Rede der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) zum Antrag der Bundesregierung auf Einsatz
bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf
terroristische Angriffe gegen die USA und zum Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68
des Grundgesetzes
vom 16. November 2001
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung [SPD]:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Diskussion möchte ich auf die
Menschen, die Flüchtlinge in Afghanistan zu sprechen kommen und sagen: Am
allerwichtigsten ist es, dafür zu sorgen - wir als Bundesregierung sorgen dafür -, dass
diese Flüchtlinge humanitäre Hilfe, dass die Menschen Nahrung, Lebensmittel und
Medikamente er halten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Ilja Seifert [PDS]: Dazu braucht man keine
Bundeswehr.)
Die Nichtregierungsorganisationen und das Welternährungsprogramm sind im Einsatz, um dazu
beizutragen, dass diese Arbeit geleistet wird. Das ist jetzt das Wichtigste.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Da die Diskussion manchmal verengt wird, will ich sagen: Alle Flüchtlinge, die dies
wollen, müssen die Chance erhalten, in ihr Land zurückzukehren. Vor dem 11. September
dieses Jahres waren 8 Millionen Afghanen auf der Flucht. Sie müssen die Chance erhalten
zurückzukehren. Sie waren auf der Flucht vor den Grausamkeiten der Taliban. Sie waren auf
der Flucht vor Dürre- und Hungerkatastrophen. Über zwei Jahrzehnte hat sich die
Weltgemeinschaft nicht wirklich um das Schicksal der Menschen in Afghanistan und der
Region gekümmert. Das darf niemals mehr passieren. Auch das muss in dieser Diskussion
heute gesagt werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)
Die Bundesregierung wird alles tun, um den Frauen, die durch die Taliban entrechtet
wurden, ihre Stimme und Teilhabe am politischen Leben in Afghanistan zurückzugeben. Das
ist auch eine Aufforderung an die Nordallianz und die künftige Regierung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie werden daran gemessen werden, wie sie mit den Frauen rechten, den Menschenrechten und
den Rechten von Minderheiten umgehen.
Unsere Entwicklungszusammenarbeit - das ist das, was wir jetzt leisten müssen -, für die
wir neben den Hilfen vonseiten der EU und der Weltbank mindestens 160 Millionen DM an
bilateralen Entwicklungshilfemitteln zur Verfügung stellen, wird mit anderen zusammen
sicherstellen, dass Mädchen endlich wie der in die Schule gehen können, dass Frauen
Zugang zur Arbeit und zur Gesundheitsversorgung haben. Das sind wir den vielen Millionen
Frauen gemeinsam schuldig, die über Jahre hinweg entrechtet worden sind. Dafür werden
wir sorgen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)
Der Wiederaufbau Afghanistans ist der Schlüssel zu Frieden und Stabilität im Land. Er
kann nicht erst dann erfolgen, wenn schon alle Entscheidungen bezüglich der
Regierungsbildung getroffen sind. Die Arbeit für den Wiederaufbau soll und muss die
Menschen einbinden, die bisher im Bürgerkrieg ihre Kräfte sinnlos gegeneinander
vergeudet haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht darum - auch in dieser Diskussion sollte das
thematisiert werden -, dass Menschen ihre Ernährung dauerhaft sichern können - das
wollen wir durch unsere Unterstützung erreichen -, dass Wohnungen gebaut werden, damit
die Menschen geschützt sind, und dass soziale Grunddienste, wie Schulen und
Gesundheitseinrichtungen, aufgebaut werden. Denjenigen, die meinen, dass das mit dem
aktuellen Konflikt nichts zu tun habe, sage ich: Über Jahrzehnte hinweg hatte die große
Mehrheit der Bevölkerung Afghanistans keinen Zugang zu sozialen Grunddiensten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir engagieren uns gemeinsam mit allen internationalen Gebern, zum Beispiel der UN und der
Weltbank, um diesen Wiederaufbau zu leisten.
