Rede des Vorsitzenden der SPD-Fraktion Dr. Peter Struck zum Antrag der Bundesregierung auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA und zum Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes

vom 16. November 2001


Dr. Peter Struck (SPD) (von der SPD mit Beifall begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einige kurze Anmerkungen zu meinem Vorredner: Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, Herr Kollege Merz, wenn Sie im juristischen Studium etwas mehr aufgepasst hätten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ihre rechtliche Interpretation des Beschlusses des Deutschen Bundestages, die besagt, man könne diesen nie wieder zurückholen, ist falsch.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Der Bundestag kann jederzeit eine anders lautende Entscheidung treffen, entsprechende Mehrheitsverhältnisse vorausgesetzt. Das hätten Sie aber wirklich lernen müssen, Herr Kollege Merz. Ich weiß nicht, wer Ihnen das aufgeschrieben hat.

Zweite Bemerkung: Für meine Fraktion erkläre ich, dass wir uns sehr darüber freuen, dass die acht Shelter-Now-Mitarbeiter, darunter die vier deutschen, gesund an Leib und Leben in ihre Länder zurückkehren können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das dann allerdings innenpolitisch so zu kommentieren, wie Sie, Herr Kollege Merz, es getan haben, geht eindeutig über die normale politische Auseinandersetzung hinaus.

(Gernot Erler [SPD]: Schäbig!)

Dritte Bemerkung: Natürlich bedaure ich, dass eine Kollegin meiner Fraktion mir gestern erklärt hat, dass sie meiner Fraktion nicht mehr angehören wolle.[1]

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das hat Sie überrascht?)

Natürlich haben wir Gespräche mit ihr geführt, um sie von einem solchen Schritt abzuhalten. Aber ich respektiere diese Entscheidung der Kollegin Christa Lörcher und wehre mich gegen die Interpretation, die Sie hier gegeben haben. Sie, der Sie einen Mann in Ihren Reihen haben, der sich nach wie vor weigert, Kenntnisse von Schwarzgeld zu offenbaren, haben es gerade nötig!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nun aber zu den Ereignissen in Afghanistan: 23 Jahre Krieg könnten bald ein Ende haben. Der Sicherheitsrat hat bereits für die Zeit danach Vorsorge für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft getroffen. Jetzt geht es darum, meine Damen und Herren, international die Ordnung in dem geplagten Land zu sichern. Nach dem Bangen gibt es erste positive Zeichen.

Nicht mehr die Bombardierung der Talibanstellungen steht im Vordergrund, sondern die Befreiung der Städte von dem Schreckensregime. Die Kreise um Bin Laden werden enger. Die Festnahme dieses die Welt in Atem haltenden Fundamentalisten haben wir gewollt, als wir am 19. September hier die Unterstützung im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zugesagt haben. Alle müssen gestehen, dass wir diesem Ziel näher gekommen sind, auch durch Mittel, die viele nicht gutgeheißen haben, auch durch Mittel, die von den Demonstranten vor diesem Haus, denen ich das Recht zu demonstrieren überhaupt nicht abstreiten will, infrage gestellt worden sind. Die amerikanischen Bombardierungen haben viele Menschen in unserem Land erschrocken abgelehnt. Viele von uns haben ebenfalls ihre Bedenken zum Ausdruck gebracht. In meiner Fraktion ist Stunde um Stunde debattiert worden, ohne dass eine Alternative zu dem Vorgehen der Amerikaner sichtbar geworden wäre.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir alle sind erleichtert, wenn sich die jetzige Phase - das ist offensichtlich der Fall - ihrem Ende zuneigt. Aber eines ist völlig klar: Der Kampf gegen den Terror ist damit nicht beendet. Noch ist Bin Laden frei und sein Schreckensnetz weit verzweigt. Seine Drohung, weitere Terrorakte zu verüben, bleibt bestehen. Wir haben den Atem angehalten, als am vergangenen Montag erneut ein Flugzeug in New York abstürzte, weil wir die Befürchtung hatten, der Absturz könne mit einem Terroranschlag in Verbindung gebracht werden.

