Beschluss des Länderrats von Bündnis 90/Die Grünen
"Sicherheit herstellen - Bürgerrechte sichern" *
Vom 16. September 2001
Angriff auf die Grundwerte unserer Gesellschaft
Die Terroranschläge in den USA stellen einen Anschlag auf unsere freiheitliche und
weltoffene Gesellschaft dar. Die Verantwortlichen für den Terrorismus sind gefährliche
Fanatiker, die das friedliche Zusammenleben der Völker und deren Freiheit zerstören
wollen. Sie stellen unsere Gesellschaften vor eine Reihe neuer Probleme. Der Terrorangriff
löst bei vielen Menschen Ängste vor einem möglichen Terrorangriff auch in Deutschland
aus. Diese Ängste nehmen Bündnis 90/Die Grünen auf und schlagen Lösungen vor, wie
dauerhaft die Sicherheit erhöht werden kann. Deshalb überprüfen Bündnis 90/Die Grünen
alle Vorschläge auf ihren realen Nutzen. Wir schlagen auch eigene Konzepte vor. Dabei ist
unsere Konzeption des erweiterten Sicherheitsbegriffs gerade jetzt aktuell. Unter
erweiterter Sicherheit verstehen wir die Einbeziehung aller ökonomischer, politischer und
sozialer Maßnahmen, die die Sicherheit erhöhen. Der Schutz vor dieser Bedrohung ist ein
gemeinsames Anliegen aller, die sich für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie
einsetzen, unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft.
Allerdings gibt es auf diese Herausforderung keine einfache Antworten. Offene
Gesellschaften sind immer auch verwundbare Gesellschaften. Es gibt keine absolute
Sicherheit. Wer diese verspricht, macht sich mitschuldig an der Verunsicherung der
Menschen und betreibt das Geschäft derer, die mit ihren Anschlägen den Menschen Angst
vor der Freiheit machen wollen. Bündnis 90/Die Grünen werden nicht akzeptieren, das die
Freiheit als zentraler Wert unsere Gesellschaft hintan gestellt wird. Wir wählen deshalb
einen anderen Weg. Wir wollen mehr Sicherheit schaffen, ohne unsere freiheitlichen
Grundsäulen zu gefährden. Sicherheit herstellen und Freiheit sichern, hierin sehen wir
unsere Aufgabe in der derzeitigen Situation, als Partei der Bürgerrechte und des
liberalen Rechsstaats.
Wir messen unsere und alle anderen Vorschläge daran, ob sie erforderlich, zielgerichtet,
EU kompatibel, effektiv und zugleich praktikabel sind, um zur wirksamen
Terrorismusbekämpfung beizutragen. Jede Begrenzung der Freiheit muß sorgsam mit der
tatsächlichen Gefahrenlage und dem möglichen Gewinn an Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger abgewogen werden. Auch innenpolitisch ist besonnenes Handeln und die strenge
Beachtung des rechtsstaatlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Mittel notwendig.
In der angespannten internationalen Lage hat die Bundesregierung zum Schutz der
Bürgerinnen und Bürger Maßnahmen ergriffen und wird auch weiterhin auf dem Gebiet der
öffentlichen Sicherheit Maßnahmen ergreifen. Auch diese neuen Gesetze oder Verordnungen
müssen sich am Maßstab der Erforderlichkeit und der Effektivität messen lassen.
Die Anschläge in New York und Washington stehen für eine ganz neue Qualität von
Terrorismus. Diese neuen Herausforderungen können nicht mit alten Rezepten gemeistert
werden. Der internationale Terrorismus ist auch in Netzwerken neuen Typs organisiert.
Wichtig ist es, die Schnittstellen zu erfassen, dezentrale Kommandostrukturen aufzuspüren
und zu beseitigen.
Es wäre ein schwerer Irrtum zu glauben, alte Terrorismusdefinitionen der 70er Jahre
fortschreiben zu können. Die Anschläge in New York und Washington zwingen auch hier zum
Umdenken. Die Notwendigkeit zum Umdenken betrifft über die Verhinderung solcher
Anschläge hinaus auch die Suche nach Zusammenhängen und Ursachen. Wir dürfen dabei
nicht zulassen, dass Formen legitimen Widerstands gegen eine Diktatur unter
Terrorismusverdacht gestellt werden. Wir wollen auch nicht, daß bei uns unter dem Vorwand
der Terrorismusbekämpfung Freiheitsrechte beschränkt, oder
politische Meinungsäußerungen, Proteste und Demonstrationen behindert werden.
Für einen Dialog der Religionen und Kulturen
Wir wenden uns gegen Terror und Gewalt, nicht gegen eine Glaubensrichtung. Es ist ein
hoffnungsvolles Zeichen, dass in Kirchen, Synagogen und Moscheen in den vergangenen Tagen
die Opfer der Anschläge in New York und Washington im Mittelpunkt standen. Wir
begrüßen, dass führende Vertreter des Islam in Deutschland sich mit den Opfern
solidarisch gezeigt und für die Bekämpfung des Terrorismus ausgesprochen haben.
Gerade jetzt braucht es ein deutliches Zeichen gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Gewalt. Wir alle tragen Mitverantwortung dafür, dass es nicht zu rassistischen
Übergriffen gegen Muslime kommt. Wir müssen jedem Versuch entgegen treten, der den
Terrorakt in den USA als Kampf der Kulturen und Zivilisationen darstellen will. Wir
dürfen nicht zu lassen, dass Angehörige einer Religion oder einer Kultur als potentielle
Terroristen stigmatisiert werden. Dieses dient dem Radikalismus, schafft Feindbilder und
führt zur Fortsetzung der Gewalt.
Die mangelnde Integration hier dauerhaft lebender Migranten und Aussiedler erleichtert es
extremistischen und fundamentalistischen Vereinen und Organisationen, Mitglieder und
Anhänger gerade unter den enttäuschten und verunsicherten Jugendlichen zu werben.
Gemeinsam mit den Migrantinnen und Aussiedlern müssen im Bund, in den Ländern und
Kommunen auf der Basis der Grundwerte unserer Verfassung verbindliche Handlungskonzepte
zur Integration erarbeitet und umgesetzt werden.
Der Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen muss auf allen staatlichen Ebenen, im
Bund, in den Ländern und den Kommunen verstärkt werden. Die für diesen Dialog
erforderlichen demokratischen Strukturen müssen so schnell wie möglich geschaffen
werden. Mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland ist ein Konzept zur Wahl
legitimierter Vertreter - ähnlich der Kirchenvorstandswahlen anderer Religionen in
Deutschland - zu erarbeiten.
Mit den Vertretern der Muslime in Deutschland ist die Einführung eines deutschsprachigen
Islamunterrichts an den Schulen zu vereinbaren. Die hierfür notwendige Ausbildung
islamkundiger Religionslehrer ist durch die Einrichtung geeigneter Lehrstühle für
Islamkunde sicherzustellen. In der Übergangszeit wird der Unterricht von geeigneten
Lehrkräften sichergestellt.
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