Positionspapier der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen
Annelie Buntenbach, Steffi Lemke, Christian Simmert, Monika Knoche, Irmingard
Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, Sylvia Voß und Winfried Hermann zum Antrag der
Bundesregierung zur Bereitstellung deutscher bewaffneter Streitkräfte
["Berliner Aufruf"]
vom 11. November 2001
Der Krieg in Afghanistan dient nach unserer Ansicht nicht der
zielgerichteten Bekämpfung terroristischer Strukturen und trifft in besonderem Maße die
Zivilbevölkerung. Eine direkte oder indirekte Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg in
Afghanistan lehnen wir aus folgenden Gründen ab:
- Der Krieg in Afghanistan kann das Problem des internationalen Terrorismus nicht lösen;
- er ist unverhältnismäßig, da er über die richtige Verfolgung einer gefährlichen
Verbrecherbande weit hinausgeht und ein ganzes Land zum Ziel eines Krieges macht;
- der Krieg verwüstet ein ohnehin nach zwanzig Kriegsjahren weitgehend zerstörtes Land
weiter und verschärft so die verzweifelte humanitäre Lage an den Rand einer Katastrophe;
- das Kriegsziel sowie die militärische und politische Strategie zu seiner Erreichung
sind unklar;
- der Krieg soll auch dem Sturz der Taliban dienen - ohne daß es allerdings eine
realistische politische Konzeption für eine post-Taliban Lösung gäbe;
- er verschärft die Gefahr einer regionalen Eskalation, eröffnet zum Beispiel das
Risiko, das fragile Pakistan in den Staatszerfall und Bürgerkrieg zu treiben;
- ein längeres Andauern des Krieges droht dem Kalkül der Terroristen in die Hände zu
spielen, indem er einen Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt in Kauf
nimmt und die säkularen Eliten der islamischen Welt in Gefahr bringt;
- er verschärft die Gefahr, durch die Schaffung von Märtyrern und zivilen Opfern die
Terroristen politisch zu stärken und ihnen mittelfristig mehr Unterstützung zuzuführen.
Zusammengenommen: Der Krieg gegen Afghanistan ist politisch falsch, dient
nicht der zielgerichteten Bekämpfung des Terrorismus, ist humanitär verantwortungslos
und schafft neue politische Probleme. Es handelt sich um ein Abenteuer, an dem sich
niemand, auch nicht die Bundesrepublik, beteiligen sollte. Eine Unterstützung dieses
Krieges durch deutsche Soldaten ist deshalb nicht zu verantworten und muß unterbleiben.
Darüber hinaus sprechen grundsätzliche Erwägungen gegen die Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung zur
Bereitstellung von Bundeswehreinheiten:
- Der zur Abstimmung stehende Antrag entmündigt das Parlament. Der Bundestag soll die
Bundesregierung zu militärischen Einsätzen ermächtigen, deren Charakter und Einsatzorte
er nicht kennt. Weder Ziel noch Ort und Zeitpunkt des Einsatzes oder die Aufgaben der 3900
Soldaten sind klar. Die Gewährung einer Ermächtigung zu einem allgemein zweifelhaften
und im Detail unbekannten Militäreinsatz würde der Verantwortung des Parlaments nicht
gerecht.
- Eine Kriegsbeteiligung der Bundeswehr treibt die "Enttabuisierung" des
Militärischen als Mittel der deutschen Außenpolitik einen entscheidenden Schritt weiter.
Diese Tendenz halten wir für falsch.
Solidarität mit den Opfern des 11. September und ihren Angehörigen ist
uns eine menschliche und politische Verpflichtung. Sie bedeutet aber nicht, einem Freund
und Verbündeten mit verbundenen Augen in eine Sackgasse zu folgen. Solidarität heißt
vielmehr, eigene Vorschläge vorzulegen, die beide vor der Sackgasse bewahrt und
tatsächliche Beiträge zur Schwächung und Bekämpfung des Terrorismus leistet.
Terrorbekämpfung und Krieg
Ausbildung und Planung von Terroranschlägen hier bei uns zu verhindern
und die direkt Beteiligten vor Gericht zu bringen.
