungs-Kommission der preußischen verfassunggebenden Nationalversammlung ("Charte Waldeck").

[Vom 26. Juli 1848.]


Zum Eingang und zum Titel I.
Vom Staatsgebiete.

  [1] In dem Eingange der Verfassungs-Urkunde (dieser Ausdruck ist dem pleonastischen "Verfassungs-Gesetz" vorgezogen) hat die Kommission das Wegfallen des "etc. etc." hinter "König von Preußen" durch Mehrheit beschlossen. Dieses "etc. etc." soll die einzelnen Herzogthümer, Fürstenthümer, Herrschaften u. s. w. andeuten, welche in dem vollständigen Königlichen Titel aufgeführt werden. Da das ganze Land Eine Verfassung erhält, so erscheint die Andeutung dieser einzelnen Titel im Eingange der Gesetze nicht mehr angemessen. Sie könnte nur das Bedenken erregen, als ob ein Partikularismus dieser Art noch Bedeutung habe. Dagegen haben die Vorschläge, das "von Gottes Gnaden" als nicht mehr passend zu streichen und der Bezeichnung des Landes "von Preußen" diejenige der Bewohner desselben, "der Preußen", zu substituiren, keine Mehrheit erlangt.
  [2] Die Beziehungen Preußens zum deutschen Bunde sind im Artikel 107, sofern sie auf das gegenwärtige Verfassungs-Werk und dessen etwaige künftige Modificationen Einfluß haben, genügend zur Würdigung gekommen. Es war kein Anlaß, dieses Verhältnisses im Eingange und im Artikel 1 zu gedenken, da nach Ansicht der Kommission die Verfassung für den ganzen Staat gegeben werden muß.
  [3] Die nationale Reorganisation im Großherzogthum Posen ist noch nicht ausgeführt: es konnte also daraus keine Veranlassung entnommen werden, um diesen Landestheil von den Wohlthaten der neuen Verfassung auszuschließen. Auch ist die nationale Reorganisation des Großherzogthums Posen kein Grund, um diesem Theile des preußischen Staatsgebiets eine besondere Verfassung zu geben.

Zu Titel II.
Von den Rechten der Preußen.

Zu Art. 3.

  [1] Der Ausdruck "Staatsbürger", welcher sich im Rubrum und im Kontext des zweiten Titels des Regierungs-Entwurfs findet, schien der Kommission nicht umfassend genug, da ein Unterschied zwischen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten besteht und die hier behandelten Grundrechte doch allen Preußen zustehen. Der letzte Ausdruck ist daher vorgezogen.
  [2] Im §. 3 des Regierungs-Entwurfs wird auf das bestehende Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preuße vom 31. Dezember 1842 (Gesetz-Sammlung von 1843 S. 15) hingewiesen. Dasselbe entspricht nicht überall mehr den Verhältnissen und muß daher durch ein anderes ersetzt werden, welches die Kommission vorlegen wird.

Zu Art. 4.

  [1] Der Satz des Regierungs-Entwurfs: "Alle etc. sind vor dem Gesetze gleich", erhält erst durch die von uns ausgesprochene Aufhebung der Standes-Unterschiede und Standes-Vorrechte seine Bedeutung, wodurch namentlich auch jedes bürgerliche und politische Vorrecht des Adels hinwegfällt. Aus diesem Grunde hielt die Minorität der Kommission es nicht für erforderlich, den Adel selbst, die Adelstitel, abzuschaffen. Die Majorität dagegen war der Ansicht, daß, eben weil die Adelstitel nun bedeutungslos geworden, auch kein Anlaß vorhanden sei, solche von Seiten des Staats noch anzuerkennen, daß die gänzliche Abschaffung die beste Bürgschaft dafür gebe, daß nicht trotz der Gleichheit und Aufhebung der Vorrechte dennoch Bevorzugungen eintreten, daß zugleich eine Menge Gesetze, denen Bevorzugung des Adels zu Grunde liege, dadurch von selbst wegfallen. Eine Strafe wegen des Gebrauchs von Adelstiteln soll übrigens, das wird vorausgesetzt, nicht stattfinden.
  [2] Von einigen Seiten wurde beantragt, daß die Führung des Adelstitels nur den jetzt lebenden Inhabern desselben freistehen solle; die Beschränkung der Abschaffung des Instituts ist aber nicht angenommen.

Zu Art. 5.

  [1] Die Kommission hat zur Gewährleistung der persönlichen Freiheit den im Artikel 7 der belgischen Constitution enthaltenen Grundsatz adoptirt.
  [2] Durch die Annahme der Fälle "auf frischer That" wird, bei der gehörigen Organisation des Gerichtswesens, den Bedürfnissen der öffentlichen Sicherheit hinreichend entsprochen.
  [3] Das Verbot der Ausnahme-Gerichte und außerordentlichen Kommissionen mit richterlicher Attribution rechtfertigt sich selbst.
  [4] In Ansehung der Haussuchungen schien es nothwendig, der Willkür der Polizei-Behörden wenigstens insofern vorzubeugen, daß die Mitwirkung des Richters oder der gerichtlichen Polizei erfordert wird.

Zu Art. 8.

  Der im französischen und rheinischen Rechte geltende "bürgerliche Tod" ist längst als verwerflich anerkannt worden.

Zu Art. 9.

  Das Verbot der Abzugs-Gelder bei der Auswanderung ist Folge der Auswanderungs-Freiheit. Der Vorbehalt etwaiger Retorsion wurde nicht für erforderlich gehalten.

Zu Art. 10.

  [1] Die Vergehen, welche durch die Presse begangen werden, müssen nothwendig unter den Gesichtspunkt der allgemeinen Strafgesetze fallen, mögen nun Private betheiligt, mag die Sittlichkeit verletzt oder die Sicherheit des Staats gefährdet sein. Ein besonderes Gesetz über Preßvergehen ist daher überflüssig: es bedarf dessen transitorisch nur deshalb, weil viele Bestimmungen des jetzigen Strafrechts mit der Preßfreiheit nicht im Einklang stehen. Die Bestimmung, daß Preßvergehen nur durch Geschworene zu beurtheilen, ist dem Titel der richterlichen Gewalt vorbehalten.
  [2] Im Einklange mit der bestehenden Gesetzgebung mußte dem Angriff gegen den Verfasser und den Drucker, Verleger und Vertheiler zugleich, so weit es möglich ist, eine Schranke gesetzt werden. Auch schien es nöthig, das Recht auf Cautionsfreiheit zu einem verfassungsmäßigen zu erheben.

Zu Art. 13.

  Bei den Versammlungen unter freiem Himmel ist eine vorherige Anzeige an die Orts-Polizeibehörde schon deshalb nöthig, damit diese die Versammlung überwachen und die erforderlichen Sicherheits-Maßregeln ergreifen kann. Es schien aber als eine zu große und häufig den Zweck der Versammlung vereitelnde Beschränkung, wenn, wie der Regierungs-Entwurf verlangt, die Anzeige 24 Stunden vorher geschehen soll; vielmehr genügt die sofortige Anzeige. Es mußte aber auch derjenige, dem solche obliegt – der Zusammenberufende nämlich – bezeichnet werden. Verschiedene Ansichten walteten ob über die Frage:

Ob und inwiefern der Orts-Polizeibehörde ein Verbot zustehe?