Am 11. September und danach haben wir gesagt: Es geht bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht nur um die Solidarität mit den USA. Vielmehr sei es originäres Eigeninteresse, den Terrorismus in einer internationalen Koalition zu bekämpfen. Das, was vor zwei Monaten richtig war, ist heute nicht falsch. Es bleibt bei dieser Entscheidung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben am 19. September hier in großer Übereinstimmung unsere Unterstützung auf politischer und humanitärer Ebene, aber auch im militärischen Bereich zugesagt. Die politischen Bemühungen der Bundesregierung sind für niemanden zu übersehen. Die Anstrengungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer werden im Lande, aber auch bei unseren Partnern und in den Vereinten Nationen gelobt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei den humanitären Hilfen für Afghanistan und Pakistan sind die deutschen Leistungen vorbildlich. Mit rund 150 Millionen DM helfen wir den Menschen in beiden Ländern, vor allem den Flüchtlingen. Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, für den Wiederaufbau Afghanistans weitere Mittel zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben niemals, an keiner Stelle, einen Zweifel daran gelassen, dass die politische Vorbereitung des Post-Taliban-Prozesses und die humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge wenigstens gleichrangig neben der militärischen Bekämpfung des Talibanregimes stehen muss und auch in Zukunft stehen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben aber am 19. September neben den politischen Maßnahmen auch beschlossen, dass militärische Fähigkeiten eingesetzt werden können. Über diese Maßnahmen, so lautet unser Beschluss, ist nach Kenntnis der amerikanischen Unterstützungswünsche in eigener Verantwortung und gemäß der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entscheiden. Genau darum geht es heute. Es geht darum, dass der Bundestag der Bundesregierung erneut die Unterstützung gibt, die er längst zugesagt hat. Wer am 19. September zugestimmt hat, aber heute ausschert, der hat ein Glaubwürdigkeitsproblem.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Denn Art und Umfang des jetzt zugesagten militärischen Beistandes sind bei allen generellen Bedenken gegen militärische Einsätze verantwortbar und leistbar.

Ich möchte auf die einzelnen militärischen Maßnahmen eingehen, auch im Hinblick auf die Aufforderung, wir sollten nicht in den Krieg ziehen, die von sicherlich ernst zu nehmenden Intellektuellen in großen Illustrierten erhoben worden ist.

Erstens. Wer will denn ernsthaft widersprechen, wenn Deutschland Sanitätskräfte vor allem zur Evakuierung und Rettung von verwundeten Zivilisten oder Soldaten bereitstellt?

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zweitens. Wer kann Bedenken haben, wenn Deutschland Lufttransportmittel für Personen und militärisches Gerät, aber auch für zivile Hilfsgüter bereitstellt?

Drittens. Wer kann etwas dagegen haben, dass Deutschland sein anerkanntes Know-how zur Aufspürung von ABC-Gefahren anbietet? Die Milzbrandattentate in den USA, von wem auch immer sie verübt wurden, zeigen doch, dass der Gebrauch von biologischen und chemischen Waffen eine reale Gefahr ist. Für den Fall einer solchen Verseuchung werden Spürpanzer und ABC-Schutzkräfte bereitgestellt - in der Hoffnung, dass sie niemals zum Einsatz kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Viertens. Was soll daran kriegerisch sein, dass Marinekräfte helfen, die zivile Seefahrt an der arabischen Halbinsel zu sichern, um Öl- und Gastanker vor terroristischen Attentaten zu sichern? Dass es nach entsprechenden Drohungen Anlass zur Vorsorge gibt, hat der Angriff auf ein Schiff in der Region in den letzten Wochen bewiesen.

Bleibt als letzte und fünfte Maßnahme die Bereitstellung von 100 Spezialkräften, die mit polizeiähnlichen Zugriffsmöglichkeiten besonders geeignet sind, identifizierte Terroristen oder Talibanverbrecher in Afghanistan dingfest zu machen.

Über jeden einzelnen Einsatz entscheidet die Bundesregierung selbst. Das Kommando liegt bei der Bundeswehr, sodass auf jeden Fall gesichert ist, dass diese Kräfte bei einem Einsatz nicht von außen in Abenteuer getrieben werden können. Die polizeiliche Arbeit dieser Kräfte hat sich im Übrigen, wie wir alle wissen, bei der Ergreifung und Festnahme von Kriegsverbrechern in Bosnien sehr bewährt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mancher Kriegsverbrecher stünde nicht in Den Haag vor Gericht, wenn es solche Kräfte, auch deutsche, nicht gegeben hätte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der PDS: Augenwischerei!)

