Rede der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Claudia Roth zur Eröffnung der 17. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock

vom 24. November 2001


Liebe Freundinnen und Freunde,

Eigentlich wollten wir hier in Rostock über unser grünes Grundsatzprogramm diskutieren, wollten gemeinsam bis übermorgen denken und uns drängenden Zukunftsfragen stellen. Wir reden heute nicht über ein Grundsatzprogramm aber wir alle beschäftigen uns seit dem 11.9. mit sehr grundsätzlichen Fragen, die uns vor eine der größten Herausforderungen in der Geschichte unserer Partei stellen, weil wir Entscheidungen treffen müssen, die zu den schwierigsten für uns Grüne gehören.

Was ist Stärke und was ist Schwäche einer Partei, das frage ich mich oft in diesen Tagen. Stärke einer Partei ist es, um Lösungen zu ringen und es sich dabei nicht leicht zu machen. Stärke ist, differenziert zu bleiben in Zeiten, wo es kein einfaches Ja und kein einfaches Nein gibt. Stärke ist, nicht dem populistischen Reflex zu erliegen, auf schwierige Fragen nur noch platte Antworten geben zu wollen.

Wir führen Debatten, die die Menschen bewegen, wir nehmen Ängste und Sorgen ernst und schüren sie nicht: das ist verantwortliche Politik. Ich empfinde auch dieses Gefühl zerrissen zu sein, aber nicht die Partei ist zerrissen, sondern der Konflikt zerrt an jedem und jeder von uns. Wir drücken uns aber davor nicht und wir ducken uns nicht weg. Das liebe Freundinnen und Freunde ist unsere Stärke und macht uns in unserer gesellschaftlichen Funktion so unentbehrlich. Der lebhafte und leidenschaftliche politische Streit den wir führen zeigt doch, dass der politische Feuilletonist der den grünen Exitus genüsslich herbeischreibt, gar nicht wahrhaben will, dass und wie lebendig wir in unserer Auseinandersetzung sind.

Die Offenheit eigene Positionen zu hinterfragen und selbstbewusst zu überprüfen, ob auf neue Herausforderungen unsere Konzepte ausreichend Antworten bieten: das ist glaubwürdige Politik.

Dass wir uns lautes Nachdenken und Anforderungen an politisches Handeln nicht verbieten lassen – schon gar nicht mit Verweis auf eine Richtlinienkompetenz, die sich bekanntlich nicht auf die Parteivorsitzende der Grünen erstreckt, das macht uns stark. Genau davon lebt eine lebendige, genau das braucht eine wehrhafte Demokratie.

"Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung geglaubt werden, das ist die wichtigste Hauptsache allüberall."

Das sagte Georg Christoph Lichtenberg vor 250 Jahren. Ich sehe im ganzen politischen Koordinatensystem Deutschlands keine Partei außer unserer, die sinnvoll den Zweifel pflegt. Auch davon lebt die Demokratie und auch das ist Stärke und nicht Schwäche.

Was ist Stärke in der innerparteilichen Auseinandersetzung?

Stärke ist, wenn wir auf ein ganz urgrünes Grundprinzip bestehen, das heißt: wir geben Respekt und wir fordern Respekt. Respekt für unterschiedliche Meinungen und Vertrauen, dass uns das gemeinsame Ziel eint und nur der Weg dorthin strittig ist.

Ich fordere euch auf, lasst uns hier in Rostock beweisen, dass wir integrationsfähig und integrationswillig sind, denn es ist einfach aber wahr: nur gemeinsam, liebe Freundinnen und Freunde, nur gemeinsam sind wir streitbar – offen – zukunftsfähig.

