Rede der Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Claudia
Roth auf dem Außerordentlichen Länderrat in Berlin
Vom 6. Oktober 2001
Liebe Freundinnen und Freunde,
Gerade jetzt: Grün! Gerade jetzt braucht es eine Partei deren Wurzeln in der
Friedensbewegung liegen, gerade jetzt braucht es eine Partei die sich den Werten der
Gewaltfreiheit und der Menschenrechte auch nach dem Kosovo verpflichtet fühlt. Gerade
jetzt braucht es eine Partei der Bürgerrechte, die ihre Stimme laut erhebt als Hüterin
des Rechtsstaats, eine Partei, die die Ängste der Menschen ernst nimmt und sie nicht
schürt. Nach der Wahl in Hamburg dürfen wir unsere Niederlage nicht schönreden, sondern
müssen uns gemeinsam fragen, warum rot-grün durch Verluste der Grünen abgewählt wurde
und müssen daraus Konsequenzen ziehen. Ich plädiere dafür, deutlicher zu machen was das
grüne bei rot-grün ist, wo wir wichtiger Motor und wo wir notwendiges Korrektiv sind,
plädiere dafür uns klar grün zu positionieren. Es wird jetzt in Berlin darauf ankommen
unsere StammwählerInnen zu mobilisieren und sie nicht ins Nichts aufzugeben und die
WechselwählerInnen für uns zu gewinnen und sie nicht an die SPD zu verlieren. Dafür
braucht es grünes Profil und eine Politik, die deutlich macht, wo sie sich unterscheidet
von einem großkoalitionären Kurs. Wir wollen die Koalition mit der SPD, weil wir unsere
Ziele in ihr umsetzen und der Politik eine grüne Richtung geben wollen und sonst aus
keinem Grund.
Liebe Freundinnen und Freunde, in den letzten Tagen und Wochen ist viel spekuliert worden
- viel zu viel. Es wurden auf hypothetische Fragen und virtuelle Szenarien hektisch
Antworten gegeben und voreilige Schlussfolgerungen gezogen. Zu all diesen Spekulationen
sage ich: Die grüne Partei braucht es heute mehr denn je.
Die grüne Partei ist stark, wenn sie und weil sie zusammen - ich betone zusammen - um den
richtigen Weg zum gemeinsamen Ziel streitet und um politische Antworten auf existentielle
Fragen ringt - gerade in schwierigen Zeiten. Das ist nicht Zerrissenheit, sondern
Verantwortung, wo andere Parteien sich wegducken. Das ist nicht Schwäche, sondern unsere
Kraft, deswegen sind wir grün und nicht grau.
Schluß mit diesem Gerede. Niemand geht und niemand geht mit, wenn niemand geht. Und: die
rot-grüne Regierung steht und sie arbeitet und zwar gut.
Liebe Freundinnen und Freunde,
am 11. September ist etwas passiert, das wir uns alle nicht vorstellen konnten. Ich kann
an diese Bilder nicht denken ohne ein tiefes Gefühl von Trauer, Ohnmacht und dem
Empfinden einer neuen Dimension von Terror und Gewalt. Ich möchte heute unser Mitgefühl
mit den Opfern und den Angehörigen ausdrücken. Aber in diese Trauer mischten sich auch
Bilder und Ängste. Ängste vor einem Krieg, vor einer Militarisierung der Sprache und des
Denkens, Bilder von Vietnam, von Bagdad, von der bombardierten Arzneimittelfabrikfabrik im
Sudan, Angst vor einem militärischen Gegenschlag der Amerikaner und seinen Folgen.
Diese Ängste und Sorgen nehme ich ernst, sie sind nicht Ausdruck von Drückebergerei oder
Feigheit und sie sind nicht unsolidarisch. Aber ich will hier eindeutig feststellen, dass
alle bisherigen Reaktionen und Handlungen der USA Besonnenheit zeigten. Das ist das was
wir erwarten - zu reagieren auf der Basis des Völkerrechts zielgenau und
verhältnismäßig in den Mitteln, zu agieren im Einklang mit den Vereinten Nationen und
in breiten politischen Bündnissen. Denn wir wollen keinen Krieg. Und Vergeltung und Rache
sind weder legitim, noch hilfreich, noch durch das Völkerrecht gedeckt.
