Rede der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Claudia
Roth zur Eröffnung der 17. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock
vom 24. November 2001
Liebe Freundinnen und Freunde,
Eigentlich wollten wir hier in Rostock über unser grünes Grundsatzprogramm diskutieren,
wollten gemeinsam bis übermorgen denken und uns drängenden Zukunftsfragen stellen. Wir
reden heute nicht über ein Grundsatzprogramm aber wir alle beschäftigen uns seit dem
11.9. mit sehr grundsätzlichen Fragen, die uns vor eine der größten Herausforderungen
in der Geschichte unserer Partei stellen, weil wir Entscheidungen treffen müssen, die zu
den schwierigsten für uns Grüne gehören.
Was ist Stärke und was ist Schwäche einer Partei, das frage ich mich oft in diesen
Tagen. Stärke einer Partei ist es, um Lösungen zu ringen und es sich dabei nicht leicht
zu machen. Stärke ist, differenziert zu bleiben in Zeiten, wo es kein einfaches Ja und
kein einfaches Nein gibt. Stärke ist, nicht dem populistischen Reflex zu erliegen, auf
schwierige Fragen nur noch platte Antworten geben zu wollen.
Wir führen Debatten, die die Menschen bewegen, wir nehmen Ängste und Sorgen ernst und
schüren sie nicht: das ist verantwortliche Politik. Ich empfinde auch dieses Gefühl
zerrissen zu sein, aber nicht die Partei ist zerrissen, sondern der Konflikt zerrt an
jedem und jeder von uns. Wir drücken uns aber davor nicht und wir ducken uns nicht weg.
Das liebe Freundinnen und Freunde ist unsere Stärke und macht uns in unserer
gesellschaftlichen Funktion so unentbehrlich. Der lebhafte und leidenschaftliche
politische Streit den wir führen zeigt doch, dass der politische Feuilletonist der den
grünen Exitus genüsslich herbeischreibt, gar nicht wahrhaben will, dass und wie lebendig
wir in unserer Auseinandersetzung sind.
Die Offenheit eigene Positionen zu hinterfragen und selbstbewusst zu überprüfen, ob auf
neue Herausforderungen unsere Konzepte ausreichend Antworten bieten: das ist glaubwürdige
Politik.
Dass wir uns lautes Nachdenken und Anforderungen an politisches Handeln nicht verbieten
lassen schon gar nicht mit Verweis auf eine Richtlinienkompetenz, die sich
bekanntlich nicht auf die Parteivorsitzende der Grünen erstreckt, das macht uns stark.
Genau davon lebt eine lebendige, genau das braucht eine wehrhafte Demokratie.
"Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung geglaubt werden, das ist die
wichtigste Hauptsache allüberall."
Das sagte Georg Christoph Lichtenberg vor 250 Jahren. Ich sehe im ganzen politischen
Koordinatensystem Deutschlands keine Partei außer unserer, die sinnvoll den Zweifel
pflegt. Auch davon lebt die Demokratie und auch das ist Stärke und nicht Schwäche.
Was ist Stärke in der innerparteilichen Auseinandersetzung?
Stärke ist, wenn wir auf ein ganz urgrünes Grundprinzip bestehen, das heißt: wir geben
Respekt und wir fordern Respekt. Respekt für unterschiedliche Meinungen und Vertrauen,
dass uns das gemeinsame Ziel eint und nur der Weg dorthin strittig ist.
Ich fordere euch auf, lasst uns hier in Rostock beweisen, dass wir integrationsfähig und
integrationswillig sind, denn es ist einfach aber wahr: nur gemeinsam, liebe Freundinnen
und Freunde, nur gemeinsam sind wir streitbar offen zukunftsfähig.