Laßt uns hier in Rostock beweisen, dass wir in der Lage sind Kompromisse einzugehen, Brücken zueinander zu bauen, das, was uns eint produktiv nach vorne zu wenden, denn das wird von uns erwartet. Und ich sage euch, das sind keine Formelkompromisse und ist kein Opportunismus – ich will keine ausgrenzende Entscheidungsschlacht, sondern will unsere Gemeinsamkeiten beschreiben. Das ist die Basis für die Politikfähigkeit unserer grünen Partei auch und gerade in Regierungsverantwortung.

Für eine solche Integrationsleistung und Kompromissbereitschaft steht der gesamte Bundesvorstand, dafür kämpfen und streiten wir – übrigens auch miteinander und sehr kultiviert.

Liebe Freundinnen und Freunde,

Gerade jetzt in Zeiten äußerer und innerer Unsicherheit, gerade jetzt braucht es eine Partei, deren Wurzeln in der Friedensbewegung liegen, gerade jetzt braucht es eine Partei, die sich den Werten der Gewaltfreiheit und der Menschenrechte auch nach dem Kosovo verpflichtet fühlt, eine Partei des politischen Pazifismus. Gerade jetzt braucht es eine Partei der Bürgerrechte, die ihre Stimme laut erhebt als Hüterin des Rechtsstaats. Gerade jetzt braucht es Grün.

Am 11.September ist etwas passiert, das wir uns alle nicht vorstellen konnten. Ich kann heute noch nicht an diese Bilder denken ohne ein tiefes Gefühl von Trauer, Ohnmacht und dem Empfinden einer neuen Dimension von Terror und Gewalt.

Aber in diese Trauer mischen sich bei vielen Menschen Ängste: Ängste, vor einer Militarisierung der Sprache und des Denkens, vor militärischer Eskalation, vor einem Krieg.

Diese Ängste sind nicht Drückebergerei, Feigheit oder gar Antiamerikanismus. Sondern sie drücken aus, was nicht die Antwort auf entsetzliche terroristische Gewalt ist: Krieg gegen ein Land, gegen eine Kultur, gegen eine Religion.

Der Angriff vom 11.9. war nicht irgendeine Gewalttat. Dieser Terrorangriff war ein Angriff auf die offene demokratische Gesellschaft, ein Angriff auf unsere Werte, auf die Zivilität und das heißt nicht zivilisierte westliche Welt in Abgrenzung zur vermeintlich nicht zivilisierten. Auch die islamische Welt ist angegriffen worden.

Sich gegen solche Angriffe zu verteidigen liebe Freundinnen und Freunde ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig.

Mit welchen Mitteln kann terroristische Gewalt bekämpft werden, wie kann sie verhindert werden, wie sieht Prävention aus, wie kann man dem Terrorismus den Nährboden entziehen, wie kann man höchstmögliche Sicherheit in einer Demokratie erreichen, eine Demokratie die auf den Grund- Freiheits- und Bürgerrechten basiert? Das sind die Fragen, mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen, die wir Grüne beantworten müssen und die wir auch beantworten können, obwohl es so verdammt schwer ist, sicher zu sein, was der richtige Weg ist.

Wir werden antworten, ohne unsere Grundwerte zu verraten, ohne urgrüne Prinzipien aufzugeben.

Und ich sage euch, ich lasse niemandem in dieser Partei moralische Integrität absprechen oder als Umfaller bezeichnen, zumal diese Zuschreibungen oft von denen kommen, die es mit Moral in der Politik ansonsten nicht so genau nehmen.

Sind wir für oder gegen Krieg. Diese Frage stellt sich nicht. Wir sind und wir bleiben eine Anti-Kriegs-Partei, eine Partei mit hoher Friedenskompetenz. Und ich wehre mich entschieden gegen alle, die verlangen, wir müssten jetzt ein für allemal die Frage klären, ob wir für oder gegen Militär sind. So zugespitzt haben wir schon verloren. Ich werde meine militärkritische Haltung nie aufgeben, allerdings glaube ich, dass es unter bestimmten Voraussetzungen richtig ist auch Militär einzusetzen, um Gewalt zurückzudrängen und Friedensperspektiven zu eröffnen.