Was ist also die Frage, mit der wir uns befassen müssen? Heute geht es darum, mit welchen
Mitteln kann terroristische Gewalt bekämpft werden? Wie kann sie verhindert werden, wie
kann man dem Terrorismus den Nährboden entziehen, wie kann man höchstmögliche
Sicherheit in einer wehrhaften Demokratie erreichen? Noch einmal: es geht nicht um einen
Krieg gegen ein Land, um einen Krieg gegen eine Religion, sondern es geht um den Kampf
gegen terroristische Gewalt und dabei schließe ich auch repressive polizeiliche und
militärische Mittel nicht aus.
Der Angriff vom 11. September war nicht irgendein Verbrechen, es war nicht irgendeine
Gewalttat. Dieser Terrorangriff war ein Angriff auf die offene demokratische Gesellschaft,
auf unsere Werte. Sich gegen solche Angriffe, zu verteidigen, ist nicht nur legitim,
sondern auch notwendig. Solidarität, echte Solidarität, heißt aber eben nicht
bedingungsloses Ja- und Amensagen. Wir bekunden Solidarität . Wir beziehen uns auf die
eindeutigen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates und auf das Selbstverteidigungsrecht der
USA im Rahmen der Normen des Völkerrechtes. Wir widersprechen nicht dem Bündnisfall.
Aber, wir sagen auch, dass es keinen Automatismus gibt, sondern es in eigener
Verantwortung zu entscheiden ist, mit welchen Mitteln dieser Beistand geleistet wird, mit
ökonomischen, politischen und möglicherweise auch militärischen Mitteln. Und, wenn es
um eine Beteiligung der Bundeswehr gehen würde, dann muss das Parlament darüber
entscheiden. Dann tritt der Parlamentsvorbehalt in Kraft. Das ist verfassungsmäßiges
Gebot.
Liebe Freundinnen und Freunde,
es ist zentrale Aufgabe grüner Politik die Reduzierung der Debatte auf die militärische
Logik zu durchbrechen. Es ist grüne Politik mit allem Nachdruck darauf zu bestehen, dass
jedes mögliche Vorgehen eingebunden sein muß in ein politisches Konzept, das über den
Tag hinaus geht. Mit unserem Einsatz für die Förderung der Menschenrechte, von
Demokratie, Toleranz und internationaler Gerechtigkeit tragen wir dazu bei, dem
Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Es geht darum, das internationale Recht
systematisch weiter zu stärken, deswegen fordern wie alle Staaten - auch die USA auf, dem
internationalen Strafgerichtshof beizutreten. Grüne Politik heißt konstruktive
Vorschläge zu machen, wie die Neuausrichtung der Sicherheitspolitik aussehen kann, jetzt
Konzepte vorzulegen für Krisenprävention, für Konfliktdeeskalation, für die faire
Lösung regionaler Konflikte und dafür, wie auch für auswärtige Kulturpolitik im Sinne
des Dialogs der Kulturen, für Entwicklungszusammenarbeit und Welthungerhilfe mehr
finanziellen Mittel sinnvoll eingesetzt werden kann.
Bundespräsident Rau hat begründet, warum die Herstellung globaler Gerechtigkeit
verwirklicht werden muß, denn die Frucht der Gerechtigkeit ist der Frieden. Grüne
Politik bekämpft immer die Ursachen, anstatt an Symptomen herumzudoktern. Deswegen
brauchen wir die Überwindung ungerechter weltwirtschaftlicher Verhältnisse durch eine
ökologisch-soziale Strukturpolitik. Wir brauchen eine gerechte Handelspolitik im Rahmen
der WTO, brauchen einen umfangreichen Schuldenerlaß, über die beim Kölner Gipfel
initiierten Maßnahmen hinaus. Wir brauchen ein internationales Insolvenzrecht, das
Austrocknen von Steueroasen und die Konfiszierung kriminell erwirtschafteter oder
kriminellen Zwecken dienender Vermögen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
für mich entsteht ein Sicherheitsgefühl in diesen Tagen auch dadurch, dass Grüne in
Regierungsverantwortung sind, daß Joschka Fischer nach Washington, New York, Brüssel,
Damaskus, nach Israel und zu den Palästinensern fährt. Und er hat erreicht, dass Arafat
Teil des Antiterrorbündnisses ist. Daß er dorthin fährt und nicht ein Stoiber, eine
Merkel oder gar ein Möllemann, der nichts besseres zu tun hat, als Joschka eine falsche
Nahostpolitik vorzuwerfen.