Laßt uns hier in Rostock beweisen, dass wir in der Lage sind Kompromisse einzugehen,
Brücken zueinander zu bauen, das, was uns eint produktiv nach vorne zu wenden, denn das
wird von uns erwartet. Und ich sage euch, das sind keine Formelkompromisse und ist kein
Opportunismus ich will keine ausgrenzende Entscheidungsschlacht, sondern will
unsere Gemeinsamkeiten beschreiben. Das ist die Basis für die Politikfähigkeit unserer
grünen Partei auch und gerade in Regierungsverantwortung.
Für eine solche Integrationsleistung und Kompromissbereitschaft steht der gesamte
Bundesvorstand, dafür kämpfen und streiten wir übrigens auch miteinander und
sehr kultiviert.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Gerade jetzt in Zeiten äußerer und innerer Unsicherheit, gerade jetzt braucht es eine
Partei, deren Wurzeln in der Friedensbewegung liegen, gerade jetzt braucht es eine Partei,
die sich den Werten der Gewaltfreiheit und der Menschenrechte auch nach dem Kosovo
verpflichtet fühlt, eine Partei des politischen Pazifismus. Gerade jetzt braucht es eine
Partei der Bürgerrechte, die ihre Stimme laut erhebt als Hüterin des Rechtsstaats.
Gerade jetzt braucht es Grün.
Am 11.September ist etwas passiert, das wir uns alle nicht vorstellen konnten. Ich kann
heute noch nicht an diese Bilder denken ohne ein tiefes Gefühl von Trauer, Ohnmacht und
dem Empfinden einer neuen Dimension von Terror und Gewalt.
Aber in diese Trauer mischen sich bei vielen Menschen Ängste: Ängste, vor einer
Militarisierung der Sprache und des Denkens, vor militärischer Eskalation, vor einem
Krieg.
Diese Ängste sind nicht Drückebergerei, Feigheit oder gar Antiamerikanismus. Sondern sie
drücken aus, was nicht die Antwort auf entsetzliche terroristische Gewalt ist: Krieg
gegen ein Land, gegen eine Kultur, gegen eine Religion.
Der Angriff vom 11.9. war nicht irgendeine Gewalttat. Dieser Terrorangriff war ein Angriff
auf die offene demokratische Gesellschaft, ein Angriff auf unsere Werte, auf die
Zivilität und das heißt nicht zivilisierte westliche Welt in Abgrenzung zur vermeintlich
nicht zivilisierten. Auch die islamische Welt ist angegriffen worden.
Sich gegen solche Angriffe zu verteidigen liebe Freundinnen und Freunde ist nicht nur
legitim, sondern auch notwendig.
Mit welchen Mitteln kann terroristische Gewalt bekämpft werden, wie kann sie verhindert
werden, wie sieht Prävention aus, wie kann man dem Terrorismus den Nährboden entziehen,
wie kann man höchstmögliche Sicherheit in einer Demokratie erreichen, eine Demokratie
die auf den Grund- Freiheits- und Bürgerrechten basiert? Das sind die Fragen, mit denen
wir uns intensiv auseinandersetzen, die wir Grüne beantworten müssen und die wir auch
beantworten können, obwohl es so verdammt schwer ist, sicher zu sein, was der richtige
Weg ist.
Wir werden antworten, ohne unsere Grundwerte zu verraten, ohne urgrüne Prinzipien
aufzugeben.
Und ich sage euch, ich lasse niemandem in dieser Partei moralische Integrität absprechen
oder als Umfaller bezeichnen, zumal diese Zuschreibungen oft von denen kommen, die es mit
Moral in der Politik ansonsten nicht so genau nehmen.
Sind wir für oder gegen Krieg. Diese Frage stellt sich nicht. Wir sind und wir bleiben
eine Anti-Kriegs-Partei, eine Partei mit hoher Friedenskompetenz. Und ich wehre mich
entschieden gegen alle, die verlangen, wir müssten jetzt ein für allemal die Frage
klären, ob wir für oder gegen Militär sind. So zugespitzt haben wir schon verloren. Ich
werde meine militärkritische Haltung nie aufgeben, allerdings glaube ich, dass es unter
bestimmten Voraussetzungen richtig ist auch Militär einzusetzen, um Gewalt
zurückzudrängen und Friedensperspektiven zu eröffnen.