In unserem Länderratsbeschluß haben wir ja gesagt zum Einsatz repressiver Mittel im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ja gesagt zu polizeilich militärischen Mitteln, dafür aber klare Kriterien definiert: Repressive Mittel können und dürfen immer nur ein Hilfsmittel sein, die nur eingesetzt werden unter Einbindung in ein politisches Konzept. Sie unterliegen dem Grundsatz der Zielgerichtetheit und Verhältnismäßigkeit, sie stehen im Einklang mit den Normen, der Charta und den Beschlüssen der Vereinten Nationen, der Schutz der Zivilbevölkerung ist oberstes Prinzip.

Ja, wir bekunden Solidarität. Ja, wir beziehen uns auf die eindeutigen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates und auf das Selbstverteidigungsrecht der USA. Solidarität, echte wahrhaftige Solidarität heißt aber nicht Ja und Amen. Sie muß immer kritische Solidarität sein. Gerhard Schröder versprach eilfertig "uneingeschränkte Solidarität". Damit gibt man sich selbst auf und letztlich auch den anderen, weil uneingeschränkte Solidarität eben nicht heißt, den anderen zu warnen, ihn notfalls daran zu hindern, einen großen Fehler zu machen oder in ein verheerendes Abenteuer zu rennen.

Für mich birgt das die Gefahr blinder Gefolgschaft. Blinde Gefolgschaft ist aber nicht Freundschaft. Freundschaft lebt vom offenen Wort und von der Konfliktbereitschaft dort, wo sie nötig ist. Für uns, liebe Freundinnen und Freunde gilt: Kritische Solidarität ist nicht Rhetorik, kritische Solidarität ist keine Politik des "Jain", kein Weg der Trostpflästerchen, sondern eine Strategie, die strukturelle Veränderungen auf den Weg bringt.

Ich möchte das an einem Beispiel klarmachen: In Arizona wurden zwei Deutsche ohne faires Verfahren zum Tode verurteilt und trotz aller Proteste hingerichtet. Die Bundesregierung ist – auch aufgrund unseres Drucks und Joschkas Unterstützung - wegen Verletzung internationaler Verpflichtungen gegen die USA vor den Internationalen Gerichtshof gezogen. Heute haben wir den Urteilsspruch: Das Verfahren und die Vollstreckung der Todesurteile widersprachen eindeutig der Wiener UN-Konvention. Dieses Gerichtsurteil stärkt die Menschenrechte und tut der Freundschaft mit den USA keinen Abbruch, im Gegenteil.

Das ist für mich kritische Solidarität. Und sie bleibt grüne Primärtugend auf allen politischen Ebenen.

Nach Beginn der militärischen Angriffe bin ich nach Pakistan gereist, um vor Ort mehr zu erfahren, was in Afghanistan passiert, über die Situation der Zivilbevölkerung, der Flüchtlinge, über die Stimmung in den Anrainerstaaten.

Meine Forderung nach Aussetzung der Bombardements hat den Fokus auf die drohende humanitäre Katastrophe und die notwendige Stabilisierung der Antiterrorkoalition in der islamischen Welt gerichtet und auch die Kritik an der Kriegsführung insbesondere den Flächenbombardements und dem Einsatz von Streubomben war und ist richtig und notwendig, denn sie sind weder zielgenau noch verhältnismäßig.