Eine Festnahme der als Hintermänner Verdächtigen in Afghanistan und anderen Ländern
muß zuerst einmal durch Auslieferung bewirkt werden, wie in anderen Fällen zuvor. Dieser
Weg ist nicht ausreichend verfolgt worden. Oder sie kann - wenn nicht anders zu
bewerkstelligen - durch gewaltsame, polizeiliche bzw. militärische Mittel erfolgen. Das Ziel muß aber in der gerichtlichen Aburteilung der Täter bestehen, auch
wenn dieses Ziel schwierig zu erreichen ist. Die Schwierigkeiten dieses Ziels können
nicht bedeuten, sich einfach andere, einfachere Ziele zu setzen oder Gewalt gegen Gruppen
oder Länder anzuwenden, die nur mittelbar mit den Verbrechen in Verbindung stehen.
Die terroristischen Verbrecher müssen isoliert werden, sie dürfen nicht die Chance
erhalten, in der Wahrnehmung der Menschen nicht nur in islamischen Ländern zu Helden oder
Märtyrern zu werden. Einen "Krieg" gegen die Täter, tatsächlich aber gegen
das Land, in dem sie Unterschlupf gefunden haben, zu führen wertet die Täter politisch
auf, macht sie in der Wahrnehmung vieler Menschen in der Region zum Gegenpol zu den USA
oder "dem Westen". Der Argumentation und Propaganda Usama ibn Ladins wird so in
die Hände gespielt. Wer Krieg gegen ein Land an die Stelle der Verbrechensbekämpfung
setzt, wird die Terrorismusbekämpfung politisch schwächen. Die Zerstörung eines
(teilweise längst verlassenen) Teils der Infrastruktur von Al Qaida kann diesen Mangel
nicht ausgleichen.
Afghanistan nach den Taliban
Die US- und die Bundesregierung argumentieren, daß der Krieg gegen
Afghanistan und der beabsichtigte Sturz der Taliban primär der Terrorbekämpfung dienten.
Es ist offensichtlich, daß die Taliban reaktionär und repressiv sind. Die Mißachtung
der Menschenrechte durch die Taliban existierte bereits vor dem 11. September und kann
deshalb nicht zur Begründung eines Krieges mit dem Ziel der Terrorismusbekämpfung
herangezogen werden. Die Taliban gewähren auch der Organisation Usama ibn Ladins
Unterstützung, aber nicht jede Unterstützung Usama ibn Ladins oder anderer Terroristen
kann zum Krieg gegen die Unterstützer führen. Schließlich haben die USA (und Pakistan)
in der Vergangenheit selbst die Taliban und sogar Usama bin Ladin unterstützt, als Ihnen
dies im Kampf gegen die Sowjetunion nützlich erschien. Es gilt, zwischen den Verbrechern
und jenen, die sich nicht von ihnen distanzieren, sie unterstützen oder sie gar benutzen,
zu trennen. Der Krieg tut gerade das Gegenteil, er schmiedet beide zusammen und treibt
ihnen Sympathisanten zu.
Der Sturz der Taliban ist im Interesse des afghanischen Volkes und der Menschenrechte
wünschenswert. Dieses Ziel kann aber nicht bedeuten, den Afghanen eine äußere Lösung
aufzuzwingen. Der gegenwärtige Krieg trägt nichts dazu bei, eine stabile, tolerante und
funktionierende Regierung in Afghanistan zu ermöglichen. Die Strategie, gemeinsam mit der
"Nordallianz" als Bodentruppe zur Ergänzung der Luftangriffe die Taliban zu
stürzen, eröffnet mehr Risiken als Chancen. Die "Nordallianz"; besteht aus
zerstrittenen Milizen, die selbst viele grausame Verbrechen, wie Mord und
Massenvergewaltigungen begangen haben. Ein Sieg der Nordallianz würde zum Kampf der
Sieger untereinander führen, und zum dauernden Widerstand der Mehrheit der afghanischen
Bevölkerung, der Paschtunen, gegen diese Allianz der ethnischen Minderheiten. Gegen oder
ohne die Paschtunen ist Afghanistan aber nicht zu regieren, von einer friedlichen
Entwicklung ganz zu schweigen. Andere Akteure, die eine Alternative zur
"Nordallianz" bilden könnten, sind nicht in Sicht. Damit fehlt der
Kriegsstrategie jenseits ihrer militärischen Überlegenheit die entscheidende
Voraussetzung zum Erfolg: eine soziale und politische Basis im Land.