In unserem Länderratsbeschluß haben wir ja gesagt zum Einsatz repressiver Mittel im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ja gesagt zu polizeilich militärischen
Mitteln, dafür aber klare Kriterien definiert: Repressive Mittel können und dürfen
immer nur ein Hilfsmittel sein, die nur eingesetzt werden unter Einbindung in ein
politisches Konzept. Sie unterliegen dem Grundsatz der Zielgerichtetheit und
Verhältnismäßigkeit, sie stehen im Einklang mit den Normen, der Charta und den Beschlüssen der Vereinten
Nationen, der Schutz der Zivilbevölkerung ist oberstes Prinzip.
Ja, wir bekunden Solidarität. Ja, wir beziehen uns auf die eindeutigen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates
und auf das Selbstverteidigungsrecht der USA. Solidarität, echte wahrhaftige Solidarität
heißt aber nicht Ja und Amen. Sie muß immer kritische Solidarität sein. Gerhard
Schröder versprach eilfertig "uneingeschränkte Solidarität". Damit gibt man
sich selbst auf und letztlich auch den anderen, weil uneingeschränkte Solidarität eben
nicht heißt, den anderen zu warnen, ihn notfalls daran zu hindern, einen großen Fehler
zu machen oder in ein verheerendes Abenteuer zu rennen.
Für mich birgt das die Gefahr blinder Gefolgschaft. Blinde Gefolgschaft ist aber nicht
Freundschaft. Freundschaft lebt vom offenen Wort und von der Konfliktbereitschaft dort, wo
sie nötig ist. Für uns, liebe Freundinnen und Freunde gilt: Kritische Solidarität ist
nicht Rhetorik, kritische Solidarität ist keine Politik des "Jain", kein Weg
der Trostpflästerchen, sondern eine Strategie, die strukturelle Veränderungen auf den
Weg bringt.
Ich möchte das an einem Beispiel klarmachen: In Arizona wurden zwei Deutsche ohne faires
Verfahren zum Tode verurteilt und trotz aller Proteste hingerichtet. Die Bundesregierung
ist auch aufgrund unseres Drucks und Joschkas Unterstützung - wegen Verletzung
internationaler Verpflichtungen gegen die USA vor den Internationalen Gerichtshof gezogen.
Heute haben wir den Urteilsspruch: Das Verfahren und die Vollstreckung der Todesurteile
widersprachen eindeutig der Wiener UN-Konvention. Dieses Gerichtsurteil stärkt die
Menschenrechte und tut der Freundschaft mit den USA keinen Abbruch, im Gegenteil.
Das ist für mich kritische Solidarität. Und sie bleibt grüne Primärtugend auf allen
politischen Ebenen.
Nach Beginn der militärischen Angriffe bin ich nach Pakistan gereist, um vor Ort mehr zu
erfahren, was in Afghanistan passiert, über die Situation der Zivilbevölkerung, der
Flüchtlinge, über die Stimmung in den Anrainerstaaten.
Meine Forderung nach Aussetzung der Bombardements hat den Fokus auf die drohende
humanitäre Katastrophe und die notwendige Stabilisierung der Antiterrorkoalition in der
islamischen Welt gerichtet und auch die Kritik an der Kriegsführung insbesondere den
Flächenbombardements und dem Einsatz von Streubomben war und ist richtig und notwendig,
denn sie sind weder zielgenau noch verhältnismäßig.