In dieser Situation musste der Bundestag über den Antrag der Bundesregierung zur Bereitstellung deutscher Soldaten entscheiden. Ich hätte ihm wie viele andere in der ursprünglichen Form nicht zustimmen können. Am 16. November haben sich zahlreiche SPD-Abgeordnete. Schröders Druck ganz schnell und lautlos gefügt und dann eine persönliche Erklärung zu Protokoll gegeben. Bewirkt haben sie nichts. Gar nichts. Der grüne Parteirat dagegen hat sehr konkrete Forderungen der Präzisierung und Klarstellung aufgestellt, er hat damit politischen Druck erzeugt und wir haben erreicht, dass alle unsere Forderungen durchgesetzt wurden. Und liebe Freundinnen und Freunde, es sind uns substantielle Änderungen gelungen:

  • Die deutschen Einheiten werden ausschließlich gegen Al Quaida und deren Unterstützer eingesetzt.
  • Die Spezialkräfte haben rein polizeilich-militärische Aufgaben.
  • Territorial wurde das Einsatzgebiet deutscher Truppen eng eingegrenzt und Sperren eingebaut, die Aktionen in Irak und Somalia ausschließen lassen.
  • Die Zusammensetzung der bereitgestellten Einheiten darf nicht ohne Beteiligung des Bundestages verändert werden.
  • Die Bundesregierung muss den Bundestag jederzeit umfassend über den Einsatz unterrichten, damit das Parlament sein verfassungsmäßiges Recht zur Selbstbefassung auch wirksam ausüben kann.

Wir haben das Mandat verantwortlich eingeschränkt und beschränkt. Auch dadurch wird doch deutlich liebe Freundinnen und Freunde, dass wir gerade in Zeiten der Terrorbekämpfung die mahnend-fordernden Stimmen der grünen Partei und Grüne wie Joschka in Regierungsverantwortung brauchen. Denn nur so hatten wir die Verhandlungsmacht, diese Verbesserungen auch durchzusetzen und nur so ist klargestellt, dass es keine Beteiligung an Luftangriffen und Bodentruppen gibt.

Wir mit unseren 47 Abgeordneten, wir haben mehr durchgesetzt als die neuernannten Pazifisten von der PDS. Wir haben mehr erreicht als die stillen und insgeheimen Kritiker in der SPD. Das ist grüne Beharrlichkeit. Das ist grüne Gestaltungskraft.

Die Verbesserungen beim Bereitstellungsbeschluss, die Prioritätensetzung im vom Bundestag verabschiedeten Entschließungsantrag der fordert, dass vor allem politische,ökonomische und humanitäre Maßnahmen ergriffen werden, all das hätten wir der SPD von der Oppositionsbank jedenfalls nicht abringen können.

Jetzt werden in den USA und in Großbritannien Forderungen laut, unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung die Folter wieder einzuführen. Wer, wenn nicht wir, wird dagegen mobil machen und die Menschenrechtler in diesen befreundeten Staaten unterstützen. Es wird ein grüner Außenminister sein, der auf die Normen des Völkerrechts im Rahmen der UNO bestehen wird.

Wir begeben uns nicht auf die Rutschbahn, die mit dem Wörtchen "eigentlich" beginnt. "Der Zweck heiligt die Mittel" und "sei doch vernünftig!, bleib im Rahmen! mach, was die andern tun!" - Das sind gefährliche Formeln, die in der aktuellen Politik vieler Parteien und Länder derzeit eine Renaissance erleben. Wir Grünen widersetzen uns als werteorientierte Partei dieser Logik.

Nein, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Es darf keine Folter eingeführt werden. Es dürfen keine Streubomben abgeworfen werden. Wir sind vielleicht zu schwach, um ein Bollwerk zu sein, aber wir sind eine Hürde, die all die vielen schleichenden Jasager nicht umgehen können, die sich mit ihrem Ja und Amen vor der Verantwortung wegducken wollen.

