Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer
Ausschreitungen.
Vom 28. März 1931.
Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird für das Reichsgebiet verordnet:
A b s c h n i t t I
§ 1
(1) Öffentliche politische Versammlungen
sowie alle Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel müssen spätestens
vierundzwanzig Stunden vorher unter Angabe des Ortes, der Zeit und des
Verhandlungsgegenstandes der Ortspolizeibehörde angemeldet werden. Sie können verboten
werden, wenn nach den Umständen zu besorgen ist, |
- daß zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder die innerhalb
ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen der verfassungsmäßigen Regierung oder der
Behörden aufgefordert oder angereizt wird oder
- daß Organe, Einrichtungen, Behörden oder leitende Beamte des Staats[1] beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden oder
- daß eine Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts ihre Einrichtungen, Gebräuche
oder Gegenstände ihrer religiösen Verehrung beschimpft oder
böswillig verächtlich gemacht werden oder
- daß in sonstiger Weise die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet wird.
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(2) Statt des Verbots kann eine Genehmigung
unter Auflagen erfolgen.
(3) Ausgenommen sind gewöhnliche Leichenbegängnisse, die hergebrachten Züge von
Hochzeitsgesellschaften, kirchliche Prozessionen, Bittgänge und Wallfahrten. |
§ 2
Mit Gefängnis nicht unter drei
Monaten, neben dem auf Geldstrafe erkannt werden kann, wird, soweit
nicht die Tat nach anderen Vorschriften mit einer höheren Strafe bedroht ist,
bestraft: |
- wer ohne die nach § 1 erforderliche Anmeldung oder in absichtlicher
Abweichung von den in der Anmeldung gemachten Angaben oder unter Zuwiderhandlung gegen ein
Verbot oder eine Auflage eine Versammlung oder einen Aufzug veranstaltet oder leitet oder
dabei als Redner auftritt;
- wer öffentlich zu einer Gewalttat gegen eine bestimmte Person oder allgemein zur
Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen auffordert oder anreizt.[2]
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§ 3
Wer an einer verbotenen Versammlung teilnimmt oder den Raum für
sie zur Verfügung stellt, wird mit Gefängnis oder mit Geldstrafe bestraft.[3]
§ 4
(1) Die Vorschriften des § 1 gelten
entsprechend für Personenfahrten auf Lastwagen, die von Mitgliedern politischer
Vereinigungen oder zu politischen Zwecken unternommen werden.
(2) Wer ohne die nach Abs. 1 erforderliche Anmeldung oder in absichtlicher
Abweichung von den in der Anmeldung gemachten Angaben oder unter Zuwiderhandlung gegen ein
Verbot oder eine Auflage eine Lastwagenfahrt veranstaltet, wird mit Gefängnis
nicht unter drei Monaten bestraft; daneben kann auf Geldstrafe erkannt werden.
(3) Wer an einer verbotenen Lastwagenfahrt teilnimmt oder den Wagen für
sie zur Verfügung stellt, wird mit Gefängnis oder mit Geldstrafe bestraft.
(4) Wird zu einer nicht angemeldeten oder verbotenen Fahrt ein Lastwagen
benutzt, so kann seine polizeiliche Zulassung bis zur Dauer eines Jahres entzogen werden.
§ 5
Wer eine Schußwaffe unbefugt führt und eine Gewalttätigkeit mit
ihr gegen einen anderen begeht oder ihm androht, wird, soweit nicht die Tat nach anderen
Vorschriften mit einer höheren Strafe bedroht ist, mit Gefängnis nicht unter sechs
Monaten bestraft; daneben kann auf Geldstrafe erkannt werden.
§ 6
Versammlungen und Aufzüge der im § 1
bezeichneten Art können aufgelöst werden, |
- wenn sie entgegen der Vorschrift des § 1 nicht angemeldet oder wenn
sie verboten sind,
- wenn von den Angaben der Anmeldung absichtlich abgewichen oder wenn einer Auflage
zuwidergehandelt wird,
- wenn in ihnen eine der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, § 2
Nr. 2, § 5 bezeichneten Handlungen begangen wird oder dem § 13 Abs. 2
Satz 1 des Reichsvereinsgesetzes zuwidergehandelt wird,
- wenn in ihrem Verlaufe die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet wird.
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§ 7
Vereinigungen, deren Mitglieder wiederholt gegen die §§ 2 bis 5 dieser Verordnung, gegen § 107a des
Strafgesetzbuchs oder gegen § 3 des Gesetzes gegen Waffenmißbrauch vom 28. März 1931
(Reichsgesetzbl. I S. 77) verstoßen haben und in denen solche Handlungen gebilligt oder
geduldet werden, können aufgelöst werden. Wer sich an einer hiernach aufgelösten
Vereinigung als Mitglied beteiligt oder sie auf andere Weise unterstützt oder den durch
die Vereinigung geschaffenen organisatorischen Zusammenhalt weiter aufrechterhält, wird
mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft, soweit nicht die Tat nach anderen
Vorschriften mit einer höheren Strafe bedroht ist.
