Beschluss des 28. Ordentlichen Parteirats von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zur Bereitstellung deutscher bewaffneter Kräfte im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus
vom 12. November 2001
(1) Dem Bundestag liegt ein Antrag der Bundesregierung vom 7.11.2001
vor, dem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA zuzustimmen. Die vom
Bundestag in Anerkennung seiner verfassungsrechtlich begründeten Verantwortung geforderte
Entscheidung ist für die deutsche Außen- und Innenpolitik von außerordentlich großer
Bedeutung. Es handelt sich um eine Entscheidung, von der im jedem Fall weit reichende und
langfristig wirksame Folgen ausgehen werden. Von dieser Entscheidung berührt sind
entscheidende Grundsatzpositionen einer jeden politischen Partei wie auch persönliche
Gewissensfragen.
(2) Für Bündnis 90/Die Grünen stellt sich diese Entscheidung als die schwierigste dar,
vor der unsere Partei jemals stand. Bündnis 90/Die Grünen sind von ihrer Herkunft, ihrem
Selbstverständnis, ihrem Einsatz für Gewaltprävention und für die Schaffung einer
Politik der Gewaltfreiheit her eine Anti-Kriegs-Partei, eine Partei, in der sich deshalb
auch viele Pazifistinnen und Pazifisten organisiert haben. Wir haben uns nach den
schrecklichen Terrorattentaten in den USA zum individuellen und kollektiven
Selbstverteidigungsrecht der USA bekannt. Wir haben beim Länderrat am 6. Oktober 2001
unsere grundsätzliche Bereitschaft zu praktischer Solidarität erklärt, die unter
bestimmten Bedingungen auch militärische Mittel einschließen kann. Ganz ähnlich haben
die Initiatorinnen des Berliner Aufrufs
argumentiert, den inzwischen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter unserer Partei
unterzeichnet haben. Bei vielen unserer Mitglieder und Anhänger, aber auch bei
erheblichen Teilen der Bevölkerung stößt die geplante Bereitstellung von
Bundeswehrkräften auf Widerspruch.
(3) Aus unserer Mitgliedschaft, unserer Wählerschaft und weit darüber hinaus sehen wir
uns mit ganz widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert. Einerseits gibt es die Forderung
Nein zu sagen zu militärischer Eskalation, Nein zu einer bedingungslosen Loyalität
gegenüber den USA, die in Abenteurertum münden könnte, Nein zu all dem, was wegen
Überbetonung des Militärischen letztlich sogar auf ein Scheitern der Koalition gegen den
Terror hinaus zu laufen droht. Andererseits halten viele Grüne den Einsatz militärischer
Mittel im Kampf gegen den internationalen Terrorismus für notwendig. Es gibt überdies
die Erwartung, daß wir in der Bundesregierung gestaltenden Einfluß nehmen, daß vor
allem Joschka Fischer seine Bemühungen um politische Lösungen im Sinne unserer grünen
Grundsätze fortsetzt, sei es im Nahen Osten, sei es zugunsten humanitärer Lösungen für
die afghanische Zivilbevölkerung, sei es zugunsten einer tragfähigen Friedenslösung in
der Nach-Taliban-Zeit.
(4) Für Bündnis 90/Die Grünen gibt es nur eine Möglichkeit, diesen Erwartungen gerecht
zu werden. Wir müssen den Spagat aushalten. Dies ist richtig, weil jede scheinbar
einfache Lösung des Widerspruchs in Wirklichkeit keine ist. Wir üben kritische
Solidarität statt bedingungsloser. Wir sagen klar Nein, wo dies erforderlich ist. So
nehmen wir unsere Verantwortung wahr. Ohne diese Selbständigkeit wäre die Rede von der
Verantwortung wie die von der Solidarität eine hohle Worthülse. Eine Partei muß auch in
Regierungsverantwortung die Zweifel, Unsicherheiten, Kritiken aussprechen und aufnehmen,
welche die Menschen bewegen. Andererseits gilt auch: Nur wenn wir unsere Möglichkeiten
zur Gestaltung nutzen, können wir wirksam für eine grüne politische Perspektive
streiten. Der Widerspruch, mit dem wir uns auseinandersetzen, existiert in der Realität,
der sich leider die anderen Parteien größtenteils entziehen. Unsere Haltung der
kritischen Solidarität entspricht dieser widersprüchlichen Wirklichkeit. Auf ihrer
Grundlage kann es auch gelingen, zwischen den Gegensätzen Brücken zu bauen.