Auch der greise Ex-König - ein ehrenwerter Mann - verfügt im Land lange über keine
Machtbasis mehr. Die Alternative, US- oder UN-Truppen das Land verwalten zu lassen
(ähnlich wie im Kosovo) besteht in Afghanistan nicht, da die Truppen mittelfristig
zwischen die Fronten geraten und von allen - vermutlich auch von der Nordallianz (die das
bereits angekündigt hat) - bekämpft würden.
Das bedeutet insgesamt, daß die Kriegsstrategie bezogen auf Afghanistan über keinerlei
politische Konzeption verfügt, der der Krieg dienen könnte. Soldaten in eine solche
Sackgasse zu schicken ist verantwortungslos. Man braucht kein Pazifist zu sein, um einen
Krieg ohne realistisches politisches Konzept für abenteuerlich zu halten. Kriegführung
und humanitäre Katastrophe Der Krieg und die Art der Kriegführung führen zu einer
verschärften humanitären Katastrophe. Flächenbombardierungen, der Einsatz von Streu-
und Splitterbomben (der praktisch eine weitere Verminung weiter Landstriche bedeutet,
obwohl die Ottawa-Konvention von 1997 Anti-Personen Minen verbietet), und der Tod einer
ungewissen Zahl von Zivilisten durch die Bombardierung von Wohnvierteln, Telefonzentralen,
Krankenhäusern und Lebensmitteldepots des Roten Kreuzes spitzen die Situation in
Afghanistan nach zwei Jahrzehnten Krieg in einem Maße zu, das für viele Menschen direkt
lebensbedrohlich wird. Heute sind bereits bis zu 5 Millionen Afghanen ins Ausland geflohen
(bereits vor dem Luftkrieg), eine große Zahl irrt als interne Flüchtlinge im Land herum
und leidet Hunger. Das Leben mehrer Millionen Menschen ist im Winter durch Hunger und
Kälte gefährdet. Der Krieg verschärft die Lage nicht nur, er erschwert auch die
Hilfeleistung und macht sie oft unmöglich. Trotz aller Rhetorik läßt er die Menschen
nicht nur allein, er wird das Massensterben wahrscheinlicher machen. Auch ein Kampf gegen
menschenverachtende terroristische Verbrecher darf nicht dazu führen, so etwas billigend
in Kauf zu nehmen.
Regionale Destabilisierung
Der Afghanistan-Krieg droht darüber hinaus, die Region zu
destabilisieren. Das Nachbarland Pakistan balanciert seit einigen Jahren am Rande des
Staatsbankrotts und des ethno-religiösen Zerfalls, bei Gefahr von Staatszerfall und
Bürgerkrieg. Politische Gewalt ist bereits heute in Pakistan zur Seuche geworden,
ethnische und religiöse Gruppen begehen oft Massaker aneinander, in Karachi tobte bereits
in den 90er Jahren eine Art Bürgerkrieg. Heute besteht die Gefahr, daß der Luftkrieg
gegen Afghanistan auch Pakistan in den Abgrund reißt, zu eng sind beide Länder
miteinander verknüpft. Präsident Musharraff handelt deshalb im Interesse seines eigenen
Landes, wenn er die schnellstmögliche Einstellung der Luftangriffe fordert. Der faktische
Beitritt der pakistanischen Regierung in den Krieg auf Seiten der USA destabilisiert seine
Regierung und kann mittelfristig den Zerfallsprozeß beschleunigen. Das wäre ein
politischer GAU: Pakistan hat 140 Millionen Einwohner und verfügt über Atomwaffen.