Einige hielten ein präventives Einschreiten dieser Art, ehe Widergesetzlichkeiten in der Versammlung vorgekommen, überhaupt nicht für gerechtfertigt. Andere wollten das Verbot, unter Hinweisung auf den in den Verhandlungen des Vereinigten Landtages zur Sprache gekommenen Gesichtspunkt, nur alsdann zulassen, wenn durch die Versammlung die Benutzung öffentlicher Plätze und Straßen gehindert werden würde oder Unordnung für den öffentlichen Verkehr zu besorgen sei. Diese Ansichten wurden jedoch verworfen. Die Kommission hat, in Uebereinstimmung mit den frankfurter Entwurf der Grundrechte, der Polizei-Behörde das Verbot "wegen dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit" gestattet, um einerseits die Gefahren zu beseitigen, welche mit dem Einschreiten der bewaffneten Macht gegen große Versammlungen im Falle der Noth verbunden sind, anderentheils der ortspolizeilichen Willkür vorzubeugen.

Zu Art. 17.

  Die Beibehaltung der Beschränkungen, welche der Regierungs-Entwurf bei der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses macht, ist für nothwendig erachtet im öffentlichen Interesse, indem zugleich der Gesetzgebung die Sorge dafür überlassen worden, daß kein Mißbrauch daraus entstehe. Die Minorität hielt Ausnahmen dieser Art beim gerichtlichen Verfahren nicht für gerechtfertigt und im Falle des Kriegs für nicht erforderlich, indem der Kriegszustand sich auch durch ein Gesetz schwerlich regeln lassen werde.

Zu Art. 18.

  [1] Die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte von dem religiösen Bekenntnisse ist in diesem Artikel ausgesprochen. Daß dadurch die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten nicht leiden dürfen, sagt der folgende Satz und hat damit deutlich das Gebiet beschränken wollen, auf welchem allein eine Berührung der religiösen Bekenntnisse mit dem Staate eintreten kann. Diese Begrenzung ist einestheils umfassender, anderentheils weniger Mißdeutungen ausgesetzt, als diejenigen Ausdrücke, deren sich der Regierungs-Entwurf bedient: "So weit dadurch weder ein Strafgesetz übertreten, noch die öffentliche Sicherheit verletzt oder gefährdet wird.
  [2] In dem letzten Satze des Artikels wird nicht blos der Freiheit der gemeinsamen öffentlichen Religions-Uebung, sondern auch derjenigen des religiösen Bekenntnisses gedacht; denn auch letzteres ist außerhalb der Cognition des Staats zu stellen. Ferner ist es für angemessen erachtet, diese wichtigen Freiheiten nicht blos zu gestatten, sondern als verfassungsmäßiges Recht jedes Preußen zu gewährleisten.

Zu Art. 19.

  [1] Hier ist die Unabhängigkeit der Religions-Gesellschaften vom Staate anerkannt, sowohl in ihren inneren, religiösen Angelegenheiten, als in der Verwaltung ihres Vermögens. Dieser in der Theorie allein richtige und schon der Associations-Freiheit entsprechende Grundsatz ist auch in der Praxis am besten geeignet, den immer sehr nachtheiligen Konflikten des Staats mit den Religions-Gesellschaften zu begegnen.
  [2] Bei der Freiheit des Verkehrs der Religions-Gesellschaften mit ihren Oberen kann in unserer Zeit kein Bedenken mehr obwalten.
  [3] Wie der Regierungs-Entwurf im §. 12 in Ansehung des gegenwärtigen Vermögens der Religions-Gesellschaften eine Bestimmung aufgenommen hat, so wurde dies von einem Theile der Kommission für nothwendig gehalten, wobei jedoch eine besondere Erwähnung der katholischen und evangelischen Kirche unterbleiben sollte. Dieser Gegenstand wurde in einer mehrtätigen Debatte erörtert: es kam dabei auch zur Sprache, ob eine rechtliche Vermuthung dafür, daß das Kirchengut Eigenthum der Einzelgemeinde, und ob die Folge, welche dieser Grundsatz in Bezug auf die konfessionelle Aenderungen haben müsse, auszusprechen sei. Durch Majorität wurde jedoch der Wegfall aller derartigen Bestimmungen beschlossen.
  [4] Man ging davon aus, daß es keiner besonderen Bestimmungen bedürfe, um den Religions-Gesellschaften ihr Eigenthum zu sichern, daß es von der Beurtheilung des jedesmaligen Falles abhänge, inwiefern ein Eigenthums-Anspruch begründet sei, und daß spezielle Zusicherungen und Klauseln in einer solchen Sache immer etwas Bedenkliches haben, da sie der Mißdeutung leicht unterliegen können.

Zu Art. 20.

  Das Kirchenpatronat widerspricht seinem Begriffe nach so sehr der Autonomie der Religionsgesellschaften, führt in der Anwendung zu so erheblichen Uebelständen, daß das Bedürfniß der Aufhebung dieses Instituts keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Dem Patrone liegen jedoch in der Regel sehr erhebliche Lasten in Betreff der Kirchenbauten u. s. w. ob. Inwiefern diese mit dem Patronat-Rechte in so wesentlicher Verbindung stehen, daß der Wegfall des Patronats-Rechts den Patron auch von jenen Lasten befreien würde, das kann nur nach gründlicher Erörterung der ihrem Rechtsgrunde nach nicht überall gleichartigen Verhältnisse entschieden werden. Um einer solchen Entscheidung nicht vorzugreifen, hat die Kommission nur die Zusicherung der künftigen Aufhebung jenes Rechts aussprechen wollen, nicht, wie es Einige verlangten, schon die wirkliche Aufhebung. Sie hat eben so wenig der Ansicht beigepflichtet, welche die künftige Aufhebung des Patronats-Rechts davon abhängig machen wollte, daß die betreffende Gemeinde solches durch verfassungsmäßigen Beschluß beantrage.

Zu Art. 21.

  Die Trennung der Kirche vom Staate führt mit Nothwendigkeit dahin, daß der Staat die Form der Schließung der Ehe nicht mehr den Religions-Gesellschaften überlassen kann, sondern, so viel die den Staat allein interessirenden bürgerlichen Wirkungen der Ehe anlangt, lediglich von den Staats-Gesetzen abhängig sein lassen muß. Die Aufnahme dieses Grundsatzes in die Verfassungs-Urkunde wird durch seine große Wichtigkeit gerechtfertigt.

Zu Art. 22.