§ 8
Für politische Vereinigungen kann das Tragen einheitlicher
Kleidung oder Abzeichen verboten werden. Das Verbot kann sich auf das Tragen bei
bestimmten Gelegenheiten beschränken. Wer eine verbotene Kleidung oder ein verbotenes
Abzeichen trägt, wird mit Gefängnis nicht unter einem Monat, wenn mildernde Umstände
vorhanden sind, mit Geldstrafe bestraft, soweit nicht die Tat nach anderen Vorschriften
mit einer höheren Strafe bedroht ist.
§ 9
Ist eine Versammlung verboten oder für aufgelöst erklärt oder
ist gemäß § 4 Abs. 1 eine Personenfahrt auf Lastwagen verboten worden,
so hat die Polizeibehörde dem Leiter oder Veranstalter der Versammlung oder der Fahrt die
mit Tatsachen zu belegenden Gründe der Anordnung schriftlich mitzuteilen, falls er dies
binnen drei Tagen beantragt.
A b s c h n i t t II
§ 10
(1) Plakate und Flugblätter, deren Inhalt geeignet ist, die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu gefährden, können polizeilich beschlagnahmt und
eingezogen werden.[4]
(2) Plakate und Flugblätter politischen Inhalts sind mindestens vierundzwanzig
Stunden, ehe sie an oder auf öffentlichen Wegen, Straßen
oder Plätzen angeschlagen, ausgestellt, verbreitet oder sonst der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden, der zuständigen Polizeibehörde zur Kenntnisnahme
vorzulegen. Plakate und Flugblätter, die entgegen dieser Vorschrift der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, können polizeilich beschlagnahmt und
eingezogen werden.[5]
(3) Die öffentliche Ankündigung politischer Versammlungen darf nur die zur
Bekanntgabe der Versammlung erforderlichen sachlichen Angaben über Ort und Zeit der
Versammlung, Veranstalter, Teilnehmer, Redner, Vortragsgegenstand, Aussprache und
Eintrittsgeld enthalten. Plakate und Flugblätter, in denen unter Verletzung dieser
Vorschrift politische Versammlungen öffentlich angekündigt werden, können polizeilich
beschlagnahmt und eingezogen werden.
§ 11
(1) Wer Plakate und Flugblätter politischen Inhalts an oder auf
öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen anschlägt, ausstellt, verbreitet oder sonst
der Öffentlichkeit zugänglich macht, die nicht mindestens vierundzwanzig Stunden vorher
der zuständigen Behörde zur Kenntnisnahme vorgelegt worden sind, wird mit Gefängnis bis
zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.[6]
(2) Ebenso wird bestraft, wer der Vorschrift des § 10 Abs. 3
zuwider politische Versammlungen öffentlich ankündigt.
§ 12
(1) Druckschriften, in denen eine Kundgebung der im § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 bezeichneten Art enthalten ist, können polizeilich
beschlagnahmt und eingezogen werden.
(2) Handelt es sich um periodische Druckschriften, so können sie, wenn es
Tageszeitungen sind, bis auf die Dauer von acht Wochen, in anderen Fällen bis auf die
Dauer von sechs Monaten verboten werden. Für die gleiche Dauer können periodische
Druckschriften verboten werden, als deren verantwortlicher Schriftleiter dem Verbote des
Reichsgesetzes vom 4. März 1931 (Reichsgesetzbl. I S. 29) zuwider jemand bestellt oder
benannt ist, der nicht oder nur mit besonderer Zustimmung oder Genehmigung strafrechtlich
verfolgt werden kann.
(3) Das auf Grund dieser Vorschrift oder auf Grund des § 13 des Gesetzes zum Schutze der Republik vom 25. März
1930 (Reichsgesetzbl. I S. 91) erlassene Verbot umfaßt auch die in demselben Verlag
erscheinenden Kopfblätter der Zeitung sowie jede angeblich neue Druckschrift, die sich
sachlich als die alte darstellt oder als ihr Ersatz anzusehen ist.