Konstruktive Ansätze und Alternativen
Der Krieg in Afghanistan ist ein Spiel mit dem Feuer, das neue Probleme
schafft. Wir brauchen stattdessen - jenseits der Notwendigkeit, die Terroristen zu
ergreifen - geduldige und wirksame Polizeiarbeit, die die internationalen Verflechtungen
des Al Qaida Netzwerks offenlegt und die Gruppen dingfest macht. Ein Schlüssel dieser
Aufgabe besteht in der Tat in der Verfolgung der finanziellen Transaktionen, ein Mittel,
das sich bereits bei der Bekämpfung des Drogenhandels international bewährt hat.
Jenseits dieser und anderer kurzfristiger Aufgaben gilt es aber vor allem, politische
Maßnahmen zu ergreifen, die eine Schwächung und Bekämpfung der Terrors erleichtern.
Hier wäre etwa an der massiven Stärkung eines internationalen Strafgerichtshofes zu
denken, der von allen akzeptiert und handlungsfähig gemacht werden sollte. Auch
internationale Maßnahmen gegen ABC-Waffen und deren Proliferation mit einer umfassenden
Kontrolle der fraglichen Substanzen in allen Ländern als erster Schritt sind das Gebot
der Stunde. Hier brauchen wir schnelle und wirksame Maßnahmen.
Schließlich geht es insbesondere um Anstrengungen, das Umfeld aller Formen politischer
Gewalt auszutrocknen. Terrorismus stellt ja nur die spektakulärste Ausdruckform
politischer Gewalt dar und kann nur im Zusammenhang mit dieser bekämpft werden. Auch wenn
viele Terroristen gerade nicht zu den ärmsten der Armen gehören, so instrumentalisieren
sie doch die Armut und Verzweiflung vieler Menschen in der Dritten Welt für ihre Zwecke.
Deshalb müssen die Bemühungen wesentlich intensiviert werden, einerseits die
Lebensbedingungen und Akzeptanz sowie die Bildungsmöglichkeiten und Entwicklungschancen
in vielen - hier auch islamischen - Teilen der Welt zu verbessern, und zugleich die vielen
schwelenden oder akuten Regionalkonflikte zu lösen. Wenn der Kaschmirkonflikt, der
Palästinakonflikt und andere, auch zukünftige Krisen- und Gewaltherde nicht endlich
befriedet werden, dann kann dies mit der Perspektivlosigkeit und Massenarmut in großen
Teilen der Dritten Welt eine gefährliche Verbindung eingehen. Gewalt- und
Terrorbekämpfung muß auch hier ansetzen. Schließlich kommt es darauf an, der Gefahr
eines globalen Konfliktes der Kulturen endlich einen ernsthaften Dialog der Kulturen
entgegenzusetzen. Davon ist viel und gern gesprochen worden, aber wenig substantielles
geschehen. Hier Konfliktprävention zu versuchen bedeutet, über Sonntagsreden
hinauszugehen und auf gleicher Augenhöhe über brennende Probleme zwischen den Ländern,
Gesellschaften und Staaten zu sprechen. Man sollte sich die deutsch-französische,
deutsch-israelische und deutsch-polnische Versöhnung zum Vorbild nehmen, um auch mit den
Ländern der muslimischen Welt einen umfassenden gesellschaftlichen Dialog zu führen.
Fazit
Wir lehnen die Entsendung von Bundeswehreinheiten ab. Sie trüge nicht
zur notwendigen schnellen Beendigung des Krieges gegen Afghanistan bei, sondern hilft
diesen Krieg fortzusetzen. Sie wäre nicht Teil einer berechtigten Politik zur
nötigenfalls auch militärischen Ergreifung der Terroristen, sondern Element einer viel
breiter angelegten Kriegsstrategie. Sie trüge zu einer gefährlichen Politik und ihren
katastrophalen humanitären Folgen bei. Und sie lenkt das Augenmerk weiter von den
wirklich nötigen politischen Maßnahmen ab. Einer solchen Politik können und wollen wir
nicht zustimmen.
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