  Statt des §. 13 des Regierungs-Entwurfs, welcher zu keinem praktischen Resultate führt, da er die Freiheit des Unterrichts den in den Gesetzen bestimmten Beschränkungen unterwirft, haben wir unbedingt die Unterrichtsfreiheit ausgesprochen und die Fassung im Entwurfe der Grundrechte des deutschen Volks adoptirt. Eine Berechtigung des Staats, die Qualifikation der Privatlehrer von seiner Prüfung und Genehmigung abhängig zu machen, wurde von der Majorität nicht anerkannt und in dem Dasein der öffentlichen Schulen, so wie in dem eigenen Interesse derjenigen, welche Kinder dem Privatunterricht anvertrauen, ein hinreichender Schutz für die bürgerliche Gesellschaft gefunden. Die Pflicht derjenigen, denen die Erziehung der Kinder obliegt, diesen wenigstens den Elementar-Unterricht ertheilen zu lassen, ist ausgesprochen, dabei jedoch jede unnöthige Beschränkung beseitigt worden.

Zu Art. 23, 24 und 25

  Diese Artikel geben die leitenden Grundsätze für das öffentliche Volksschulwesen an. Der vieldeutige und daher im praktischen Erfolge unfruchtbare Satz: "Die Schule ist Sache des Staats", oder umgekehrt: "Die Schule ist Sache der Gemeinde", wurde absichtlich vermieden. Die Pflicht des Staats, aushülfsweise für die Unterhaltung der Volksschule zu sorgen, wenn Gemeindeverbände und Gemeinde dazu nicht im Stande sind, ist anerkannt. Dagegen fand die Meinung, welche die Unterhaltung der Volksschule geradezu dem Staat auferlegen wollte, keine Mehrheit. Man fürchtete, abgesehen von der Zweckmäßigkeit des Prinzips an und für sich, durch die sofortige Einführung desselben eine zu große Umwälzung des Volksschulwesens herbeizuführen und Fonds demselben zu entziehen, zu deren vollständigen Ersatz der Staat nicht füglich in der Lage sein möchte. Die Aufsicht über die Volksschule und das ganze Unterrichtswesen soll eigenen Behörden anvertraut werden. Bei der Besetzung dieser Behörden wird auf die Befähigung zur Aufsicht Rücksicht zu nehmen sein. Diese findet sich bei den Predigern und sonstigen Dienern der Religions-Gesellschaften nicht immer; sie haben auch als solche keinen Beruf zur Beaufsichtigung der Volksschule, die ihnen deshalb ausdrücklich entzogen worden ist. Damit kann sehr wohl bestehen, daß den Schulkindern im Unterrichtsplan hinreichend Zeit gelassen wird, um den Religions-Unterricht von dem Geistlichen der Religions-Gesellschaft zu erhalten, welcher sie angehören. Der besonderen Erwähnung, "daß die öffentlichen Volksschulen nicht konfessionell seien", bedurfte es unter diesen Umständen nicht. Die Minorität war der Ansicht, daß der Kirche die Aufsicht über die Volksschule nicht entzogen werden dürfe, weil die Aufgabe der Volksschule nicht blos den Unterricht, sondern auch die Erziehung umfasse, und letztere das religiöse Element nicht entbehren könne, was seine Haupt-Vertretung in der Kirche finde.

Zu Art. 26.

  Das Recht, Waffen zu tragen, gehört zu den Rechten eines freien Mannes; es können jedoch Fälle eintreten, wo dasselbe beschränkt werden muß. Diese werden gesetzlich festzustellen sein. Exemtionen von der schon bestehenden allgemeinen Wehrpflicht waren auf die beiden Rücksichten der körperlichen Unfähigkeit und des Gemeinwohls zu beschränken. Zweitweise Befreiungen von der Einstellung werden dadurch nicht berührt, wie dies der folgende

Art. 27

hinlänglich anspricht. Die jetzige Eintheilung der bewaffneten Macht in stehendes Heer und Landwehr entspricht dem Verhältnisse so sehr, daß es keinen Anstand haben konnte, sie in die Verfassungs-Urkunde aufzunehmen und mit Hinweglassung des Landsturms das neu zu gründende Institut der "Volkswehr" anzufügen.

Zu Art. 28 und 29.

  Die Volkswehr kann nur durch möglichste Ausdehnung ihre eigentliche Bedeutung gewinnen: daher ist ausgesprochen, daß sie aus den nicht in aktivem Dienst befindlichen wehrhaften Männern vom vollendeten 21sten bis zurückgelegtem 50sten Lebensjahr besteht. Ihre doppelte Aufgabe ist: Schutz der Ordnung und der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes. Ihr Beruf im Kriege konnte in der Verfassung nicht wohl enger beschränkt werden, als daß sie nur im Innern des Landes zu verwenden sei; das Nähere muß besonderen Anordnungen vorbehalten bleiben.

Zu Art. 30.

  Während von der einen Seite die Wahl der Führer bei der Volkswehr die beste Bürgschaft dafür giebt, daß sie als Männer des Vertrauens auch die gehörige Autorität über ihre Cops ausüben, schien es andererseits nöthig, bei den wichtigen Stellen der Regierung Einfluß durch Auswahl aus einer Kandidatenliste zu gewähren, da die Volkswehr doch als eines der kräftigsten Organe zur Stütze der Regierung zu betrachten ist. – Auch bei der Landwehr konnte die Einführung eines freilich beschränkteren Wahlrechts kein Bedenken haben und zur Förderung des Vertrauens der Wehrmänner zu ihren Führern nur geeignet erscheinen.

Zu Art. 31.

  Der Militairgerichtsstand in Civil-Streitsachen war längst aufgehoben; auch in Strafsachen, insofern nicht von der militairischen Disziplin die Rede ist, verlangt das Prinzip der Gerechtigkeit vor dem Gesetze, daß jede ausnahmsweise Stellung des Militairs sowohl, was die Gerichtszuständigkeit und die Art des Verfahrens, als was die Strafen selbst betrifft, aufhöre. Steht die bewaffnete Macht außer dem Kriege und dem Dienste unter dem bürgerlichen Gesetze, so kann dies nur dazu beitragen, die seitherige Trennung des Militairs von den übrigen Klassen der Bevölkerung immer mehr zu beseitigen. Ausnahmen von den übrigen Rechten der Staatsbürger zum Nachtheil des Militairs erscheinen überall nicht gerechtfertigt und könnten nur verletzend wirken.

Zu Art. 32.

  Bedarf keiner Begründung, da überhaupt bewaffnete Versammlungen nicht einmal gestattet sind.

Zu Art. 33.

  Wer sein Eigenthum zu Gunsten des Staates aufgeben muß, kann mit Recht verlangen, daß die Entschädigung vorhergeht, damit ihm während der Zeit, welche die Feststellung dieser Entschädigung in Anspruch nimmt, nicht der Besitz und Genuß des Eigenthums entzogen werde. Dringende Fälle können eine Ausnahme erheischen. Doch wird es auch dann möglich sein, eine vorläufige Feststellung vorangehen zu lassen, vorbehaltlich der definitiven, welche nachträglich erfolgen wird.

Zu Art. 34, 35 und 36.