In dieser Situation musste der Bundestag über den Antrag der Bundesregierung zur
Bereitstellung deutscher Soldaten entscheiden. Ich hätte ihm wie viele andere in der
ursprünglichen Form nicht zustimmen können. Am 16. November haben sich zahlreiche
SPD-Abgeordnete. Schröders Druck ganz schnell und lautlos gefügt und dann eine
persönliche Erklärung zu Protokoll gegeben. Bewirkt haben sie nichts. Gar nichts. Der
grüne Parteirat dagegen hat sehr konkrete Forderungen der Präzisierung und Klarstellung
aufgestellt, er hat damit politischen Druck erzeugt und wir haben erreicht, dass alle
unsere Forderungen durchgesetzt wurden. Und liebe Freundinnen und Freunde, es sind uns
substantielle Änderungen gelungen:
- Die deutschen Einheiten werden ausschließlich gegen Al Quaida und deren Unterstützer
eingesetzt.
- Die Spezialkräfte haben rein polizeilich-militärische Aufgaben.
- Territorial wurde das Einsatzgebiet deutscher Truppen eng eingegrenzt und Sperren
eingebaut, die Aktionen in Irak und Somalia ausschließen lassen.
- Die Zusammensetzung der bereitgestellten Einheiten darf nicht ohne Beteiligung des
Bundestages verändert werden.
- Die Bundesregierung muss den Bundestag jederzeit umfassend über den Einsatz
unterrichten, damit das Parlament sein verfassungsmäßiges Recht zur Selbstbefassung auch
wirksam ausüben kann.
Wir haben das Mandat verantwortlich eingeschränkt und beschränkt. Auch
dadurch wird doch deutlich liebe Freundinnen und Freunde, dass wir gerade in Zeiten der
Terrorbekämpfung die mahnend-fordernden Stimmen der grünen Partei und Grüne wie Joschka
in Regierungsverantwortung brauchen. Denn nur so hatten wir die Verhandlungsmacht, diese
Verbesserungen auch durchzusetzen und nur so ist klargestellt, dass es keine Beteiligung
an Luftangriffen und Bodentruppen gibt.
Wir mit unseren 47 Abgeordneten, wir haben mehr durchgesetzt als die neuernannten
Pazifisten von der PDS. Wir haben mehr erreicht als die stillen und insgeheimen Kritiker
in der SPD. Das ist grüne Beharrlichkeit. Das ist grüne Gestaltungskraft.
Die Verbesserungen beim Bereitstellungsbeschluss, die Prioritätensetzung im vom Bundestag
verabschiedeten Entschließungsantrag der fordert, dass vor allem politische,ökonomische
und humanitäre Maßnahmen ergriffen werden, all das hätten wir der SPD von der
Oppositionsbank jedenfalls nicht abringen können.
Jetzt werden in den USA und in Großbritannien Forderungen laut, unter dem Deckmantel der
Terrorbekämpfung die Folter wieder einzuführen. Wer, wenn nicht wir, wird dagegen mobil
machen und die Menschenrechtler in diesen befreundeten Staaten unterstützen. Es wird ein
grüner Außenminister sein, der auf die Normen des Völkerrechts im Rahmen der UNO
bestehen wird.
Wir begeben uns nicht auf die Rutschbahn, die mit dem Wörtchen "eigentlich"
beginnt. "Der Zweck heiligt die Mittel" und "sei doch vernünftig!, bleib
im Rahmen! mach, was die andern tun!" - Das sind gefährliche Formeln, die in der
aktuellen Politik vieler Parteien und Länder derzeit eine Renaissance erleben. Wir
Grünen widersetzen uns als werteorientierte Partei dieser Logik.
Nein, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Es darf keine Folter eingeführt werden. Es
dürfen keine Streubomben abgeworfen werden. Wir sind vielleicht zu schwach, um ein
Bollwerk zu sein, aber wir sind eine Hürde, die all die vielen schleichenden Jasager
nicht umgehen können, die sich mit ihrem Ja und Amen vor der Verantwortung wegducken
wollen.