Manche sagen, wir wären von der Bewegungspartei zur Konzeptpartei geworden. Das sind wir auch. Aber wir sind auch immer noch und auch in der Koalition die Partei der Verantwortungsethik und der konstruktiven Kritik. Deren Funktion es ist Veränderungen anzustoßen, Verbesserungen durchzusetzen oder Verschlechterungen zu verhindern. Vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Bürger- und Menschenrechtspolitik bin ich froh, dass wir uns nicht von unserem Widerspruchsgeist getrennt haben und fühle mich gerade in unsicheren Zeiten sicherer, weil Joschka Fischer Außenminister ist und nicht nur im Nahen Osten für friedenspolitische Perspektiven kämpft. Sicherer weil er mitgebaut hat an der Antiterrorkoalition ohne dabei Ländern wie China oder der Türkei oder Russland einen Blankoscheck auszustellen, wenn es um die Verletzung der Menschenrechte an Minderheiten wie den Kurden, den Uiguren oder der tschetschenischen Bevölkerung geht.

Es ist jetzt zentrale Aufgabe grüner Politik die Reduzierung der Debatte auf die militärische Logik zu durchbrechen. Mit unserem Einsatz für die Förderung der Menschenrechte, von Demokratie und Toleranz und internationaler Gerechtigkeit tragen wir dazu bei, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Es geht darum, das internationale Recht systematisch weiter zu stärken, deswegen fordern wir alle Staaten, auch die USA auf, dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten. Grüne Politik heißt jetzt konstruktive Vorschläge zu machen, wie die Neuausrichtung der Sicherheitspolitik aussehen kann, jetzt Konzepte vorzulegen für Krisenprävention, für Konfliktdeeskalation, für die faire Lösung regionaler Konflikte, für den Dialog der Kulturen.

Liebe Freundinnen und Freunde,

die Situation für viele Menschen in Afghanistan beginnt sich zu verändern, das gibt mir ein vorsichtig optimistisches Gefühl.

Ich war letztes Jahr zehn Tage in Afghanistan, in Kabul, in Dschallallabad, in Chack el Wardak, in Faisabad. Was ich dort erlebt habe, war der Versuch des Überlebens in der Hölle. Hölle – das ist ein Leben in völliger Entrechtung. Ich habe gesehen und gespürt, was es bedeutet, wenn die Würde der Frauen antastbar ist, wenn es kein Recht auf Arbeit, kein Recht auf Erziehung, kein Recht auf Gesundheit, kein Recht auf Zukunft gibt für Menschen, weil sie Frauen, weil sie kleine Mädchen sind. Ich kann mich sehr genau erinnern, dass uns Frauen angefleht haben, gebt uns wenigstens unsere Stimme wieder, vergesst uns nicht, denn Vergessen tötet, denkt an uns, dass wir überhaupt so etwas wie Zukunft wieder denken können. Seit einigen Tagen haben Rundfunkjournalistinnen ihre Stimme wiederbekommen, Mädchen dürfen in die Schule, der Schleier, die Burka wird gelüftet.

Das Taliban-Regime geht seinem Ende entgegen. Aber die Mudschahedin der Nordallianz sind keine politische Lösung. Die Nordallianz ist ein militärisches Bündnis ohne zukunftsweisende politische Perspektive für ein Land, das endlich Frieden braucht und in dem Frauen endlich wieder zu ihren Rechten kommen müssen. Übermorgen wird in Bonn die Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen beginnen. Das ist es doch wofür wir Grüne streiten, für politische Offensiven . Und es ist auch ein Erfolg der grünen Partei, wenn der Ort dieser entscheidenden Konferenz die Bundesrepublik Deutschland und der Gastgeber Joschka Fischer ist.

Frieden und Sicherheit wird es in diesem geschundenen Land nur geben, wenn sich alle aktiv beteiligen können. Wir wollen helfen, die Weichen so zu stellen, dass nicht nur alle Volksgruppen und sozialen Schichten, sondern vor allem auch die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung, die Frauen, die Möglichkeit bekommen, den Prozess des Wiederaufbaus und der Befriedung in ihrem Sinne mit zu gestalten. Was dieses Land jetzt mehr als alles andere ganz dringend braucht, mehr als Straßen, Strom und Telefone, sind Überlebens- und Existenzgründungshilfen für Frauen, für die vielen alleinerziehenden Frauen, die Kriegswitwen und Trümmerfrauen.