  [1] Die Lehnherrlichkeit, ein für die jetzigen Staatsverhältnisse längst bedeutungslos gewordener Ueberrest einer vergangenen Zeit, war zum großen Theile im preußischen Staate schon aufgehoben. Das Aufgeben desselben da, wo er noch besteht, leidet keinen Anstand. Das Lehnswesen hatte zur Folge, daß die Lehngüter nur einer beschränkten Disposition des Besitzers unterworfen waren und in der Regel nach einer abweichenden Successions-Ordnung an einen Einzelnen vererbt wurden. Beides trifft auch bei den Familienfideikommissen ein und hat den nachtheiligen Einfluß gehabt auf die Entwicklung der Boden-Kultur und auf viele persönliche Verhältnisse, indem namentlich die Versorgung der nachgeborenen Kinder durch mancherlei Vorrechte und Institute theilweise dem Staate aufgewälzt wurde. Mit der Aufhebung der Standesvorrechte und der Begründung des Rechtsstaates muß auch ein Institut fallen, welches eben nur als Stütze des Feudalstaates Bedeutung hatte; es muß der schädlichen Anhäufung so großer Güter-Komplexe in den Händen weniger Einzelner, der naturwidrigen Ungleichheit der Erbtheilung zwischen gleich nahestehenden Erben ein Ende gemacht werden. Es reicht nicht hin, die Errichtung derartiger Verhältnisse für die Zukunft zu verbieten, sondern es muß der tiefgreifende Uebelstand so bald wie möglich aufhören. Die Aufhebung der bestehenden Familien-Fideikommisse enthält keine Rechtsverletzung, da denjenigen, welchen das Gut nicht angefallen, ein rechtlicher Anspruch eben so wenig eingeräumt werden kann, als den Intestat-Erben, welche einen Erb-Anfall noch nicht erlebt haben, ein solcher bei gesetzlicher Veränderung der Intestat-Erbfolge zusteht. Daher wurde von der Majorität sowohl die angeregte Entschädigung der Agnaten oder Fideikommiß-Berechtigten, als die Billigkeits-Rücksicht, das Gut erst in den Händen des nächsten Nachfolgers (premier appelé) freies Eigentum werden zu lassen, verworfen, und zwar um so mehr, da die günstigen Folgen der freien Dispositions-Befugniß des Fideikommißbesitzers sonst erst in eine ferne Zeit hinausgerückt werden würde.
  [2] Die eigenthümlichen Verhältnisse der übrigens nicht zahlreichen Thronlehen, der hierher nicht gehörigen Haus- und prinzlichen Fideikommisse und der Lehen und Fideikommisse der Standesherren, insofern diesen etwa aus dem Bundes-Rechte ein Anspruch zustehen könnte, sind zu einem besonderen Gesetze verwiesen worden.

Zu Art. 37.

  [1] Durch die Gesetzgebung der Jahre 1807 und folgenden sind in den östlichen, durch die französische, bergische und westfälische Gesetzgebung in dem westlichen Theile des Staates viele nicht mehr passende sogenannte Feudallasten aufgehoben, andere zur Ablösung verwiesen worden. Es hat aber später diese Gesetzgebung im Einzelnen wieder rückgängige Bewegungen erlitten, während sie noch der Ergänzung und Fortbildung bedurft hätte. Dem allgemein laut gewordenen Bedürfnisse nach Regulirung dieser Verhältnisse bei Gründung der neuen Verfassung mußte entsprochen werden, nicht nur aus Gründen des materiellen Wohls, sondern weil die Fortdauer der Ueberreste des Feudal-Staates mit dem Begriffe des constitutionellen Staates geradezu im Widerspruche steht. Die Verfassungs-Urkunde konnte hier jedoch nur Prinzipien ansprechen und muß es der von der gegenwärtigen Versammlung zu regelnden Gesetzgebung in dieser Materie überlassen, theils diese Grundsätze auf einzelne Lasten anzuwenden, theils vielleicht auch außerhalb dieser Grundsätze Anordnungen zu treffen.
  [2] Im Schlußsatze wird einem erheblichen Bedürfnisse genügt, ohne daß in den eigentlichen materiellen Verhältnissen etwas geändert wird.
  [3] Die Befugniß des Eigenthümers, sein Grundeigenthum zu zerstückeln, ist Ausfluß des Eigenthums. Da diese Befugniß in der Gesetzgebung der letzten Jahre eben so ungerechtfertigten als zweckwidrigen Beschränkungen ausgesetzt gewesen ist, so war es nicht überflüssig, dieses Recht, d. h. die Theilbarkeit des Grundeigenthums, in der Verfassungs-Urkunde ausdrücklich zu sichern.

Zum Titel III.
Vom Könige.

Zu Art. 38.

  Dieser Artikel unterscheidet sich vom §. 29 des Regierungs-Entwurfs nur dadurch, daß er das Recht der Thronfolge selbstständig nach dem bestehenden Fürstenrechte regulirt, ohne dabei der Königlichen Hausgesetze Erwähnung zu thun. Es war dies Letztere um so unbedenklicher, als für die Fälle der Minderjährigkeit und der anderweiten Behinderung des Königs ohnehin positive Festsetzungen in der Verfassungs-Urkunde nicht zu umgehen waren, mithin die Hausgesetze als solche eine unmittelbare politische Bedeutung nicht mehr behaupten konnten.

Zu Art. 39.

  [1] Die Großjährigkeit des Königs ist aus dem Grunde schon auf das vollendete achtzehnte Lebensjahr festgesetzt worden, weil das jugendliche Alter des Königs dem Staate keine so großen Gefahren zu drohen schien, als eine allzu lange Dauer der Regentschaft. Die letztere mußte um so mehr abgekürzt werden, als das monarchische Interesse und die Sicherung des Staates gegen ehrgeizige Unternehmungen Dritter es dringend geboten, alle Verfasungs-Aenderungen während der Dauer der Regentschaft zum voraus für unstatthaft zu erklären. (Art. 43.)
  [2] Die Form und der Inhalt des hier festgestellten Eides rechtfertigt sich durch den Begriff der Vereinbarung einer Verfassungs-Urkunde. Eine desfallsige transitorische Bestimmung für den jetztregierenden König folgt unten.

Zu Art. 40.

  Die Gefahren, welche die Vereinigung mehrerer Kronen auf dem Haupte eines Herrschers über ein Land bringen können, ließen die Bestimmung dieses Artikels als nothwendig erscheinen.

Zu Art. 41.

  [1] Nicht allein die Regentschaft, sondern auch die Vormundschaft des minderjährigen Königs muß auf dem Wege eines besonderen Gesetzes oder durch unmittelbare Beschlußnahme der Volksvertretung geordnet werden, indem der minderjährige König als solcher mehr der Nation als der Familie angehört.
  [2] Der Zusammentritt beider Kammern zu einer einzigen Versammlung war durch die Nothwendigkeit einer sofortigen einheitlichen Entscheidung geboten.

Zu Art. 42.