(5) Seit dem Beginn der Luftangriffe der USA und Großbritanniens in Afghanistan sind 5
Wochen vergangen. Die Informationslage ist unübersichtlich. Ausreichende und unabhängige
Informationen sind aber für eine offene demokratische Diskussion unverzichtbar. Die
Bilanz, die wir ziehen können, ist im Sinne der von uns beim Länderrat am 6. Oktober
formulierten Gesichtspunkte durchaus kritisch. - Ein klares politisches Konzept, in das
die militärischen Angriffe eingebettet wären, ist weitgehend nicht erkennbar. Erst
langsam entwickelt sich in der Frage einer breit getragenen Friedenslösung für die
Nach-Taliban-Zeit ein Konzept. Während die militärischen Aktionen ohne Zweifel
insgesamt durch die Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates 1368 und 1373 völkerrechtlich legitimiert
sind, kann der Einsatz sogenannter Streubomben, die nach Abwurf zum Teil als Minen am
Boden liegen bleiben und die durch internationale Konvention geächtet sind, in keiner
Weise gerechtfertigt werden. - Die Luftangriffe haben dazu beigetragen, die humanitäre
Situation, die schon vorher katastrophal war, zu verschlechtern. Darüber herrscht unter
Hilfsorganisationen weithin Einverständnis, selbst wenn es unterschiedliche Vorschläge
gibt, wie die humanitäre Situation jetzt am wirksamsten verbessert werden kann. Die
Luftangriffe haben zu einer wachsenden Zahl ziviler Opfer geführt. Auf jeden Fall muß
die Eroberung von Masar-i-Sharif jetzt dringend genutzt werden, um für den darüber
erreichbaren Teil Afghanistans durchgreifende Verbesserungen der Versorgung von
Flüchtlingen und Zivilbevölkerung zu bringen. - Die Sorge, daß es durch Eskalation zu
einem "Kampf der Kulturen" kommen könnte, ist nach wie vor akut. Zwar sind
bisher keine schwerwiegenden Verwerfungen in den islamischen Ländern erkennbar. Aber
andererseits wächst nach Berichten in vielen Ländern zumal unter Jugendlichen die
Resonanz für islamistische Propaganda. Diese Tendenz könnte sich enorm beschleunigen,
wenn es während des Ramadan nicht zu einer Bombenpause kommt.
(6) Angesichts einer solchen Zwischenbilanz kommen wir zu dem Ergebnis, daß neben Kritik
am US-geführten Vorgehen auch massive politische Einflußnahme erforderlich ist, um
Veränderungen zu erreichen. An zentraler Stelle steht für uns die Situation der
Flüchtlinge und der Zivilbevölkerung. Die Koalition gegen den Terror muß auch eine
Koalition für Humanität sein. Darauf hat UNO-Generalsekretär Kofi Annan bereits bei der
Eröffnung der UNO-Generalversammlung hingewiesen. Wir fordern mit ihm, daß gerade jetzt
im Winter die humanitäre Situation in den Mittelpunkt der Überlegungen zum weiteren
Vorgehen rückt. Neben der Lebensmittelhilfe geht es besonders um die Versorgung mit
Saatgut. Am wirksamsten ist die Hilfe über den Landweg. Da wir wollen, daß die
Nachbarländer Afghanistans ihre Grenzen für Flüchtlinge öffnen, müssen sie dabei auch
von der Weltgemeinschaft massiv unterstützt werden. Wir begrüßen, daß die
Bundesregierung bei der humanitären Hilfe besondere Anstrengungen unternimmt, wie die
Versorgung der notleidenden Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten, die
Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten nach Afghanistan sowie die Errichtung und
Ausstattung von Flüchtlingslagern in Pakistan und an der Grenze zum Iran.
(7) Für die langfristige politische Perspektive ist die Stabilisierung der globalen
Anti-Terror-Koalition elementar. Dies muß auf vielen Ebenen geschehen. Wir erwarten, daß
die europäischen Länder dafür noch mehr gemeinsam ihr Gewicht in die Waagschale werfen.
Wenn die Staatsoberhäupter zahlreicher Länder mit islamischer Bevölkerungsmehrheit, die
mit ihrer Beteiligung an dieser Koalition erheblich größere Risiken eingehen als wir,
eine Aussetzung der Luftangriffe im Ramadan verlangen, sollte das respektiert werden. Dies
wäre ein sichtbares politisches Zeichen. Eine Aussetzung der Bombenangriffe im Ramadan
könnte auch dazu beitragen, die humanitäre Situation zu erleichtern.
