Rede des Bundesverteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD) zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus

vom 8. November 2001


Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung [SPD]:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In mehreren sicherheits- und außenpolitischen Debatten in diesem Parlament hat eine Erkenntnis eine Rolle gespielt, die auch heute wichtig ist: Allein, also für sich, können Staaten ihre Sicherheit wenn überhaupt, dann nur schwer gewährleisten; sie sind auf Zusammenarbeit angewiesen. Zusammenarbeit ist nicht nur wegen der Bedrohung in Form eines zwischenstaatlichen Krieges - diese Wahrscheinlichkeit ist sehr gering geworden - erforderlich, sondern auch, weil Zusammenarbeit zur Gewährleistung gemeinsamer Sicherheit die unabdingbare Voraussetzung für den Schutz vor asymmetrischen Bedrohungen ist. Es geht beispielsweise um Bedrohungen, die zwar nicht unmittelbar von Staaten ausgehen, aber möglicherweise von ihnen unterstützt werden. Das kann der Fall bei terroristischen Bedrohungen sein.

Ich muss offen sagen: Bestimmte Teile der Debatte sind in meinen Augen zu sehr innenpolitisch motiviert. Wir haben es mit einer ernsten, den Weltfrieden und die globale Stabilität herausfordernden Bedrohung zu tun. Wir haben es mit einer Bedrohung zu tun, die auf das Erzeugen von Angst und Unsicherheit in den westlichen, den offenen, den freiheitlichen Gesellschaften zielt. Wir haben es mit einer Bedrohung zu tun, die über diesen Weg zugleich die Stabilität der arabischen, islamisch geprägten Gesellschaften und Staaten in Gefahr bringen will.

Es ist deshalb wichtig - allerdings ist es erstaunlich, dass dieser Gesichtspunkt bei unseren Erwägungen hier kaum eine Rolle spielt -, dass die arabische Welt in dieser sehr herausfordernden, schwierigen und mit schwerwiegenden Entscheidungen verbundenen Situation ausdrücklich gesagt hat: Weder die Taliban noch Osama Bin Laden können sich auf den Islam berufen. Die islamischen Staaten verurteilen den Terrorismus und engagieren sich genauso - übrigens aus wohl erwogenen eigenen Interessen - gegen diese Entwicklung im Rahmen einer internationalen Koalition.

Wenn es stimmt, dass man sich gegen Bedrohungen dieser Art besser und erfolgversprechender gemeinsam wehren kann, dann wird deutlich, worin unsere Interessen und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen bestehen. Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Freiheit und der Sicherheit offener Gesellschaften, demokratischer Rechtsstaaten im Innern, und der Gewährleistung ihrer äußeren Sicherheit.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!)

Vor diesem Hintergrund beantwortet sich nicht nur die Frage, ob wir die Vereinigten Staaten aus Gründen der Solidarität, der historischen Dankbarkeit oder aus anderen Gründen unterstützen. Nein, es geht um viel mehr: Es geht um unser eigenes Interesse an der Bewahrung der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der demokratischen Substanz der eigenen Gesellschaft. Wir müssen uns gegen terroristische Bestrebungen wehren und dürfen nicht in die Gefahr kommen, zum Spielball von Entscheidungen zu werden, die nicht wir, sondern die terroristischen Organisationen - Gewissenlose und zum Teil scheinbar Verrückte - treffen; denn anders kann man das, was Herr Bin Laden gegenüber den Vereinten Nationen, dem Generalsekretär und den Führungen arabischer und islamisch geprägter Staaten gesagt hat, nicht qualifizieren.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn das unter uns klar ist, können wir die Frage stellen, ob wir das Richtige tun. Wenn wir allerdings unseren Bürgerinnen und Bürgern signalisieren würden, dass das richtige Tun ausschließlich aus Militärischem bestünde, begingen wir einen schweren Fehler.

Wie wir alle wissen, ist das Handeln mehrdimensional. Es bezieht Fragen der inneren Sicherheit, der Finanzquellen, der Ausbildung, der Organisationsstruktur und vor allen Dingen weit reichende außen- und sicherheitspolitische Bemühungen ein. Es bezieht den Versuch ein, die Nachbarstaaten zu stabilisieren und regionale Konflikte, zum Beispiel in Kaschmir, im Nahen Osten und andernorts, die eine explosive Kraft entfalten können, einzudämmen. Auf all das - das wird oft genug übersehen - nehmen die militärischen Maßnahmen, die heute durchgeführt werden, nicht nur Rücksicht, sondern sie folgen diesen politischen Zielen. Anders könnte man - um es mit einem scheinbar technischen Detail zu untermauern - nicht erklären, dass während des Krieges gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits pro Tag 1500 bis 2000 und während des Krieges im Kosovo pro Tag 250 bis 300 militärische Einsätze geflogen wurden, jetzt aber - stark limitiert - nur etwa 100 pro Tag.