  Die Frage, ob der König durch Gefangenschaft oder Geisteskrankheit oder aus anderen Gründen in der Unmöglichkeit sei, zu regieren, fällt nicht in derselben Weise wie dessen Minderjährigkeit in das Gebiet der Notorietät; die Kammern können daher in diesem Falle nicht von Rechts wegen zusammentreten, sondern müssen von dem verantwortlichen Ministerium zusammenberufen werden.

Zu Art. 43.

  Die Regentschaft muß aus analogen Gründen, wie das Königthum selber, eine einheitliche sein, indem sie gerade das Prinzip der Einherrschaft zu erhalten berufen ist. Das Gegentheil führt zum Zwiespalt und zur Zerrüttung des Staates. (Cfr. ad Art. 39.)

Zu Art. 44.

  Die Unverletzlichkeit des Königs und die Verantwortlichkeit der Minister sind die Fundamentalsätze der constitutionellen Monarchie.

Zu Art. 45.

  Das Recht des Königs zur Erlassung von Ausführungs-Ordonnanzen ist ein Ausfluß seiner exekutiven Gewalt; dies Recht mußte indessen, wie geschehen, in genau bestimmte Schranken eingeschlossen werden, damit es niemals zu Eingriffen in das eigentliche Gebiet der gesetzgebenden Gewalt führen könne.

Zu Art. 46 und 47.

  [1] Bei Festsetzung der Königlichen Gewalt konnten die durch das deutsche Bundesrecht etwa nothwendig werdenden Beschränkungen der unbedingten Territorial-Souverainetät nur vorbehalten werden, da vor der Hand deren Art und Maß noch nicht definitiv festgestellt ist.
  [2] Was den Schlußsatz des Artikels 47 betrifft, so schien eine Beschränkung des Einwilligungsrechts der Kammern auf solche Verträge, welche den Staat belasten oder den einzelnen Staatsbürgern Pflichten auferlegen (belgische Verfassungsurkunde Artikel 68), aus dem Grunde nicht rathsam, weil einestheils jede praktische Anwendung dieses innerlich unklaren Satzes auf den konkreten Fall fast nothwendig zu Konflikten führt, und weil anderentheils die anscheinend vortheilhaftesten Traktate in ihren weiteren Konsequenzen oft große Nachtheile nach sich ziehen (Cfr. österreichische Verfassungsurkunde § 12.)

Zu Art. 48.

  [1] Das Königliche Recht der Begnadigung muß einer Beschränkung hinsichtlich der verurtheilten Minister unterliegen, wenn deren Verantwortlichkeit nicht illusorisch werden soll.
  [2] Das Recht der Abolition greift dagegen in das Gebiet der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt allzu sehr ein, als daß dasselbe innerhalb der constitutionellen Monarchie dem Könige allein überantwortet werden könnte.

Zu Art. 50.

  Die Civilliste kann nicht unwandelbar fixiert werden, wenn sie immerdar und unter allen Umständen ihren Zweck erreichen und den Glanz des Thrones sichern soll. Dagegen erheischt die Würde der Krone, daß jene Civilliste sofort für die ganze Dauer der Regierung eines Königs unwiderruflich festgesetzt werde, damit derselbe niemals in den Kampf der Parteien hinabgezogen werden könne.

Zu Art. 51 und 52.

  [1] Das Recht des Königs, nicht blos beide Kammern gleichzeitig, sondern auch eine Kammer allein aufzulösen, steht in unmittelbarer Verbindung mit dem Prinzip der ungleichen Wahlperioden für die beiden Kammern und giebt das Mittel an die Hand, durch Appelation an die Waehler den gestörten Einklang beider Kammern wiederherzustellen.
  [2] Die Vorschriften der sofortigen Zusammenberufung einer neuen Kammer, nach Auflösung der bisherigen, so wie über die Frist und die Wiederholung von Vertagungen der Kammern überhaupt, sind nothwendig, um die Wirksamkeit und die Würde derselben sicher zu stellen.

Zu Art. 53.

  [1] Die Minister, als freigewählte Organe der Krone, so wie deren Stellvertreter, müssen jeden Augenblick im Stande sein, die Interessen der Krone innerhalb der Kammern geltend zu machen.
  [2] Die Fälle der ministeriellen Verantwortlichkeit, so wie das Verfahren und das Strafmaß, sind zwar nothwendig durch ein besonderes Gesetz zu reguliren, nichtsdestoweniger scheint es angemessen, das Prinzip und den eigentlichen Charakter jener Verantwortlichkeit zum voraus, wie geschehen, in der Verfassungs-Urkunde zu substantiiren.
  [3] Als erkennendes Gericht mußte der höchste Gerichtshof der Monarchie mit Ausschluß der ersten Kammer um so mehr bezeichnet werden, da diese letztere ebenfalls aus der Volkswahl hervorgeht und darum in derselben Weise, wie die zweite Kammer, das Recht der Minister-Anklage auszuüben befugt ist.

Zu Art. 55.

  Die Mehrheit des Verfassungs-Ausschusses erblickte in der gleichen Konkurrenz der Krone bei der Gesetzgebung einen Fundamentalsatz der constitutionellen Monarchie und verwarf darum den Vorschlag, dem Könige überhaupt nur ein Veto einzuräumen. Es wurde indessen zur Vermeidung jeder dauernden Kollision zwischen der Krone und der Volksvertretung für nothwendig erachtet, die Genehmigung der ersteren nach dreimaliger unveränderten Annahme eines Gesetzesvorschlages stillschweigend vorauszusetzen.

Zu Art. 5662.

  [1] Bei der Zusammensetzung der zweiten Kammer ging die Kommission von dem Prinzipe aus, daß von den Wahlen zu diesem legislativen Körper Niemand, der überhaupt politische Rechte im Staate besitze, auszuschließen sei, damit Jedem mittelbar Gelegenheit gegeben werde, an der National-Vertretung Theil zu nehmen. Sie fand in dieser Beziehung die in dem bisherigen provisorischen Wahlgesetze vom 8. April 1848 enthaltenen Grundsätze – mit den in der Verfassungs-Urkunde angegebenen Modificationen – für völlig zweckentsprechend.
  [2] Zur Vermeidung der Uebelstände, die aus zu großen und deshalb schwerfälligen Versammlungen entstehen, wurde die Zahl der Mitglieder auf 350 festgesetzt.
  [3] Im Einklange mit dem oben aufgestellten Grundsatze der größtmöglichsten Theilnahme der Nation an ihrer Vertretung hat die Kommission die Zahl der Wahlmänner um das Doppelte vergrößert.
  [4] Drin, daß jeder Wahlbezirk mindestens 2 Deputirte zu wählen habe, glaubte sie eine Schutz gegen das überwiegend hervortretende Lokal-Interesse bei den Wahlen zu finden.
  [5] Die Kommission bekannte sich ferner dem Prinzip nach dem Modus der direkten Wahlen, hielt aber mit Rücksicht auf den Stand der politischen Bildung die vorläufige Beibehaltung der indirekten Wahlen für nothwendig. Sie konnte sich nicht bewogen finden, das Ausscheiden eines Theils der Mitglieder der Kammer während der Dauer der Legislatur-Periode festzusetzen, um dem jedesmaligen Volkswillen in seiner Totalität mehr Geltung zu verschaffen. Sie hielt endlich zur passiven Wählbarkeit einen einjährigen Aufenthalt in Preußen deshalb für nothwendig, weil mindestens ein Zeitraum von den angegebenen Dauer erforderlich ist, um sich mit den Verhältnissen des Landes vertraut zu machen.
  [6] Die Kommission nahm an, daß bei einem Wahlmanne Schreibenskunde nicht erforderlich sei, hielt jedoch die spezielle Aufnahme dieser negativen Bestimmung in der Verfassungs-Urkunde nicht für nöthig, da es genügt, wenn eines solchen Erfordernisses überhaupt nicht gedacht wird.