Die humanitäre Katastrophe ist noch lange nicht abgewendet, also müssen unmittelbar humanitäre Offensiven starten, damit die notleidende hungernde Zivilbevölkerung, die Binnenflüchtlinge, die vom Tod bedrohten Kinder gerettet werden können. Ich meine das ist eine zentrale Aufgabe des deutschen Beitrags. Mit Lufttransportkapazitäten und mit konkreten Projekten zur Nahrungsmittelhilfe, zur Unterstützung mit Saatgut, das jetzt ausgebracht werden muß, damit sich der Hunger nicht auf das nächste Jahr fortsetzt. Renate Künast hat solche Initiativen ergriffen in Zusammenarbeit mit der FAO. Denn die Koalition gegen den Terrorismus muß auch eine Koalition der Humanität sein.

Und sie muß eine Koalition der Menschenrechte, des Völkerrechts sein. Ich halte den gezielten Zugriff auf die mutmaßlichen Täter des 11.September für richtig und nötig, will aber, dass sie vor ein Strafgericht gestellt und nicht liquidiert werden. Auch das kann deutscher Beitrag sein, wenn nämlich Spezialkräfte eingesetzt werden bei Verhaftungen.

Aus all diesen Erwägungen heraus hat der Bundesvorstand die Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung empfohlen.

Ich respektiere aber ausdrücklich, dass unsere Abgeordneten in dieser Entscheidung, die Gewissensfragen genauso so berührt, wie politische Grundsatzfragen, zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Niemand hat sich die Entscheidung leicht gemacht.

Ich akzeptiere, dass unsere Abgeordneten mehrheitlich der Bereitstellung von Einheiten der Bundeswehr zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zugestimmt haben.

Ich halte es für richtig, dass die vorhandene Kritik an dem Einsatz, die in unserer Partei ihren Platz hat, in der Abstimmung zum Ausdruck gebracht wurde.

Ich begrüße, dass von der Fraktion zivile Prioritäten voran gebracht wurden. Es ist gut, dass die Fraktion einen Weg fand, die Entscheidung in der Sache, die Freiheit der Kritik und eine klare Entscheidung für die Koalition zu verbinden. Ich würdige die Haltung aller, die das ermöglicht haben, obwohl sie persönlich anderer Meinung gewesen sein mögen. Meine Antwort auf die Frage nach der Koalition ist eindeutig: ich will sie fortsetzen, weil sie gut ist für die Menschen und für dieses Land.

Weil gerade eine grüne Außen- und Friedenspolitik tatsächliche Perspektiven für das 21. Jahrhundert aufzeigen kann dürfen wir es nicht zulassen, dass alte martialische Konzepte aus der Mottenkiste des Militarismus unter dem Schlachtruf "wir sind wieder wer" hervorgeholt werden.

An die Adresse der SPD sagen wir: wir sind ein fairer Partner und wir erwarten faire Partnerschaft. Wir brauchen keine hemdsärmlichen Belehrungen und lieber Koalitionspartner du solltest nicht vergessen, dass eine Koalition eine politische Ehe auf Gedeih und nicht auf Verderben ist.

Meine Bewertung ist die Bewertung des gesamten Bundesvorstandes. Und ich hoffe sehr, dass sich diese Bundesdelegiertenkonferenz unserem Vorschlag anschließen kann und anschließen wird.

Liebe Freundinnen und Freunde

manchmal versteht man kaum, was man liest. Da schreibt diese Woche der "Stern": "Keine andere Partei hat so viele gesellschaftliche und politische Wenden bewirkt, im Großen wie im Kleinen." Und dann listet der Stern einen Teil unserer grünen Erfolge auf: vom Atomausstieg über den Einstieg in die Erneuerbaren Energien bis zu Frauen und Schwulen in höchsten Ämtern.