A b s c h n i t t III
§ 13
(1) Zuständig für die in den §§ 1, 6, 10, 12 Abs. 1 dieser Verordnung
zugelassenen polizeilichen Maßnahmen sind, soweit die obersten Landesbehörden nichts
anderes bestimmen, die Ortspolizeibehörden. Zuständig für die in den §§ 7,
8, 12 Abs. 2 dieser Verordnung zugelassenen Maßnahmen
sind die obersten Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen. Gegen die
getroffene Maßnahme ist in den Fällen der §§ 1, 6, 10, 12 Abs. 1 die Anfechtung nach den Bestimmungen des
Landesrechts, in allen übrigen Fällen die Beschwerde an einen vom Präsidium zu
bestimmenden Senat des Reichsgerichts gegeben. Die Einlegung der Rechtsmittel hat keine
aufschiebende Wirkung.[7]
(2) Die Beschwerde ist in den Fällen der §§ 7, 8,
12 Abs. 2 bei der Stelle einzureichen, gegen deren Anordnung sie
gerichtet ist. Diese hat sie unverzüglich der obersten Landesbehörde vorzulegen. Hilft
diese der Beschwerde nicht ab, so hat sie sie unverzüglich an den Reichsminister des
Innern weiterzuleiten. Der Reichsminister des Innern kann der Beschwerde abhelfen,
andernfalls hat er sie unverzüglich dem Senat des Reichsgerichts zur Entscheidung
vorzulegen. Gegen eine Entscheidung des Reichsministers des Innern, die der Beschwerde
abhilft, kann die oberste Landesbehörde die Entscheidung des Senats des Reichsgerichts
anrufen.
(3) Der Reichsminister des Innern kann die oberste Landesbehörde um eine der in
den §§ 7, 8, 12 Abs. 2 bezeichneten
Maßnahmen ersuchen. Glaubt die oberste Landesbehörde einem solchen Ersuchen nicht
entsprechen zu können, so teilt sie dies unverzüglich auf telegraphischem oder
telephonischem Wege, spätestens aber am zweiten Tage nach Empfang des Ersuchens, dem
Reichsminister des Innern mit und ruft gleichzeitig auf demselben Wege die Entscheidung
des Senats des Reichsgerichts an. Entscheidet dieser für die Zulässigkeit der Maßnahme,
so hat die oberste Landesbehörde dem Ersuchen sofort zu entsprechen. Einer Beschwerde
gegen eine auf Ersuchen des Reichsministers des Innern angeordnete Maßnahme kann die
oberste Landesbehörde nicht abhelfen.
§ 14
(1) Zur Aburteilung der in dieser Verordnung mit Strafe bedrohten
Handlungen ist das Verfahren nach § 212 der Strafprozeßordnung auch dann zulässig, wenn
der Beschuldigte sich weder freiwillig stellt noch infolge einer vorläufigen Festnahme
dem Gericht vorgeführt wird.
(2) Dasselbe gilt für alle übrigen zur Zuständigkeit der Amtsgerichte
gehörenden strafbaren Handlungen, die an öffentlichen Orten, in Versammlungen oder durch
Verbreitung oder Anschlag von Schriften, Abbildungen oder Darstellungen begangen worden
sind.
(3) Solange in einem Verfahren, das wegen der in den Abs. 1, 2 bezeichneten
strafbaren Handlungen nach § 212 der Strafprozeßordnung eingeleitet ist, ein Urteil
noch nicht erlassen ist, kann das Gericht die Sache als zur Verhandlung in
diesem Verfahren ungeeignet an die Staatsanwaltschaft zurückverweisen; geschieht
das, so gilt die öffentliche Klage als nicht erhoben. Der Beschluß ist
nicht anfechtbar.
§ 15
(1) Die zur Durchführung dieser Verordnung erforderlichen
Maßnahmen trifft der Reichsminister des Innern, und zwar, soweit es sich um Vorschriften
über das Verfahren vor dem Senat des Reichsgerichts handelt, im Einvernehmen mit dem
Reichsminister der Justiz. Er kann, soweit er es für erforderlich hält, Richtlinien für
die Handhabung der Verordnung erlassen.
(2) Der Kreis der leitenden Beamten im Sinne dieser Verordnung (§ 1
Abs. 1 Nr. 2) wird, soweit es sich um Reichsbeamte handelt, von dem Reichsminister des
Innern,[8] soweit es sich um Landesbeamte handelt,
von den Landesregierungen bestimmt.
(3) Der Reichsminister des Innern kann die Vorschrift des § 1
Abs. 1 Nr. 3, soweit ein Bedürfnis besteht, auch auf andere Religionsgemeinschaften und
auf Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe
machen, für entsprechend anwendbar erklären.
§ 16
Die im Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung genannten Grundrechte werden für die
Geltungsdauer dieser Verordnung in dem zu ihrer Durchführung erforderlichen Umfang außer
Kraft gesetzt.
§ 17
Diese Verordnung tritt mit Ausnahme der §§ 1, 10
Abs. 2 und 3 mit ihrer Verkündung in Kraft. Die Vorschriften der §§ 1,
10 Abs. 2, 3 treten mit Beginn des dritten Tages nach der Verkündung in
Kraft.[9]
Berlin, den 28. März 1931.
Der Reichspräsident
von Hindenburg
Der Reichskanzler
Dr. Brüning
Der Reichsminister des Innern
Dr. Wirth
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