Zu Art. 6368.

  Die Kommission ging bei der Bestimmung über die Wahl zur ersten Kammer von dem Grundsatze aus, daß die Mitglieder ebenfalls aus Volkswahlen – ohne welche eine erste Kammer bald bedeutungslos wird – hervorgehen, zugleich aber eine Bürgschaft dafür gefunden werden müsse, daß in ihr vorzugsweise Intelligenz und Geschäftskunde vertreten werde. Die Vereinigung beider Momente glaubt sie in dem vorgeschlagenen Wahlmodus gefunden zu haben. Denn bei den Bürgern, welche von den Kreisen und Gemeinden zu Bezirks- und Kreisvertretern gewählt werden, läßt sich Popularität, Intelligenz und Sachkenntniß voraussetzen. Die von ihnen ausgehenden Wahlen werden daher ebenfalls diesen Eigenschaften entsprechen. Die Kommission hält es deshalb auch nicht für nothwendig, die passive Wählbarkeit zur ersten Kammer zu beschränken, mit Ausnahme des Erfordernisses des reiferen Alters von 40 Jahren.

Zu Art. 69.

  Die Erwählung von Stellvertretern ist auch in anderen constitutionellen Monarchieen nicht gebräuchlich, und das Institut hat sich nicht bewährt.

Zu Art. 70.

  [1] Die regelmäßige Einberufung der Kammern im Monat November schien angemessen, damit in jeder Session noch Geschäfte sowohl für das laufende als für das folgende Jahr erledigt werden können, und damit die Abgeordneten in ihren bürgerlichen Verhältnissen möglichst nicht gestört würden.
  [2] Die Bestimmung, daß die Kammern in den angegebenen Fällen von Rechts wegen zusammentreten sollten, war zur Sicherung ihrer unabhängigen Wirksamkeit unerläßlich.

Zu Art. 71.

  Keine der zwei Kammern darf allein zusammen sein und verhandeln, weil nur beide Kammern in ihrer Totalität die Volksüberzeugung ausdrücken.

Zu Art. 72.

  [1] Das Recht der Initiative muß durch alle zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung berufenen Gewalten gleichmäßig ausgeübt werden, wenn nicht sofort eine Lähmung der Ausgeschlossenen eintreten soll.
  [2] Die Gesetz-Vorschläge über die Einnahmen und Ausgaben des Staates, so wie über Ergänzung des stehendes Heeres, sollen indessen nach dem Vorgange fast aller constitutioneller Verfassungs-Urkunden zuerst der Genehmigung der Abgeordneten-Kammer vorgelegt werden, weil diese letzteren Gesetze am unmittelbarsten das Volksleben berühren, und weil die letztgedachte Kammer als der unmittelbarste Ausdruck desselben anzusehen ist. Es sollten indessen unter jenen Gesetzvorschlägen allerdings nur eigentliche Finanzgesetze verstanden werden, nicht aber auch solche Gesetze, welche nur indirekt auf die Einnahmen oder Ausgaben des Staates einen Einfluß üben (z. B. Gesetze über Organisation einer Behörde, über Anlage einer Straße etc.), indem entgegengesetzten Falles das Recht der Initiative der ersten Kammer kaum mehr bestehen könnte.

Zu Art. 73.

  Das Recht, Untersuchungs-Kommission zu ernennen, mußte den Kammern vindizirt werden, wenn sie mit voller Sachkenntniß alle zu ihrer Wirksamkeit gehörigen Aufgaben lösen sollen. Es wurde hierbei für unnöthig erachtet, die Requisition der Behörde nur durch Vermittelung des Staats-Ministeriums eintreten zu lassen.

Zu Art. 74.

  Die Anwesenheit der Mehrheit der Mitglieder wurde zur Beschlußfähigkeit der Kammern für nöthig erachtet, um Ueberraschungen und eigentliche Minoritätsbeschlüsse zu verhüten.

Zu Art. 75.

  Die Wahl eines Beamten zum Abgeordneten muß im Interesse der Freiheit der Wahlen an keine Beschränkung seitens der Regierung gebunden sein. Der folgende Satz entspricht dem von den National-Versammlung unlängst mit Einstimmigkeit gefaßten Beschlusse.

Zu Art. 7679.

  [1] Diese Bestimmungen tragen ihre Rechtfertigung in sich selber.
  [2] Der letztere Paragraph ist mit einigen Redactions-Verbesserungen dem unter Mitwirkung der National-Versammlung beschlossenen desfallsigen Gesetze entnommen.

Zu Art. 80.

  Es würde die indirekte Einführung eines hohen Census darin liegen, wollte man den Mitgliedern der Kammern keine Diäten zuweisen, indem alsdann nur sehr reiche Bürger in jene Kammern gewählt werden könnten.

Titel VI.
Von der richterlichen Gewalt.