(8) Eine Forderung, jetzt jegliches militärische Vorgehen gegen den internationalen
Terrorismus einzustellen, hielten wir dagegen für falsch. Denn bei aller Kritik ist klar,
daß die USA bei ihrem Vorgehen sich zulässig auf ihr Recht auf Selbstverteidigung
berufen. Sie verdienen unsere Solidarität, denn sie wurden massiv angegriffen. Die
terroristische Bedrohung der USA und anderer Staaten, auch der Bundesrepublik, hat mit dem
11.9.2001 nicht aufgehört, sondern hält leider an. Wir stehen in der Verantwortung,
bestmöglich für den Schutz der Bevölkerung, der internationalen Sicherheit und den
Frieden sowie den Erhalt der offenen Gesellschaft zu sorgen. Dieses kann nur in
internationaler Kooperation gelingen. Es wird nicht nur und nicht einmal überwiegend
militärisch zu erreichen sein. Es bedarf massiver politischer, wirtschaftlicher und
humanitärer Anstrengungen.
(9) Wir müssen zur Kenntnis und ernst nehmen, daß transnationaler Terrorismus zu einer
der gefährlichsten aktuellen Bedrohungen für die nationale und internationale Sicherheit
und für den Weltfrieden geworden ist. Mit seinen professionellen Fähigkeiten und
Methoden zielt er auf maximale Zerstörung und Vernichtung, politisch-psychologische
Destabilisierung offener und verwundbarer Gesellschaften und auf die Provokation eines
globalen "Kampfes der Kulturen". Diese andauernde Bedrohung verpflichtet die
Staaten über die Verfolgung der Hintermänner des 11. September hinaus zu umfassender und
akuter Gefahrenabwehr. Wir sind hier mit einer Art Gewaltbedrohung konfrontiert, die mit
Dialog und Prävention wohl eingegrenzt werden muß, der aber ohne Repression und Gewalt
nicht beizukommen ist.
(10) In dieser Situation nun über den Antrag
der Bundesregierung vom 7. November zu entscheiden, heißt für unsere Partei, daß
eine gewissenhafte und vom Gewissen gebundene Entscheidung zu unterschiedlichen Resultaten
führen kann. Wir werben dafür und bitten die grünen Abgeordneten des Bundestages, so zu
entscheiden, daß es gelingt, der Komplexität gerecht zu werden, und nicht mit
vermeintlich konsequenten Antworten Vereinfachung zu betreiben, die danach auf beiden
Seiten nicht trägt. Ebenso wie unsere Partei sich dafür engagiert, im Kampf gegen den
Terrorismus militärfixierte Sackgassen zu vermeiden, den Gefahren der Eskalation entgegen
zu treten und gegen falsche Entscheidungen deutlich Nein zu sagen, um damit so gut wir
können Einfluß zu nehmen, sollen auch unsere Regierungsmitglieder und unsere
Abgeordneten ihre Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Es geht darum, die militärische
Beteiligung Deutschlands, die es geben wird, so zu bestimmen, daß sie verantwortbar ist
und sie in einen entsprechenden politischen Rahmen einzubetten. Dafür sind an dem Mandat,
das die Bundesregierung anstrebt, Konkretisierungen, Veränderungen und Präzisierungen
unverzichtbar. Dafür sind weitere Initiativen der deutschen Außenpolitik nötig.
(11) Der Vorschlag der Bundesregierung
schließt sowohl den Einsatz von Bodentruppen wie die Beteiligung der Bundeswehr an
Luftangriffen aus. Er hat eine eindeutige völkerrechtliche Grundlage im Artikel 51 der UN-Charta
und stützt sich auf die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates, wie in den Resolutionen 1368 und 1373 niedergelegt. Der Einsatz
von Sanitätskräften zur Rettung verwundeter Zivilisten und Soldaten, von
Lufttransporteinheiten zum Transport ziviler Hilfsgüter und militärischer Geräte, von
Fuchs-Spürpanzern zum defensiven Aufspüren von ABC-Waffen, von Marineeinheiten zum
Schutz ziviler Seeschifffahrt am Horn von Afrika und von 100 Mann Spezialkräften, die
polizeiähnliche Zugriffe ausführen können, um identifizierte mutmaßliche Täter
dingfest zu machen und vor Gericht zu bringen, entspricht grundsätzlich unseren
Kriterien. Bis auf die Spezialkräfte geht es um Defensiv- und Schutzfähigkeiten. Das im Antrag der Bundesregierung angestrebte
Mandat ist allerdings nur dann akzeptabel, wenn die Bundesregierung vor einer
Verabschiedung folgende Punkte präzisiert und klarstellt:
- Es muß klargestellt werden, daß die deutschen Einheiten ausschließlich gegen Al
Quaida und deren Unterstützer eingesetzt werden. Auch ist klarzustellen, daß die
Spezialkräfte ausschließlich quasi polizeilich-militärische Aufgaben haben.
