Beschluss des Länderrats von Bündnis 90/Die Grünen
"Politik gegen internationalen Terrorismus" *

Vom 16. September 2001


1. Die entsetzlichen Angriffe, die am 11.09.2001 auf die Vereinigten Staaten von Amerika verübt wurden, waren auch ein menschenverachtender Anschlag auf die Werte einer offenen, zivilen Gesellschaft, für die wir eintreten. Diese Angriffe haben unmittelbar weltweites Entsetzen, Trauer, Wut und große Sorge hervorgerufen und zugleich zu einer breiten Solidarität mit den Opfern, ihren Angehörigen und dem ganzen amerikanischen Volk geführt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind Teil dieser Solidarität.

2. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Weltgemeinschaft in seinen Anti-Terror-Resolutionen 1368 vom 12.09.2001 und 1373 vom 28.09.2001 zum entschiedenen Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgerufen und damit frühere Beschlüsse und die UNO-Konvention gegen Terrorismus vom 09.12.1999 bekräftigt. Wir teilen die Feststellung des Sicherheitsrates, dass die Terroranschläge vom 11.09.2001 eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellen. Wir sind uns bewusst, dass aus dieser Einschätzung ernsthafte weitreichende Konsequenzen gezogen werden müssen. Wir unterstützen die Forderung des Sicherheitsrates, dass die Verantwortlichen dieses Massenmordes, die Organisatoren und die Sponsoren ausfindig gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden. Wir sind bereit, auf internationaler Ebene die längst überfälligen Schritte gegen die Finanzierung des Terrors durch Geldwäsche, underground banking und die Ausnutzung von Steueroasen zu unterstützen und die Kooperation gegen den Terrorismus zu verbessern. Dafür sind im Inneren gesetzliche Maßnahmen notwendig. Erforderliche und geeignete Maßnahmen schlagen wir vor beziehungsweise unterstützen wir.

3. Wir Grüne folgen der Vision einer Völkergemeinschaft weltoffener Demokratien. Die weltweite Betroffenheit, die durch die terroristische Gewalt ausgelöst wurde, hat deutlich gemacht, wie sehr die Welt, in der wir leben, real zu einer Weltgesellschaft zusammenwächst. Mit unserem Einsatz für die Förderung von Menschenrechten, Demokratie, Toleranz und internationaler Gerechtigkeit tragen wir dazu bei, dem Terrorismus den Boden zu entziehen. Gegen die Gefahr der Privatisierung von Kriegsgewalt setzen wir auf die Perspektive einer "Weltinnenpolitik" mit der Eingrenzung der Gewalt durch internationale Herrschaft des Rechts. Der gemeinsame Kampf der Staaten und Völker gegen den Terrorismus bietet die Chance, neben dem Selbstverteidigungsrecht der Entwicklung internationalen Rechts einschließlich entsprechender Sanktionsgewalt ein erhöhtes Gewicht einzuräumen. Wenn terroristische Aggressoren nicht nur Feinde eines Staates oder Bündnisses sind, sondern der gesamten internationalen Gemeinschaft, dann wird es langfristig möglich sein, sie als Verbrecherorganisationen einem zu schaffenden globalen Rechtssystem zuzuführen. Wir fordern mit dieser Perspektive alle Staaten auf, dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten und das internationale Recht systematisch weiter zu stärken.

4. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern eine grundsätzlich Neuausrichtung der Sicherheitspolitik. Dabei muß im Vordergrund stehen, wie neuen globalen Bedrohungen durch Krisenprävention, durch zivile Konfliktbearbeitung, durch Schaffung globaler Gerechtigkeit und durch faire Lösung von Regionalkonflikten begegnet werden kann. Gerade die nicht militärischen Dimensionen der Sicherheit müssen Beachtung finden. Die Bundesregierung muß in diesem Zusammenhang ihre finanziellen Mittel für Krisenprävention, zivile Konfliktbearbeitung, auswärtige Kulturpolitik, freiwillige UNO-Beiträge, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe erheblich aufstocken. Bei der Entwicklungszusammenarbeit geht es nicht nur um die Verwirklichung eines Jahrzehnte alten Zieles zur finanziellen Unterstützung, sondern vor allem auch um die Öffnung unserer Märkte und gerechtere Handelsbeziehungen. Um dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen, ist die Überwindung ungerechter weltwirtschaftlicher Verhältnisse durch eine ökologisch-soziale Strukturpolitik nötig. Dazu zählen neben einer gerechteren Handelspolitik im Rahmen der WTO auch umfangreiche Schuldenerlasse, die über die beim Kölner G8-Gipfel initiierten Maßnahmen für die ärmsten Länder hinausgehen, ein internationales Insolvenzrecht, Maßnahmen zur Dämpfung der Spekulation, die Austrocknung von Steueroasen und die Konfiszierung kriminell erwirtschafteter oder kriminellen Zielen dienender Vermögen.
Wir ermutigen die Bundesregierung, mit dem Ziel der Austrocknung des Terrorismus auf eine weitergehende Beschränkung des Waffenhandels hinzuwirken.
Eine Bedrohungsanalyse, die den internationalen Terrorismus als vorrangige Bedrohung sieht, muß sich auch auswirken auf Strategien, Aufbau und Ausstattung der Bundeswehr. Die Weizsäcker-Kommission hat dafür bereits wertvolle Arbeit geleistet. Die Bundeswehrreform ist deshalb zu überprüfen. Dies schließt die Abschaffung der Wehrpflicht ein.