  [1] Die Verfassungs-Kommission ist bei Bearbeitung dieses Titels von dem allgemeinen Gesichtspunkte ausgegangen, daß der künftigen Gesetzgebung über das materielle Recht und über die Prozeßform so wenig als möglich vorgegriffen werden dürfe. Indem die Kommission, im Anschlusse an den Regierungs-Entwurf, im Artikel 81 die richterliche Gewalt vom Könige ausgehen läßt, hat sie zugleich die Aufhebung aller Patrimonial-Gerichte im Auge gehabt. Einer ausdrückliche Aufhebung des auf Standes-Unterschiede gegründeten eximirten Gerichtsstandes bedurfte es nicht mehr, da derselbe schon durch den im Artikel 4 enthaltenen Grundsatz der völligen Rechtsgleichheit aller Preußen beseitigt wird.
  [2] Die Artikel 8284 haben den Zweck, die im Artikel 81 grundsätzlich ausgesprochene Unabhängigkeit des Richteramts gegen alle äußeren Einflüsse sicherzustellen. Es ist dabei als unzweifelhaft vorausgesetzt worden, daß Staatsanwalte nicht zu den richterlichen Beamten gehören, und daß diese Bestimmungen auf dieselben mithin keine Anwendung leiden. Der Art. 85 behält zwar die Justiz-Organisation einem besonderen, mit der Verfassungs-Urkunde gleichzeitig zu erlassenden Gesetze vor, sorgt aber durch die Eingangs-Bestimmungen für die Verallgemeinerung der in der Rhein-Provinz erprobten Ausübung der Rechtspflege durch Einzelrichter, kollegialische Gerichte erster und zweiter Instanz.
  [3] Durch den Artikel 86 wird Fürsorge getroffen, daß zu dem Richteramte nur wissenschaftlich und praktisch befähigte Männer berufen werden.
  [4] Während im Eingange des Artikels 87 dem anerkannten Bedürfniß besonderer Handels und Gewerbe-Gerichte Genüge geschieht, ist im zweiten Satze in Ausführung des Artikels 31 des Entwurfs zur Verfassungs-Urkunde die Einrichtung besonderer Militair-Gerichte vorbehalten, deren Kompetenz durch den Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung militairischer Disziplin ausschließlich bestimmt werden soll.
  [5] Da die allgemeinen Bestimmungen über die Verhältnisse des Richterstandes und die Einrichtung der ordentlichen Gerichte auf die Handels-, Gewerbe- und Militair-Gerichte nicht volle Anwendung leiden, so haben die Besonderheiten ihrer Einrichtung dem Gesetze vorbehalten werden müssen.
  [6] Im Artikel 88 ist das erstrebenswerthe Ziel einer Einheit in den Formen der Rechtspflege angedeutet und für diesen Fall die Verschmelzung der obersten Gerichtshöfe der Monarchie in Aussicht gestellt.
  [7] Durch die Bestimmung des Artikels 89 soll dem durch die öffentliche Meinung längst festgestellten Bedürfnisse einer gänzlichen Befreiung des erkennenden Richters von gerichtlichen Administrations-Geschäften entsprochen werden. Es bedarf keines Nachweises, daß in der bisherigen Verbindung der richterlichen Thätigkeit mit Administrations-Geschäften, wohin die Führung von Hypothekenbüchern, Verwaltung der Vormundschaften, der Sportel- und Depositalmassen gehören, eine Hauptquelle der Mängel liegt, welche in der Rechtspflege des größten Theils der Monarchie sich fühlbar gemacht haben.
  [8] Im Artikel 90 wird der Grundsatz der Oeffentlichkeit der Rechtspflege gewährleistet. Die Oeffentlichkeit kann nicht blos, wenn sie der Ordnung und den guten Sitten Gefahr droht, ausgeschlossen werden, sie leidet auch in Civilsachen, z. B. in Ehescheidungssachen, aus besonderen Gründen gewisse Ausnahmen, deren Feststellung dem Gesetze vorbehalten werden mußte.
  [9] Die Vorschrift des Artikels 91, daß bei den mit schweren Strafen bedrohten Handlungen (Verbrechen), so wie bei politischen und Preßvergehen, die Entscheidung über die Schuld des Angeklagten durch Geschworene erfolgen soll, war schon in der Verordnung vom 6. April 1848 (G. S. pag. 87) als eine Grundlage der künftigen preußischen Verfassung bezeichnet worden.
  [10] Im Artikel 92 hat die Nothwendigkeit einer gesetzlichen Gränzscheidung zwischen der Wirksamkeit der Gerichte und der Verwaltungs-Behörden angedeutet und zugleich die Errichtung eines besonderen Gerichtshofes zur Entscheidung von Attributions-Konflikten in Aussicht gestellt werden sollen. Durch den Artikel 93 wird Fürsorge getroffen, daß bei Rechtsverletzungen, welche durch Amtsüberschreitungen öffentlicher Civil- und Militair-Beamten verübt werden, die Verantwortlichkeit der Beamten sich nicht hinter ungesetzliche Befehle ihrer Vorgesetzten verstecke und dem ordentlichen Rechtsweg entgegentrete.

Titel VII.
Von den Staats-Beamten.

  [1] Mit Rücksicht auf die speziellen Bestimmungen, welche über die Rechtsverhältnisse des Richterstandes zur Aufnahme in die Verfassungs-Urkunde vorgeschlagen werden, hat es der Verfassungs-Kommission erforderlich geschienen, daß auch der Rechtsverhältnisse der nicht zum Richteramte gehörigen Staatsbeamten darin gedacht werde.
  [2] Es muß als eine unzweifelhafte Konsequenz der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit der Minister angesehen werden, daß der Regierungsgewalt ein freierer Spielraum in der Wahl ihrer ausführenden Organe zu gewähren ist, und daß insbesondere die Minister in der Anstellung und Entlassung der an der Spitze der Verwaltungs-Behörden stehenden Beamten, welche vorzugsweise zu einer einflußreichen politischen Thätigkeit berufen sind, nicht zweckwidrig beschränkt werden. Allein es ist kein Grund vorhanden, hieraus eine allgemeine und willkürliche Absetzbarkeit der Verwaltungs-Beamten ohne Unterschied ihres Berufskreises herzuleiten oder den Ministern gar das Recht einzuräumen, durch die aus politischen Gründen gebotene Versetzung oder Entlassung der Verwaltungs-Beamten zugleich das Einkommen derselben zu schmälern. Die Verfassungs-Kommission glaubt vielmehr, daß in einer gewissen, mit den constitutionellen Formen sehr wohl zu vereinigenden Selbstständigkeit der Verwaltungs-Beamten eine erwünschte Garantie für ihre gesetzliche und volksthümliche Amtsverwaltung zu finden sei, daß die Sorge für ihren Nahrungszustand und das entsittlichende Bewußtsein der Rechtlosigkeit ihnen durch angemessene Regelung und Sicherstellung ihres Rechtsverhältnisses fern gehalten werden müssen. Nur dann wird man darauf rechnen können, daß der Beamtenstand sich die volle Integrität und das Selbstgefühl eines würdigen Berufs erhalten werde, welches die sicherste Bürgschaft gegen den Mißbrauch des Amtes enthält. Die Kommission bescheidet sich aber, daß die Organisation der inneren Verwaltung erst in ihren Grundzügen feststehen muß, bevor sich die Einzelheiten eines Staatsdienergesetzes erörtern lassen. Sie hat es deshalb der künftigen Gesetzgebung überlassen wollen, diese Verhältnisse zu ordnen, indem sie sich darauf beschränkt, dem Grundsatze schrankenloser Willkür in Versetzung und Entlassung der Staatsbeamten durch die Verheißung entgegenzutreten, daß pflichtgetreuen Beamten gegen willkürliche Entziehung von Amt und Einkommen verfassungsmäßiger Schutz gewährt werden soll.
  [3] Außerdem scheint es der Kommission unerläßlich, den bereits etatsmäßig angestellten Beamten die Ansprüche zu gewährleisten, welche sie im Vertrauen auf deren Unverletzbarkeit, in Erfüllung der lästigen Bedingungen des Staatsdienstes, durch einen kostspieligen, die ungetheilte Kraft und Thätigkeit ihres Lebens erfordernden Bildungsgang und durch pflichtgetreue Amtsführung sich erworben haben.