Wer in der deutschen Öffentlichkeit entweder behauptet oder die Behauptung verbreitet, es gebe Flächenbombardements und einen sinnlosen, überbordenden und überschießenden Einsatz militärischer Mittel, der versteht entweder die Fakten nicht bzw. will sie nicht verstehen oder er hat ein anderes Interesse.

Dann kann man die Frage stellen, ob die militärischen Maßnahmen und deren Unterstützung durch Bereitstellung von Fähigkeiten der Bundesrepublik Deutschland diesen Zielen gerecht werden. Diese Frage kann man von zwei Seiten her beantworten. Die eine Frage lautet: Was geschieht, wenn nichts geschieht und wir uns nicht beteiligen? - Wir werden zum Spielball des Terrors. Wir verlieren unsere Fähigkeit, Amerika zu beeinflussen und eine auf multilaterale Verantwortung und gemeinsames Vorgehen abzielende Politik durchzusetzen. Wir verspielen unsere eigenen Möglichkeiten in der NATO. Wir sondern uns von den europäischen Staaten, von Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, Tschechien und Polen, ab. Wir verlieren unseren Einfluss bei der Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Hier steht nicht nur der Erfolg des Kampfes gegen den Terrorismus auf dem Spiel, sondern hier steht auch die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in einer sich entwickelnden, auf multilateraler Verantwortung beruhenden Politik innerhalb der NATO und der Europäischen Union zur Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die zweite Frage lautet: Wen ermutigen wir, wenn wir nicht zum Erfolg dieses Ringens beitragen? Was wird in den arabischen und den islamisch geprägten Gesellschaften los sein, wenn sich der Eindruck verfestigt, wir seien nicht tapfer und standhaft genug, um dieses Ringen zu einem erfolgreichen Ende zu führen? Die Ermutigung des Terrorismus und von Radikalismen, die daraus erwachsen würden, würde unabsehbare Folgen für Freiheitlichkeit, das Maß an Offenheit und die demokratische Natur unserer Gesellschaften haben. Wir sollten uns da nichts vormachen.

Im Lichte all dieser Fragen will ich hinsichtlich der Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland sagen: Der Antrag der Bundesregierung folgt nicht nur, sondern er geht weit über das Maß an Präzisionen hinaus, welches das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. Juli 1994 verlangt hat. Dort steht:
Der der Regierung von der Verfassung für außen politisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit wird durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Einsätze, die notwendige Koordination in und mit Organen internationaler Organisationen.


Präsident Wolfgang Thierse: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer von der FDP?


Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung: Im Augenblick nicht. Ich bitte dafür um Verständnis. - Wenn man diese Passage des Urteils zugrunde legt, dann wird leichter deutlich, worin unsere Fähigkeiten bestehen: Sie sind im Wesentlichen defensiv und werden im Wesentlichen in Deutschland bereitgestellt.

Sie, Herr Kollege Westerwelle, wissen hinsichtlich der Frage der Koordination in und mit Organen internationaler Organisationen, im Fall der NATO auch mit Bündnispartnern so gut wie ich: Wenn ein Bündnispartner seine Anforderungen als geheim einstuft, ist allein er in der Lage, diese Einstufung zu verändern. Wir können das nicht. Das wissen Sie so gut wie ich.

Der Zweifel, der gesät werden soll, hat eine innenpolitische Intention, hat darüber hinaus aber auch eine außenpolitische Wirkung. Wenn es von einem amerikanischen Regierungsmitglied eine missverständliche Formulierung gegeben hat, dann darf das nicht dazu führen, dass wir in Deutschland plötzlich beginnen, klein karierte Debatten darüber zu führen, welche Anforderungen in welcher Form vorliegen. Jeder von uns, jeder, der an solchen Prozessen beteiligt ist, weiß doch, dass Anforderungen - das ist völlig normal - auf operative Kategorien umgerechnet werden können.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Geheimnisse ausplaudern!)


Präsident Wolfgang Thierse: Herr Minister, Sie müssen zum Ende kommen. Ihre Redezeit ist überschritten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident, meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Die Fähigkeiten, die bereitgestellt werden sollen, können zum Teil sehr schnell verfügbar gemacht werden. Das betrifft die medizinische Evakuierung und den Lufttransport. Sie bedürfen zum Teil einer sehr sorgfältigen Vorbereitung und auch - das betrifft beispielsweise Spezialkräfte - gemeinsamer Ausbildung.

Meine dringende Bitte ist, dass wir im Parlament und in der Regierung uns auch angesichts des einen oder anderen spekulativen Berichts nicht selber in Hektik versetzen und uns zu Spekulationen verleiten lassen, die einer nüchternen, abwägenden und verantwortungsbewussten Entscheidung alles andere als förderlich sind.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

 

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Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 198. Sitzung vom 08.11.2001 (Plenarprotokoll 14/198).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des Bundesverteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD) zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus (08.11.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_scharping_1108.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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