5. Eine breit angelegte Strategie gegen den Terror schließt eigene Aktivitäten der Zivilgesellschaft ein. Ihre vornehmste Aufgabe ist es, durch einen umfassenden Dialog der Kulturen dabei zu helfen, die gemeinsame normative Grundlage der gesamten Zivilisation zu vertiefen. Wir Grüne wollen daran mitwirken. Eine entsprechende Initiative, für die sich Bundespräsident Rau zusammen mit anderen Staatsoberhäuptern zur Verfügung gestellt hat, sollte breit unterstützt werden. Selbstverständlich muß der interkulturelle Dialog im eigenen Land glaubwürdig verfolgt werden. Die Entscheidungen, die zur Schließung von Goethe-Instituten geführt haben, obwohl diese im kulturellen Dialog besonders wertvoll sind, müssen korrigiert werden. Auch die politischen Stiftungen haben eine wichtige Aufgabe im interkulturellen Dialog und der Förderung demokratischer Zivilgesellschaften. Mittelfristig sind auch Städtepartnerschaften, die im europäischen Einigungsprozeß eine gute Rolle gespielt haben, im Dialog mit der islamischen Welt zu nutzen. Wo im Namen des Kampfes gegen Terrorismus Menschenrechte unterdrückt werden, wie zum Beispiel in Tschetschenien, werden wir Grüne im weltweiten Bündnis mit zivilgesellschaftlichen Organisationen dagegen eintreten. In diesem Sinne nutzen wir auch die staatliche Verantwortung, die wir tragen.

6. Wir fordern verstärkte Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft, lange schwelende Regionalkonflikte zu lösen. Das gilt insbesondere für den Nahen Osten. Wir unterstützen die Bundesregierung und vor allem Außenminister Joschka Fischer in ihrem intensiven Bemühen, auf der Basis des Mitchell-Berichtes den Friedensprozeß zwischen Israel und den Palästinensern wieder zu beleben. Die Unterstützung der Friedensbemühungen auf dem Balkan mit der Perspektive einer Teilhabe aller Balkanstaaten am Europa der Integration behält eine hohe Priorität; auch dafür ist grüne Außenpolitik mit klaren Konzepten, intensiv und erfolgreich aktiv. Wir hoffen, dass die Anti-Terror-Koalition es den beteiligten Staaten erleichtert, einen friedlichen Weg aus der Kaschmir-Krise zu finden. Wir begrüßen jeden Ansatz der Kooperation zwischen den zentralasiatischen Staaten zur Stabilisierung ihrer Region. Der gemeinsame internationale Kampf gegen den Terrorismus muß solche regionalen Prozesse erleichtern, darf sie zumindest nicht konterkarieren.

7. Gegen das heute schon unübersehbare Elend und die humanitäre Katastrophe in Afghanistan muß von der Weltgemeinschaft durch koordinierte Hilfeleistung angegangen werden. Dafür engagiert sich die Bundesregierung als Vorsitzende der Afghanistan Support Group in besonderer Weise. Durch eine zusätzliche deutsche Soforthilfe von 30 Mio. DM, die Bundesminister Fischer am 27.09.2001 zusagte, wurde ein Vorbild gegeben, das beim UNHCR-Forum am 5./6.10.2001 in Genf voraussichtlich weitere substantielle Zusagen nach sich ziehen wird. Aktuelle Hilfe für Flüchtlinge wird organisiert; allein in Pakistan wird die Kapazität zur Aufnahme von Flüchtlingen auf 1 Million bis Ende Oktober erhöht. Sollte es, wie zu erwarten steht, zu militärischen Aktionen gegen die Terroristen in Afghanistan und ihre Unterstützer kommen, muß gleichzeitig die Hilfe für die Millionen afghanischer Flüchtlinge, die zum Teil schon seit Jahren vor allem im Iran und in Pakistan leben, so bemessen sein, dass die angesichts des hereinbrechenden Winters drohende Eskalation der Not wirksam verhindert wird. Die Hilfe für Afghanistan soll vom Ziel der Rückkehr zu einer friedlichen Entwicklung des Landes geleitet sein.