Titel VIII.
Von der Finanz-Verwaltung.

  Die Verfassungs-Kommission hat zu wesentlichen Abänderungen oder Zusätzen der Regierungs-Vorlage in diesem Titel keinen Anlaß gehabt, da die Grundsätze beachtet waren, auf welchen die constitutionelle Ordnung der Finanz-Verwaltung beruhen muß. Die alljährliche öffentliche Feststellung des Budgets durch ein Gesetz, als einzige Richtschnur der Finanz-Verwaltung, die Bewilligung der Steuern und Abgaben durch Gesetze, die Abschaffung aller Steuer-Bevorzugungen und die öffentliche Rechnungs-Ablage über den Staatshaushalt sind durch die Artikel 96101 sichergestellt. Es ist anerkannt worden, daß die Vorprüfung der Rechnungen und die Feststellung ihres Resultats durch eine vom Staats-Ministerium unabhängige Behörde, die Ober-Rechnungskammer, erfolgen müsse, welche so den Kammern die allgemeine Rechnung vorzulegen hat, damit die Entlastung der Staats-Regierung erfolgen kann. Es versteht sich von selbst, daß auch die speziellen Unterlagen der allgemeinen Rechnung den Kammern auf Erfordern zugänglich sind, insofern deren Einsicht bei Prüfung der allgemeinen Rechnung nothwendig erscheint. Die Ober-Rechnungskammer bedarf unter den jetzigen Verhältnissen einer ihre Unabhängigkeit von der Regierungsgewalt mehr gewährleisteten Einrichtung, die der künftigen Gesetzgebung vorbehalten werden muß.

Titel IX.
Von den Gemeinden, Kreis- und Bezirksverbänden.

  [1] Die Verfassungs-Kommission erkannte einstimmig die Nothwendigkeit an, der Bezirks-, Kreis- und Gemeinde-Verwaltung einen besonderen Abschnitt in der Verfassungs-Urkunde zu widmen. Die bisherige Eintheilung des Staates in Provinzen, als Verwaltungs-Bezirke, beizubehalten, erachtet man nicht für angemessen, sondern entschied sich für die Eintheilung des Landes in Bezirke, Kreise und Gemeinden, ohne aber deshalb die Voraussetzung aufzugeben, daß bei der Bildung der Bezirke und Kreise auf die seitherige Begränzung der Provinzen möglichst Rücksicht genommen werden würde. Die beschlossene Eintheilung hebt die bisherige Gemeinschaftlichkeit der verschiedenen Geld- und sonstigen Provinzial- und Kreis-Institute nicht auf, indem hierfür durch Ausschüsse der Bezirks- und Kreisvertretung auch ferner gesorgt werden kann.
  [2] Die Gränzen, Einrichtungen und Verwaltungsformen näher festzustellen, mußte besonderen Gesetzen vorbehalten, als leitender Grundsatz jedoch die Wahrung des Interesses des Volkes in den verschiedenen Stadien durch gewählte Vertreter zugleich auch das Recht der Selbstregierung, in Betreff der inneren Angelegenheiten und der Vermögensverwaltung ausgesprochen werden. Auf diese Weise soll ein freies, selbstständiges Gemeindeleben befördert und gesichert, gleichzeitig aber auch der organische Zusammenhang der einzelnen Theile des Staates mit dem Ganzen erhalten und den Central-Behörden die Leitung desselben erleichtert werden. Hierbei erschien eine Vereinfachung des Staats-Organismus erforderlich, und wurden deshalb die bisher kollegialischen Regierungen mit den zwischen diesen und dem Ministerium stehenden Ober-Präsidenturen nicht beibehalten, vielmehr die Bildung kleinerer Bezirke, mit einem die Exekutivgewalt repräsentirenden, dem Ministerium direkt untergeordneten Vorsteher an der Spitze beschlossen.
  [3] Die Gemeinden und die zur Wahrung und Förderung der gemeinsamen Interessen mehrerer Gemeinden zu bildenden Kreise sind möglichst unabhängig und selbstständig hingestellt, um sie in ihrer freien Entwicklung nicht zu behindern. Darum sollen auch die Vorsteher der Kreise, wie die der Gemeinden, von diesen, beziehungsweise von deren Mitgliedern, gewählt, hierdurch aber die Exekutivgewalt des Staates in ihrer Organisation nicht berührt werden. – Die Minorität wollte die Kreisvorsteher durch die Staatsgewalt ernannt wissen, weil nach ihrer Ansicht die Kräftigung und Verantwortlichkeit der Exekutivgewalt dies erheische, zumal da auch die Stellung dieser Kreis-Vorsteher ein ganz andere, als die der bisherigen Landräthe sein würde.
  [4] Es ist noch zu erwähnen, daß bei der Bestimmung unter 4. das Bedürfniß erkannt wurde, nur solchen Mitgliedern einer Gemeinde eine volle Berechtigung in allen Gemeinde-Angelegenheiten zu geben, bei welchen ein lebhafteres Interesse an der Erhaltung und Förderung des Gemeindewesens vorausgesetzt werden kann; jede weitere Beschränkung sollte aber auch ferngehalten werden.

Allgemeine Bestimmungen.

Motive zu Art. 103109.

  Die Abänderung des Verfassungs-Entwurfes, welche bei den "Allgemeinen Bestimmungen" vorgenommen sind, rechtfertigen sich theils durch den Inhalt der vorherigen Artikel, theil bedürfen sie keiner besonderen Begründung.

Zu Art. 110.

  Der Entwurf läßt es undeutlich, ob die im §. 84 desselben bezeichneten Paragraphen im Gefolge eines allgemein oder eines für jeden besonderen Fall zu erlassenden Gesetzes außer Anwendung gesetzt werden dürfen. Die Kommission entschied sich für die letztere Alternative, hat aber zugleich für sehr dringliche Fälle des Krieges und Aufruhrs dem Staats-Ministerium nicht durchaus die Hände binden wollen, übrigens die Zulässigkeit einer solchen zeitweisen Suspendirung nur in Ansehung der in Artikel 5, 13 und 26 zugesicherten Rechte anerkannt und die Garantie in den sofortigen Zusammenberufungen der Kammern gefunden.


  Berlin, den 26. Juli 1848.

Die Verfassungs-Kommission.
Waldeck.     Baumstark.     Bauerband.      Baltzer.     Behnsch.
Berends.     Blöm.     von Daniels.      Elsner.     Evelt.      Hartmann.
Hesse.     Jonas.     Mätzke.      Niemeyer.     Peltzer.
Wachsmuth.     Zachariä.     Zenker.

 

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Quelle: Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staatsverfassung. Bd. I (Stenographische Berichte. May-August 1848), o.O. 1848, S. 729-734.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Motive zum Verfassungs-Entwurf der Verfassungs-Kommission der preußischen verfassunggebenden Nationalversammlung ["Charte Waldeck"] (26.07.1848), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/nzjh/preussen/1848/preussische-charte-waldeck_motive.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.01.2004
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