Mehr Sicherheit übrigens auch, weil ich weiß, dass für Jürgen AKW's kein Restrisiko
sind, sondern eine nicht beherrschbare Gefährdung, die es so schnell wie möglich
abzuschalten gilt.
Es ist grüne Politik internationale Maßnahmen für die Menschen in und die Zukunft
Afghanistans voranzutreiben. Deutschland hat den Vorsitz der Afghanistan Support Group.
Dort wird an politischen Perspektiven gearbeitet, an Vorschlägen für den Wiederaufbau
und eine entsprechende Entwicklungshilfe, und es werden vor allem Maßnahmen für die
hungernde Zivilbevölkerung ergriffen und für die Flüchtlinge, die Schutz in den
Anrainerstaaten suchen und dringend Überlebenshilfe benötigen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Ich war letztes Jahr zehn Tage in Afghanistan. Was ich erlebt habe, war der Versuch des
Überlebens in einer Hölle. Hölle - das ist ein Leben in völliger Entrechtung. Ich habe
gesehen und gespürt, was es bedeutet, wenn die Würde der Frauen antastbar ist, wenn es
kein Recht auf Arbeit, kein Recht auf Erziehung, kein Recht auf Gesundheit, kein Recht auf
Zukunft gibt für Menschen, weil sie Frauen sind und Mädchen. Ich kann mich erinnern
gerade in diesen Tagen, dass Frauen uns angefleht haben: Gebt uns wenigstens unsere Stimme
wieder, denkt an uns, dass wir überhaupt so etwas wie Zukunft wieder denken können.
Bilder von einem Volk, das seit Jahrzehnten unter einem Krieg Hunger und Krankheit leidet.
Diese Menschen sind Opfer. Sie sind nicht Täter und die Taliban sind alles andere als
eine Freiheitsbewegung, sondern sie sind terroristische Unterdrücker, nicht zuletzt lange
vom Westen unterstützt, die den islamischen Glauben dafür missbrauchen, ihre
verbrecherische Ideologie zu legitimieren. Wann, wenn nicht jetzt, muss deutsche
Innenpolitik Zeichen setzen. Es wäre ein wichtiges Zeichen im Sinne der Menschenwürde
endlich den Flüchtlingen aus Afghanistan vollen Schutz und volle Anerkennung zu gewähren
und die eklatante Schutzlücke, die nicht nur wir schon lange beklagen zu schließen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wer die Freiheit verteidigen will, darf nicht das Recht auf Freiheit aufgeben. Das gilt
für die äußere wie für die innere Sicherheit. Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu
gewinnen, wird beides verlieren. Das hat Benjamin Franklin gesagt. Sicherheit erhöhen und
Bürgerrechte, bewahren und stärken, das ist in dieser Zeit unsere Aufgabe. Wir sind die
Stimme für Bürgerrechte, für Rechtsstaatlichkeit in Zeiten der Angst und der Bedrohung
und deswegen fühle ich mich auch sicherer, weil Grüne wie Christian Ströbele, Cem
Özdemir oder Volker Beck im Parlament streiten, weil eine Grüne Partei in
Regierungsverantwortung ist und weil Marieluise Beck die Integrationsbeauftragte ist.
Dieses Land, diese Demokratie, diese Regierung braucht genau diese Stimme, die ja sagt zu
mehr Sicherheit und dafür eigene Vorschläge macht, die sich aber erhebt gegen die kalten
Krieger der Innenpolitik, gegen propagandistisches Trommeln und den Missbrauch von
Ängsten und Sorgen von Menschen. Bürgerrechtspartei zu sein in diesen Tagen heißt, die
Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, aber auch auf Prinzipien zu bestehen und einen klaren
und besonnen Kopf zu behalten. Ich nehme ernst, wenn Menschen sich hier in ihrer
unmittelbaren Umgebung bedroht fühlen. Es ist richtig, dass wir in den letzten Wochen in
der Koalition Maßnahmen für mehr Sicherheit ergriffen haben und weitere ergreifen
werden. Wir stellen alles auf den Prüfstand und messen vorgeschlagene Maßnahmen an
Kriterien, ob sie erforderlich, zielgerichtet, effektiv, praktikabel und europakompatibel
sind. Jede Begrenzung der Freiheit muß sorgsam mit der tatsächlichen Gefahrenlage und
dem möglichen Gewinn an Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger abgewogen werden.