Manche sagen, wir wären von der Bewegungspartei zur Konzeptpartei geworden. Das sind wir
auch. Aber wir sind auch immer noch und auch in der Koalition die Partei der
Verantwortungsethik und der konstruktiven Kritik. Deren Funktion es ist Veränderungen
anzustoßen, Verbesserungen durchzusetzen oder Verschlechterungen zu verhindern. Vor allem
in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Bürger- und Menschenrechtspolitik bin
ich froh, dass wir uns nicht von unserem Widerspruchsgeist getrennt haben und fühle mich
gerade in unsicheren Zeiten sicherer, weil Joschka Fischer Außenminister ist und nicht
nur im Nahen Osten für friedenspolitische Perspektiven kämpft. Sicherer weil er
mitgebaut hat an der Antiterrorkoalition ohne dabei Ländern wie China oder der Türkei
oder Russland einen Blankoscheck auszustellen, wenn es um die Verletzung der
Menschenrechte an Minderheiten wie den Kurden, den Uiguren oder der tschetschenischen
Bevölkerung geht.
Es ist jetzt zentrale Aufgabe grüner Politik die Reduzierung der Debatte auf die
militärische Logik zu durchbrechen. Mit unserem Einsatz für die Förderung der
Menschenrechte, von Demokratie und Toleranz und internationaler Gerechtigkeit tragen wir
dazu bei, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Es geht darum, das internationale
Recht systematisch weiter zu stärken, deswegen fordern wir alle Staaten, auch die USA
auf, dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten. Grüne Politik heißt jetzt
konstruktive Vorschläge zu machen, wie die Neuausrichtung der Sicherheitspolitik aussehen
kann, jetzt Konzepte vorzulegen für Krisenprävention, für Konfliktdeeskalation, für
die faire Lösung regionaler Konflikte, für den Dialog der Kulturen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
die Situation für viele Menschen in Afghanistan beginnt sich zu verändern, das gibt mir
ein vorsichtig optimistisches Gefühl.
Ich war letztes Jahr zehn Tage in Afghanistan, in Kabul, in Dschallallabad, in Chack el
Wardak, in Faisabad. Was ich dort erlebt habe, war der Versuch des Überlebens in der
Hölle. Hölle das ist ein Leben in völliger Entrechtung. Ich habe gesehen und
gespürt, was es bedeutet, wenn die Würde der Frauen antastbar ist, wenn es kein Recht
auf Arbeit, kein Recht auf Erziehung, kein Recht auf Gesundheit, kein Recht auf Zukunft
gibt für Menschen, weil sie Frauen, weil sie kleine Mädchen sind. Ich kann mich sehr
genau erinnern, dass uns Frauen angefleht haben, gebt uns wenigstens unsere Stimme wieder,
vergesst uns nicht, denn Vergessen tötet, denkt an uns, dass wir überhaupt so etwas wie
Zukunft wieder denken können. Seit einigen Tagen haben Rundfunkjournalistinnen ihre
Stimme wiederbekommen, Mädchen dürfen in die Schule, der Schleier, die Burka wird
gelüftet.
Das Taliban-Regime geht seinem Ende entgegen. Aber die Mudschahedin der Nordallianz sind
keine politische Lösung. Die Nordallianz ist ein militärisches Bündnis ohne
zukunftsweisende politische Perspektive für ein Land, das endlich Frieden braucht und in
dem Frauen endlich wieder zu ihren Rechten kommen müssen. Übermorgen wird in Bonn die
Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen beginnen. Das ist es doch wofür wir Grüne
streiten, für politische Offensiven . Und es ist auch ein Erfolg der grünen Partei, wenn
der Ort dieser entscheidenden Konferenz die Bundesrepublik Deutschland und der Gastgeber
Joschka Fischer ist.