Allen Beteiligten möchte ich sagen: Gerade in dieser Situation ist das Bündnis aus SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gefordert. Wir werden unsere Verantwortung entschlossen
wahrnehmen. Wir stimmen heute über ein politisches und humanitäres Gesamtkonzept, aber
auch über ein Gesamtkonzept zur Verwirklichung von Schritten, die zu einer gerechteren
Weltordnung führen sollen, ab.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Oh weia!)
Ich wende mich jetzt an diejenigen, die draußen demonstrieren. Ich habe vorhin mit ihnen
diskutiert.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ich würde gerne wissen, was da gesagt wurde!)
Ich teile die Auffassung dieser Demonstrierenden nicht. Ich verstehe aber, dass sie, wie
übrigens wir alle in diesem Haus und wie alle Menschen in unserem Land, eine tiefe
Sehnsucht nach Frieden haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich sage denjenigen, die gegen eine Beteiligung der Bundeswehr sind, weil es um die
Beteiligung an einem Krieg geht: Wir stehen in diesem Jahrhundert - ich teile die
Überzeugungen von Erhard Eppler vollkommen - kaum noch vor zwischenstaatlichen Kriegen.
Ein Vorgehen zur Zerschlagung terroristischer Netzwerke ist kein Angriffskrieg, sondern
der Versuch, diese Netzwerke zu zerschlagen und dazu beizutragen, dass solche
unvorstellbaren terroristischen Aktionen wie der Angriff auf das World Trade Center
niemals mehr passieren können, und zwar nirgends auf der Welt. Das wird doch die
Konsequenz sein.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das verpflichtet uns zu handeln. Wir erleben heute überall auf der Welt entstaatlichte,
privatisierte Gewalt, zum Beispiel in Afrika im Gebiet der großen Seen. Wir sahen sie auf
dem Balkan. Wir erleben sie in den Verbrechen der Terroristen. Die internationale
Gemeinschaft - das sage ich jetzt im weitesten Sinne auch an die demokratische Linke - hat
aber die Verpflichtung, dieser privatisierten Gewalt notfalls auch militärisch - quasi
polizeilich - entgegenzutreten. Die Friedensbewegung, der ich mich verbunden fühle, und
das Militär müssen lernen, in diesem Prozess umzudenken.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Seit 1990 haben derartige Gewaltkonflikte jährlich bis zu 1 Million Menschen das Leben
gekostet. Wir müssen alles tun, um eine demokratische Staatlichkeit - zumal in den
Entwicklungsländern - zu stärken. Es müssen Schritte hin zu einem internationalen
Gewaltmonopol, das nur Gleiche kennt, verwirklicht werden, damit der wachsenden Gewalt in
der Welt und damit der Bedrohung der Sicherheit von Menschen entgegengearbeitet werden
kann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vor allen Dingen müssen wir einen internationalen Gerichtshof schaffen, der der
Globalisierung von Rechtsstaatlichkeit dienen soll. Wir fordern die amerikanische
Regierung auf, dabei zu helfen, dass dieses Ziel gemeinsam mit uns und den 43 Staaten, die
bereits ratifiziert haben, verwirklicht wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Terrorismus braucht aber auch weiter gehende Antworten. Er
braucht die Antwort einer weltweiten Koalition für Gerechtigkeit und Solidarität. Die
Terroristen rechnen mit der Mobilisierbarkeit der Unterdrückten, der Armen und der sich
ohnmächtig Fühlenden. Ich erinnere daran: 1,2 Milliarden Menschen weltweit sind heute
absolut arm, das heißt, sie haben weniger als einen Dollar am Tag zum Leben.
Unsere Koalition aus Bündnis 90/Die Grünen und SPD und wir - die Kollegin Eid als
Parlamentarische Staatssekretärin und ich als Ministerin - haben Initiativen unternommen
und die Weichen zum Kampf gegen die globale Armut, den schlimmsten Gegner, gestellt.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben sich Geld wegnehmen lassen, das Sie gebraucht hätten!)