Ja wir sind für die höchstmögliche Flugsicherheit, sind dafür ein Vereinsrecht zu
verschärfen, dass es nicht mehr möglich ist, unter einem Religionsprivileg
extremistische Organisationen zu bilden. Wir treten ein für scharfe Mittel gegen die
Geldwäsche und für die Lockerung des Bankgeheimnisses. Wir wollen eine viel bessere
personelle und technische Ausstattung der Polizei, denn die Polizei und nur die Polizei
ist für die öffentliche Sicherheit verantwortlich. Eine Grundgesetzänderung zur
Aufhebung der Trennung von Polizei und Bundeswehr - also um den Einsatz der Bundeswehr im
Innern zu ermöglichen lehnen wir ab. Soll Bundeswehr Objektschutz leisten, die ihre
eigenen Kasernen von privaten Sicherheitsdiensten überwachen lässt, sollen
Wehrpflichtige eingesetzt werden, wie leider in Genua beim G8 Gipfel passiert und entsorgt
Frau Merkel mit diesem Vorschlag nicht auch einen Teil historischer Verantwortung? Ja, wir
schlagen die Einberufung einer Strukturkommission zur Reform der Geheimdienste vor - deren
Aufgabe es auch sein muß Vorschläge zur Kontrolle der Dienste vorzulegen. Ja, wir treten
ein für die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit und ihrer justitiellen und
demokratischen Kontrolle z.B. im Rahmen von Europol. Ja, wir machen Vorschläge zur
Sicherheit im Cyberspace.
Was ich nicht akzeptiere ist, dass unnütze, unwirksame Verschärfungen aus dem Arsenal
einer bleiernen Zeit vorgeschlagen werden, wie die Rückkehr zur alten Kronzeugenregelung:
Kontrolle bei der Ausstellung von Visa ja - aber bitte nicht für alle Regelanfragen beim
Verfassungsschutz oder gar den Fingerabdruck in jedem - auch dem deutschen Ausweis. Es ist
nicht ein mehr an Sicherheit ein ganzes Volk, ganze Gruppen von Menschen aufgrund ihrer
Herkunft oder Religion unter Generalverdacht zu stellen.
Was bitte soll heißen, dass Datenschutz Täterschutz ist? Datenschutz ist kein
Gnadenrecht sondern ein Bürgerrecht und hat auch etwas mit Sicherheit zu tun und hätte
denn eine Verfassungsschutzuntersuchung tatsächlich die Hamburger Studenten erfassen
können, die absolut treu nach Recht und Gesetz gelebt haben, die absolut erfolgreich in
der Universität waren? Sofern einzelne Regelungen einem mehr an Sicherheit entgegenstehen
sind wir zur Überprüfung bereit, der Nachweis dafür wäre allerdings zu erbringen.
Unsinn bleibt Unsinn auch in dieser Situation und auch wenn uns der Wind kalt ins Gesicht
bläst müssen wir es laut sagen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
zum Schluß möchte ich noch auf eines eingehen, was wir nicht akzeptieren werden,
verlaßt Euch darauf. Wir akzeptieren nicht, dass im Windschatten dieses entsetzlichen
Terroranschlages in den Vereinigten Staaten jetzt wie von Teilen der Union versucht wird,
ein verschärftes Zuwanderungsrecht durchzupeitschen sozusagen als besonders hartes Mittel
im Kampf der inneren Sicherheit. Wir wollen, dass Einwanderung in diesem Land geregelt
wird. Wir wollen, dass dieses Land auch dadurch reich bleibt und sicher bleibt, dass es
seinen humanitären Verpflichtungen nachkommt, dass es das Völkerrecht achtet und dass es
alles für Integration tut. Unsere Kritik am Gesetzentwurf bleibt richtig, auch nach dem,
was am 11. September passiert ist und wir halten diese Kritik aufrecht, darauf könnt Ihr
Euch verlassen, das garantiere ich Euch ganz persönlich.
Integration, das ist im besten Sinne Sicherheitspolitik. Innere Sicherheit für die bei
uns lebenden Moslems. Deswegen hört nicht auf mit zahlreichen Initiativen für einen
interkulturellen für einen interreligiösen Dialog. Das ist im allerbesten Sinne grüne
Politik. |