Frieden und Sicherheit wird es in diesem geschundenen Land nur geben, wenn sich alle aktiv
beteiligen können. Wir wollen helfen, die Weichen so zu stellen, dass nicht nur alle
Volksgruppen und sozialen Schichten, sondern vor allem auch die Mehrheit der afghanischen
Bevölkerung, die Frauen, die Möglichkeit bekommen, den Prozess des Wiederaufbaus und der
Befriedung in ihrem Sinne mit zu gestalten. Was dieses Land jetzt mehr als alles andere
ganz dringend braucht, mehr als Straßen, Strom und Telefone, sind Überlebens- und
Existenzgründungshilfen für Frauen, für die vielen alleinerziehenden Frauen, die
Kriegswitwen und Trümmerfrauen.
Die humanitäre Katastrophe ist noch lange nicht abgewendet, also müssen unmittelbar
humanitäre Offensiven starten, damit die notleidende hungernde Zivilbevölkerung, die
Binnenflüchtlinge, die vom Tod bedrohten Kinder gerettet werden können. Ich meine das
ist eine zentrale Aufgabe des deutschen Beitrags. Mit Lufttransportkapazitäten und mit
konkreten Projekten zur Nahrungsmittelhilfe, zur Unterstützung mit Saatgut, das jetzt
ausgebracht werden muß, damit sich der Hunger nicht auf das nächste Jahr fortsetzt.
Renate Künast hat solche Initiativen ergriffen in Zusammenarbeit mit der FAO. Denn die
Koalition gegen den Terrorismus muß auch eine Koalition der Humanität sein.
Und sie muß eine Koalition der Menschenrechte, des Völkerrechts sein. Ich halte den
gezielten Zugriff auf die mutmaßlichen Täter des 11.September für richtig und nötig,
will aber, dass sie vor ein Strafgericht gestellt und nicht liquidiert werden. Auch das
kann deutscher Beitrag sein, wenn nämlich Spezialkräfte eingesetzt werden bei
Verhaftungen.
Aus all diesen Erwägungen heraus hat der Bundesvorstand die Zustimmung zum Antrag der
Bundesregierung empfohlen.
Ich respektiere aber ausdrücklich, dass unsere Abgeordneten in dieser Entscheidung, die
Gewissensfragen genauso so berührt, wie politische Grundsatzfragen, zu unterschiedlichen
Ergebnissen kamen. Niemand hat sich die Entscheidung leicht gemacht.
Ich akzeptiere, dass unsere Abgeordneten mehrheitlich der Bereitstellung von Einheiten der
Bundeswehr zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zugestimmt haben.
Ich halte es für richtig, dass die vorhandene Kritik an dem Einsatz, die in unserer
Partei ihren Platz hat, in der Abstimmung zum Ausdruck gebracht wurde.
Ich begrüße, dass von der Fraktion zivile Prioritäten voran gebracht wurden. Es ist
gut, dass die Fraktion einen Weg fand, die Entscheidung in der Sache, die Freiheit der
Kritik und eine klare Entscheidung für die Koalition zu verbinden. Ich würdige die
Haltung aller, die das ermöglicht haben, obwohl sie persönlich anderer Meinung gewesen
sein mögen. Meine Antwort auf die Frage nach der Koalition ist eindeutig: ich will sie
fortsetzen, weil sie gut ist für die Menschen und für dieses Land.
Weil gerade eine grüne Außen- und Friedenspolitik tatsächliche Perspektiven für das
21. Jahrhundert aufzeigen kann dürfen wir es nicht zulassen, dass alte martialische
Konzepte aus der Mottenkiste des Militarismus unter dem Schlachtruf "wir sind wieder
wer" hervorgeholt werden.
An die Adresse der SPD sagen wir: wir sind ein fairer Partner und wir erwarten faire
Partnerschaft. Wir brauchen keine hemdsärmlichen Belehrungen und lieber Koalitionspartner
du solltest nicht vergessen, dass eine Koalition eine politische Ehe auf Gedeih und nicht
auf Verderben ist.
Meine Bewertung ist die Bewertung des gesamten Bundesvorstandes. Und ich hoffe sehr, dass
sich diese Bundesdelegiertenkonferenz unserem Vorschlag anschließen kann und anschließen
wird.