- Das Einsatzgebiet der deutschen Einheiten ist genauer zu fassen. Durch eine Bestimmung
in Ziffer 7 des Antrages ist z.B. ein Einsatz deutscher
Soldaten gegen den Irak ausgeschlossen. Zusätzlich muß ausgeschlossen werden, daß ohne
eigene Befassung des Bundestages deutsche bewaffnete Streitkräfte in Länder, in denen es
keine Regierung gibt, entsandt werden.
- Eine wesentliche Veränderung in der Zusammensetzung der entsandten Streitkräfte darf
nicht ohne Beteiligung des Bundestages vorgenommen werden.
- die Bundesregierung muss den Bundestag jederzeit umfassend über den Einsatz
unterrichten, damit dieser sein verfassungsmäßiges Recht zur Selbstbefassung mit der
Frage der weiteren Mandatsgestaltung wirksam ausüben kann.
(12) Unter den eigenständigen politischen Initiativen der Bundesregierung, auch
gegenüber den USA, steht für uns die Aufwertung der Rolle internationaler Organisationen
oben an. Wir halten mehr gemeinsames Vorgehen der EU-Mitglieder für unverzichtbar. Den VN
kommt sowohl für die Beurteilung des Verlaufes der militärischen Operationen nach
Artikel 51 wie für die Zeit danach eine
große Bedeutung zu. Sie können diese nur wahrnehmen, wenn die Mitgliedsstaaten sie dazu
in die Lage versetzen. Wir setzen uns dafür ein, daß der UNO-Sicherheitsrat in
regelmäßigen Abständen eine Bewertung der Angemessenheit des militärischen Vorgehens
abgibt. Jeglicher Einsatz von Massenvernichtungswaffen muß, wie es im Berliner Aufruf gefordert wird, ausgeschlossen
bleiben. In Europa herrscht breite Übereinstimmung, daß eine Ausweitung der
militärischen Auseinandersetzungen etwa auf den Irak außerordentlich verheerend wäre.
Deshalb begrüßen wir es, daß sich die Bundesregierung hiergegen weiterhin klar
einsetzt. Die Hilfe der UNO beim Wiederaufbau Afghanistans in der Nach-Taliban-Zeit muß
bereits jetzt vorbereitet werden. Wir fordern die Bundesregierung auch dazu auf, zusammen
mit den europäischen Partnern nachdrücklich für die Ratifizierung des Internationalen
Strafgerichtshofes auch durch die USA einzutreten.
(13) 815 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Davon leben 70% in ländlichen Räumen,
wo Hunger und die fehlende Möglichkeit Ernährung zu sichern insbesondere die Frauen
treffen. Auch die Bekämpfung von Hunger und Armut braucht ein international gemeinsames
Vorgehen. Hier einen Schwerpunkt zu setzen heißt endlich präventiv und nachhaltig gegen
Hunger zu kämpfen. Wir wollen eine massive Kehrtwende in der Entwicklungspolitik jetzt
einleiten. Dabei geht es um Mittelerhöhungen im dreistelligen
Millionenbereich. Wenn demnächst aus dem EU-Haushalt überschüssige Mittel
zurückfließen, wollen wir dieses Geld im wesentlichen für Ernährungssicherung in den
armen ländlichen Räumen weltweit verwenden; dazu ist die Zusammenarbeit mit der FAO
möglich und sinnvoll.
(14) In der Grundhaltung kritischer Solidarität empfehlen wir unter den oben genannten
Voraussetzungen die Zustimmung zum militärischen Beitrag der Bundesrepublik im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus. Wir respektieren diejenigen, die zu einem anderen
Ergebnis kommen.
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