Stimmt. Ohne uns hätten es weder Frau Merkel noch Herr Wowereit geschafft. Es sind wir Grünen, die die deutsche Gesellschaft stärker verändern als jede andere Partei oder gesellschaftliche Bewegung. Das war schon so, als wir noch in der Opposition waren. Seit wir in der Koalition sind, gestalten wir die gesellschaftliche Veränderung, geben wir der Modernisierung eine Richtung: Wieso der "Stern" aber unsere Kraft und Stärke rühmt und uns gleichzeitig das Sterbeglöckchen läuten will, das soll mir mal jemand erklären. Logisch ist das nicht.

Wir sind angetreten für einen Politikwechsel und nicht nur für einen Regierungswechsel. Und ich frage, hat sich die Politik in diesem Land durch uns nicht verändert, hat sie sich nicht geöffnet?

Hätte die FDP eine Seele, sie würde sie dem Teufel verkaufen, um an die Macht zu kommen, mit wem auch immer. Das ist Machtopportunismus in Reinkultur.

Für uns war und ist eine Koalition kein Selbstzweck, sondern natürlich verbinden wir sie mit unseren politischen Ziele. Und genauso wenig ist für mich die Opposition ein Tabu. Ganz im Gegenteil. Sie hat eine zentrale Funktion und die Grünen haben erfolgreiche Oppositionsarbeit geleistet. Aber bitte lasst uns sehr genau fragen, wo haben wir gestaltet, wo erreichen wir mehr und schneller unsere Ziele. Und was würde eine andere Regierungskonstellation für das bisher Erreichte und noch zu Erreichende bedeuten?

Politische Stärke setzt sich langfristig durch. Ich finde für die 6,7 % die wir in die Koalition einbringen, können wir eine Bilanz aufweisen, die deutlich besser ist als ihr Ruf.

  • wir, und nicht Frau Bergmann, haben das eigenständige Aufenthaltsrecht für ausländische Ehefrauen durchgesetzt
  • wir haben dafür gesorgt, dass bei häuslicher Gewalt jetzt Frauen und Kinder die Wohnung behalten können,
  • wir, und nicht Frau Däubler-Gmelin, hatten die nötige Power und Courage, Schwule und Lesben gleichzustellen und dieses Land damit demokratischer zu machen,
  • wir, und nicht Otto Schily, haben eine moderne Zuwanderungspolitik, die Einwanderung regelt, das Asylrecht sichert und Integration fördert durchgesetzt. Wir haben erreicht dass deutsche Innenpolitik endlich glaubwürdig wird, wenn geschlechtsspezifische und nichtstaatliche Verfolgung anerkannt werden
  • wir, und nicht Otto Schily, werden die unsinnigen Pläne der Union verhindern, die Bundeswehr im Inland einzusetzen und die innere Sicherheit zu militarisieren.

Und liebe Freundinnen und Freunde, sind wir nicht stark dort, wo es unsere ureigensten Themen berührt und wo wir selbst das Heft in der Hand haben.

  • Ich fühle mich sicherer in unsicheren Zeiten, weil ich weiß, dass für Jürgen Trittin AKW’s kein Restrisiko sind, sondern eine nicht beherrschbare Gefährdung, die es so schnell wie möglich abzuschalten gilt.
  • Das Bundesnaturschutzgesetz, an dem bisher alle Umweltminister gescheitert sind, jetzt haben wir es erreicht
  • Der Einstieg in erneuerbare Energien ist überall auf Dächern und freien Feldern zu sehen. Deutschland produziert in der Zwischenzeit ein Drittel aller Windenergie weltweit.
  • und ohne Jürgen wäre der Kyoto-Prozess in Bonn gescheitert.

Mit Agrarpolitik kann man keinen Blumentopf und keine Wähler gewinnen? Falsch – Renate beweist das Gegenteil und macht Verbraucherpolitik zum neuen Thema und Ökolandwirtschaft zur Mainstream-Bewegung.