Ein Schuldenerlass im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar für die ärmsten
Entwicklungsländer ist ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Armut und dient dazu,
der Mobilisierbarkeit von Terrorismus den Nährboden zu entziehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich appelliere an alle, die der Meinung sind, sie könnten dem Antrag nicht zustimmen: Was steht denn
vor uns? - Es steht vor uns, dafür zu sorgen, dass der Schulden erlass notfalls
finanziell nachgebessert wird. Das können doch nur wir in den internationalen
Finanzinstitutionen, zusammen mit anderen fortschrittlichen Ländern, bewirken. Wer soll
das sonst tun?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb muss ich Ihnen sagen - für manche klingt das pathetisch, aber ich sage es, weil
das unsere Verantwortung ist -: Millionen von Menschen hoffen darauf, dass diese
Bundesregierung in ihrer Verantwortung verbleibt und ihre Arbeit leistet, um den Ärmsten
der Armen ein besseres Schicksal zu verschaffen. Das ist unsere Perspektive.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer heute nicht für ein solches Gesamtkonzept stimmt, wird diese Chancen zerstören. Wer
von Ihnen, der gewählt worden ist, um eine Politik der humanen Globalisierung und der
dauerhaften Friedenssicherung zu gestalten, könnte das mit seinem Gewissen vereinbaren?
Ulrich Beck hat in einem Artikel von Anfang November die Aufgabe, die vor uns liegt, so
formuliert:
Um die Quellen des Hasses von Milliarden von Menschen, aus denen immer wieder neue Bin
Ladens hervor gehen werden, auszutrocknen, müssen die Risiken der Globalisierung
berechenbar gemacht und die Freiheiten und Früchte dieser Globalisierung gerechter
verteilt wer den.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist richtig.
Wenn wir uns heute in einem weiteren Antrag, der Ihnen vorliegt, zu einer schrittweisen
verbindlichen Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels für Entwicklungszusammenarbeit
verpflichten und diesen Plan umsetzen, dann leisten wir nicht nur einen Beitrag für die
Solidarität mit den Menschen in der Welt; wir leisten auch einen Beitrag dazu, der
Mobilisierbarkeit von Terrorismus den Boden zu entziehen. Wir leisten auch einen Beitrag
zu unserer eigenen Sicherheit. Das ist die Perspektive, um die es geht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Situation nach dem 11. September 2001 ist, wenn man die Frage nach einer gerechteren
Weltordnung stellt, offen. Sie kann in einer neuen Weltunordnung enden, bietet aber auch
Chancen in Richtung auf die Verwirklichung einer neuen und gerechteren Weltordnung. Es
liegt an uns, ob wir diese Chancen nutzen. Deshalb sage ich: Die Aufgaben unseres Bündnisses von Sozialdemokratie und Bündnis 90/Grüne mit Gerhard Schröder
an der Spitze sind noch längst nicht erfüllt. Sie sind auch im Jahre 2002 noch nicht
erfüllt, es bedarf einer langfristigen Perspektive, damit wir das erreichen können,
wofür ich stehe und was wir skizziert haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb: Tragen Sie dazu bei, die richtige Weichenstellung zu voll ziehen. Willy Brandt -
damit möchte ich abschließen - hat es so formuliert:
Die Aufgabe besteht darin, die Menschheit von Abhängigkeit und Unterdrückung sowie von
Hunger und Not zu befreien. Neue Bande müssen geknüpft werden, welche die Aussichten auf
Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität für alle entscheidend verbessern. Dies ist eine
große Aufgabe für die jetzige Generation und für die, die ihr folgt.
Ich sage: Wir werden unsere Verantwortung ernst nehmen. Wir nehmen unsere Verantwortung
wahr. Wir stehen vor großen Aufgaben, es ist noch viel zu tun und wir werden es gemeinsam
tun.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lothar Mark [SPD]: Das war eine
echte Heidi-Rede!)
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