8. Die Regierung der USA hat erklärt, dass sie hart, auch mit militärischen Mitteln, gegen die terroristische Aggression reagieren wird. Sie hat einen lang anhaltenden entschlossenen Kampf gegen den internationalen Terrorismus und seine Unterstützer angekündigt. Gleichzeitig hat sie auf kurzfristige, einseitige Vergeltungsaktionen verzichtet und in einer besonnenen Politik eine große internationale Koalition gegen der Terrorismus angestrebt. Nach wie vor gibt es in der deutschen wie der europäischen Öffentlichkeit und auch in unserer Partei die Sorge, eine militärische Reaktion könnte am Ende die Rechnung der Terroristen aufgehen lassen, die auf eine Eskalation der Gewalt setzen. Vor diesem Hintergrund unterstreichen wir das legitime Recht der USA zur Selbstverteidigung auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen. Glaubwürdig bleibt rechtsstaatliche Demokratie aber nur, wenn sie bei der Ermittlung und Bestrafung der Täter ihre eigenen Prinzipien nicht verletzt. Das Völkerrecht deckt Rache nicht ab; jegliche davon geprägte Eskalationsstategie lehnen wir weiterhin ab.

9. Auf Antrag der USA hat der NATO-Rat nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages den Bündnisfall beschlossen. Er hat damit nach Vorlage von Dokumenten durch die US-Regierung ohne Widerspruch festgestellt, dass die Terrororganisation bin Ladens Verantwortung für die Anschläge trägt. Die Ausrufung des Bündnisfalles gibt den USA das Recht, Hilfe gegen den bewaffneten Angriff einzufordern, militärische Hilfe eingeschlossen. Auch die Bundesregierung hat dem Beschluß des NATO-Rates zugestimmt. Diese schwere Entscheidung tragen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angesichts der terroristischen Angriffe in den USA mit. Die Annahme des Bündnisfalles hebt selbstverständlich nicht die Verpflichtung der deutschen Seite auf, in eigener Verantwortung und unter Beachtung der verfassungsmäßigen Regeln wie insbesondere des Parlamentsvorbehaltes selbst zu entscheiden, welche Hilfe mit welchen Mitteln sie für notwendig hält, um die Sicherheit wieder herzustellen und aufrecht zu erhalten. Über Unterstützungsmaßnahmen wie die Gewährung von Überflugrechten für die USA entscheidet die Bundesregierung entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in eigener Zuständigkeit.

10. Aus unseren außen- und sicherheitspolitischen Grundsätzen folgt: Jedes mögliche Vorgehen muß eingebunden sein in ein politisches Konzept, das über den Tag hinausweist und ein Angebot enthält zur wirksamen Behandlung der Konflikte, aus denen sich terroristische Gewalt speist. Jedes mögliche Vorgehen muß darauf gerichtet sein, die Terroristen und ihre Infrastruktur zu bekämpfen, aber die Zivilbevölkerung zu verschonen. Es muß in Übereinstimmung mit der Charta und den Beschlüssen der Vereinten Nationen stehen. Es muß sich daran ausrichten, dass nicht ein Kampf der Kulturen entsteht, der die Welt zerreißen würde. Es geht nicht um Krieg gegen ein Land, eine Kultur oder eine Religion, sondern um die Bekämpfung von Terroristen. Sofern ein militärisches Hilfeersuchen an Deutschland gerichtet wird, das die Zustimmung des Deutschen Bundestages erforderlich macht, fordern wir unsere Bundestagsabgeordneten auf, im Rahmen dieser grundsätzlichen Kriterien zu entscheiden.

 

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* Der kleine Parteitag stimmte mit 44 Ja-Stimmen bei 8 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen für den Leitantrag des Bundesvorstandes.


Quelle:
Beschluss des Länderrats von Bündnis 90/Die Grünen "Politik gegen internationalen Terroismus" (06.10.2001), in: Homepage des Bündnis 90/Die Grünen [Hrsg.], URL: http://www.gruene.de/archiv/grem/LR/01Berlin2/beschluss/beschluss_gegen_terror.htm, Stand: 07.10.2001.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Beschluss des Länderrats von Bündnis 90/Die Grünen "Politik gegen internationalen Terrorismus" (06.10.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/beschluss_gruene_terror-usa02.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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