Entwicklungspolitik wurde marginalisiert. Jetzt, seit Seattle und dem 11. September gibt es in der EU einen Konsens, die Entwicklungshilfe auf 0,7 % des BSP anzuheben, auch für die Tobin-Steuer gibt es plötzlich Zustimmungen aus vielen Lagern. Viele unserer Forderungen, wegen denen wir verlacht wurden, werden nun als Lösung erkannt, wie der Beschluß, dass die WTO sich künftig mit sozialen und ökologischen Standards und globalen Umweltabkommen beschäftigen soll.

Wir sollten wirklich nicht so bescheiden sein, wenn es um eigene Erfolge geht – nichts schönreden aber auch nichts wegreden.

Die PazifistInnen und die ChristInnen, die RadikalökologInnen und die Marktwirtschaftlnnen, die AsylpolitikerInnen und die Gentechnikexperten,die Feministinnen - wir brauchen sie alle in unserer Partei, streitbar und offen, denn sie halten uns lebendig sie schärfen unser Profil, so unterscheiden wir uns von anderen Parteien, so sind wir zukunftsfähig.

Denen, die uns vielleicht wegen der Abstimmung am 16. November verlassen wollen, will ich sagen: Gebt nicht auf! Hofft nicht auf eine bessere grüne Partei, als wir es zusammen sind. Der Klimawandel wird nicht warten, bis ihr sie gegründet, über die 5 %-Hürde und in die Regierung gebracht habt. Bleibt! Und sucht Mitstreiter, damit wir in der nächsten Koalition mehr Verhandlungsmacht haben als in dieser.

Wer heute sagt, "wir brauchen die Pazifisten nicht mehr in der Partei, sie stören nur", der hat nicht begriffen, wie Seattle, wie der 11. September und wie der 16. November die Politik verändert haben. Wir brauchen die Pazifisten heute und morgen erst recht. Denn die globale Unordnung ist zu groß, als dass die Welt sie mit militärischen Mitteln bekämpfen könnte. Krisenprävention und Mediation werden künftig immer wichtiger werden.

Bisher steht nicht fest, ob das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der UNO, ein Jahrhundert des Klimaschutzes und ein Jahrhundert der ökologischen und sozialen Zivilisierung des globalen Wettbewerbs wird. Wir sind jetzt kurz vor der nicht mehr rückholbaren Weichenstellung. Ist es nicht wichtig, dasswir gerade jetzt so viel Einfluss wie möglich behalten. Denn fest steht:

  • Der Klimawandel hat begonnen.
  • Wir haben schon jetzt mehr Umwelt- als Kriegsflüchtlinge.
  • Globalisierung zu zähmen und globale Gerechtigkeit herzustellen ist auch Prävention gegen den internationalen Terrorismus, denn die Frucht der Gerechtigkeit ist der Frieden

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir sind eine starke Partei gerade weil wir bisweilen uneinig aber für das gemeinsame Ziel kompromissfähig sind. Wir müssen diesen Reichtum bewahren, um stark zu bleiben. Deshalb wünsche ich uns allen einen Parteitag, der deutlich macht, dass wir Streit in der Sache und Respekt vor Andersdenkenden als politische Kultur ganz bewusst pflegen. Das ist eine der Stärken, die wir anderen Parteien voraus haben.

 

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Quelle: Rede der Parteivorsitzenden Roth auf der 17. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz vom 24.11.2001, in: Homepage von Bündnis 90/Die Grünen [Hrsg.], URL: http://www.gruene.de/aktuell/bdk/rostock/reden/Rede_EroeffnungBDK_ClaudiaRoth.htm, Stand: 25.11.2001


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Claudia Roth zur Eröffnung der 17. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock (24.11.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_roth-parteitag_1124.html, Stand: aktuelles Datum.


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