Liebe Freundinnen und Freunde
manchmal versteht man kaum, was man liest. Da schreibt diese Woche der "Stern":
"Keine andere Partei hat so viele gesellschaftliche und politische Wenden bewirkt, im
Großen wie im Kleinen." Und dann listet der Stern einen Teil unserer grünen Erfolge
auf: vom Atomausstieg über den Einstieg in die Erneuerbaren Energien bis zu Frauen und
Schwulen in höchsten Ämtern.
Stimmt. Ohne uns hätten es weder Frau Merkel noch Herr Wowereit geschafft. Es sind wir
Grünen, die die deutsche Gesellschaft stärker verändern als jede andere Partei oder
gesellschaftliche Bewegung. Das war schon so, als wir noch in der Opposition waren. Seit
wir in der Koalition sind, gestalten wir die gesellschaftliche Veränderung, geben wir der
Modernisierung eine Richtung: Wieso der "Stern" aber unsere Kraft und Stärke
rühmt und uns gleichzeitig das Sterbeglöckchen läuten will, das soll mir mal jemand
erklären. Logisch ist das nicht.
Wir sind angetreten für einen Politikwechsel und nicht nur für einen Regierungswechsel.
Und ich frage, hat sich die Politik in diesem Land durch uns nicht verändert, hat sie
sich nicht geöffnet?
Hätte die FDP eine Seele, sie würde sie dem Teufel verkaufen, um an die Macht zu kommen,
mit wem auch immer. Das ist Machtopportunismus in Reinkultur.
Für uns war und ist eine Koalition kein Selbstzweck, sondern natürlich verbinden wir sie
mit unseren politischen Ziele. Und genauso wenig ist für mich die Opposition ein Tabu.
Ganz im Gegenteil. Sie hat eine zentrale Funktion und die Grünen haben erfolgreiche
Oppositionsarbeit geleistet. Aber bitte lasst uns sehr genau fragen, wo haben wir
gestaltet, wo erreichen wir mehr und schneller unsere Ziele. Und was würde eine andere
Regierungskonstellation für das bisher Erreichte und noch zu Erreichende bedeuten?
Politische Stärke setzt sich langfristig durch. Ich finde für die 6,7 % die wir in die
Koalition einbringen, können wir eine Bilanz aufweisen, die deutlich besser ist als ihr
Ruf.
- wir, und nicht Frau Bergmann, haben das eigenständige Aufenthaltsrecht für
ausländische Ehefrauen durchgesetzt
- wir haben dafür gesorgt, dass bei häuslicher Gewalt jetzt Frauen und Kinder die
Wohnung behalten können,
- wir, und nicht Frau Däubler-Gmelin, hatten die nötige Power und Courage, Schwule und
Lesben gleichzustellen und dieses Land damit demokratischer zu machen,
- wir, und nicht Otto Schily, haben eine moderne Zuwanderungspolitik, die Einwanderung
regelt, das Asylrecht sichert und Integration fördert durchgesetzt. Wir haben erreicht
dass deutsche Innenpolitik endlich glaubwürdig wird, wenn geschlechtsspezifische und
nichtstaatliche Verfolgung anerkannt werden
- wir, und nicht Otto Schily, werden die unsinnigen Pläne der Union verhindern, die
Bundeswehr im Inland einzusetzen und die innere Sicherheit zu militarisieren.
Und liebe Freundinnen und Freunde, sind wir nicht stark dort, wo es
unsere ureigensten Themen berührt und wo wir selbst das Heft in der Hand haben.
- Ich fühle mich sicherer in unsicheren Zeiten, weil ich weiß, dass für Jürgen Trittin
AKWs kein Restrisiko sind, sondern eine nicht beherrschbare Gefährdung, die es so
schnell wie möglich abzuschalten gilt.
- Das Bundesnaturschutzgesetz, an dem bisher alle Umweltminister gescheitert sind, jetzt
haben wir es erreicht
- Der Einstieg in erneuerbare Energien ist überall auf Dächern und freien Feldern zu
sehen. Deutschland produziert in der Zwischenzeit ein Drittel aller Windenergie weltweit.
- und ohne Jürgen wäre der Kyoto-Prozess in Bonn gescheitert.
Mit Agrarpolitik kann man keinen Blumentopf und keine Wähler gewinnen?
Falsch Renate beweist das Gegenteil und macht Verbraucherpolitik zum neuen Thema
und Ökolandwirtschaft zur Mainstream-Bewegung.
Entwicklungspolitik wurde marginalisiert. Jetzt, seit Seattle und dem 11. September gibt
es in der EU einen Konsens, die Entwicklungshilfe auf 0,7 % des BSP anzuheben, auch für
die Tobin-Steuer gibt es plötzlich Zustimmungen aus vielen Lagern. Viele unserer
Forderungen, wegen denen wir verlacht wurden, werden nun als Lösung erkannt, wie der
Beschluß, dass die WTO sich künftig mit sozialen und ökologischen Standards und
globalen Umweltabkommen beschäftigen soll.
Wir sollten wirklich nicht so bescheiden sein, wenn es um eigene Erfolge geht
nichts schönreden aber auch nichts wegreden.
Die PazifistInnen und die ChristInnen, die RadikalökologInnen und die
Marktwirtschaftlnnen, die AsylpolitikerInnen und die Gentechnikexperten,die Feministinnen
- wir brauchen sie alle in unserer Partei, streitbar und offen, denn sie halten uns
lebendig sie schärfen unser Profil, so unterscheiden wir uns von anderen Parteien, so
sind wir zukunftsfähig.
Denen, die uns vielleicht wegen der Abstimmung am 16. November verlassen wollen, will ich
sagen: Gebt nicht auf! Hofft nicht auf eine bessere grüne Partei, als wir es zusammen
sind. Der Klimawandel wird nicht warten, bis ihr sie gegründet, über die 5 %-Hürde und
in die Regierung gebracht habt. Bleibt! Und sucht Mitstreiter, damit wir in der nächsten
Koalition mehr Verhandlungsmacht haben als in dieser.
Wer heute sagt, "wir brauchen die Pazifisten nicht mehr in der Partei, sie stören
nur", der hat nicht begriffen, wie Seattle, wie der 11. September und wie der 16.
November die Politik verändert haben. Wir brauchen die Pazifisten heute und morgen erst
recht. Denn die globale Unordnung ist zu groß, als dass die Welt sie mit militärischen
Mitteln bekämpfen könnte. Krisenprävention und Mediation werden künftig immer
wichtiger werden.
Bisher steht nicht fest, ob das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der UNO, ein Jahrhundert
des Klimaschutzes und ein Jahrhundert der ökologischen und sozialen Zivilisierung des
globalen Wettbewerbs wird. Wir sind jetzt kurz vor der nicht mehr rückholbaren
Weichenstellung. Ist es nicht wichtig, dasswir gerade jetzt so viel Einfluss wie möglich
behalten. Denn fest steht:
- Der Klimawandel hat begonnen.
- Wir haben schon jetzt mehr Umwelt- als Kriegsflüchtlinge.
- Globalisierung zu zähmen und globale Gerechtigkeit herzustellen ist auch Prävention
gegen den internationalen Terrorismus, denn die Frucht der Gerechtigkeit ist der Frieden
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir sind eine starke Partei gerade weil wir bisweilen uneinig aber für das gemeinsame
Ziel kompromissfähig sind. Wir müssen diesen Reichtum bewahren, um stark zu bleiben.
Deshalb wünsche ich uns allen einen Parteitag, der deutlich macht, dass wir Streit in der
Sache und Respekt vor Andersdenkenden als politische Kultur ganz bewusst pflegen. Das ist
eine der Stärken, die wir anderen Parteien voraus haben.
|