Deshalb kann ich nach reiflichem Abwägen nicht erkennen, dass die Bereitstellung dieser militärischen Fähigkeiten ungebührlich, unmoralisch oder gar kriegstreibend wäre.

Wie mir geht es den allermeisten Mitgliedern meiner Fraktion. Niemand, der zustimmt, hat sich die Entscheidung leicht gemacht. Ich wehre mich ganz entschieden gegen die Sichtweise, dass nur diejenigen, die den Beschluss nicht mittragen wollen, ihr Gewissen befragt haben, dass Zustimmung eine leichte Übung, Ablehnung aber eine große Gewissensanstrengung ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Angebot der Bundesregierung zur Unterstützung der amerikanischen Partner ist maßvoll, besonnen und verantwortbar. Wer dieses Angebot ablehnt, muss sich fragen lassen, ob er verantwortungsvoll handelt. Das Paradoxe an der Entscheidungssituation ist: Was die Entwicklung in Afghanistan angeht, so kann das militärische Hilfsangebot eher nachrangig sein. Ich bin fast sicher, dass die Bundeswehr dort nur noch gebraucht wird, um mitzuhelfen, die humanitäre Versorgung zu organisieren. Wenn das von uns erbeten wird, ist sie in einem guten Einsatz.

Aber es geht bei dieser Frage um weit mehr als um die Bereitstellung von Soldaten. Es geht für Deutschland darum, dass seine Verlässlichkeit als Bündnispartner auf dem Spiel steht. Es geht darum, dass Deutschland bei einem Nein dieses Hauses aus der internationalen Antiterrorkoalition ausscheren müsste, dass Deutschland als NATO-Partner unglaubwürdig wäre und sich selbst isolieren würde. Niemand, weder die USA noch Großbritannien noch Frankreich oder andere EU-Partner, schon gar nicht ein Land wie Tschechien, das auch bereit ist, militärische Fähigkeiten bereitzustellen, würde Verständnis für eine Haltung unsererseits haben, die signalisiert: Macht ihr mal den Dreck mit der militärischen Bekämpfung von Taliban und Terror allein; wir stehen später mit Carepaketen da. Das kann nicht deutsche Politik sein, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht nicht nur um die Solidarität mit der NATO und mit der Europäischen Union, es geht auch um die Unterstützung von Positionen der Vereinten Nationen. Immer wieder haben die Vereinten Nationen darauf hingewiesen, dass es eine zivile Gesellschaft in Afghanistan erst geben kann, wenn das Talibanregime beseitigt ist. Vergeblich fordern die Vereinten Nationen seit Jahren von Afghanistan, das Gastrecht für Bin Laden aufzuheben. Ausdrücklich hat der Weltsicherheitsrat in der Resolution 1368 militärischen Operationen zur Zerstörung des Terrornetzwerks zugestimmt. Das ist genau die Grundlage, die wir für militärische Einsätze immer gewollt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich wäre es noch besser, wenn den Vereinten Nationen für solche Fälle eigene Truppen zur Verfügung ständen und wenn nationale Einsatzkräfte nicht mehr nötig wären. Aber wer daran arbeiten will, der darf sich nicht zurückziehen, sondern muss sich an den von den Vereinten Nationen skizzierten Aufgaben aktiv beteiligen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen, dass sich gerade jetzt bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zeigt, wie wichtig das Interesse der Weltgemeinschaft an der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Gemeinsam mit den europäischen Partnern und vielen anderen UN-Staaten hat sich die Bundesregierung mit großem Nachdruck für die Errichtung dieses internationalen Gerichtshofs eingesetzt. Wir unterstützen das und hoffen, dass die USA - auch angesichts der Anschläge von New York und Washington - ihre Bedenken überwinden werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Mit der Ablehnung einer vielleicht gar nicht mehr in Anspruch genommenen Bitte würden wir einen hohen Preis zahlen und dem Land auf unabsehbare Zeit Schaden zufügen. Dies darf kein Bundeskanzler zulassen. Er ist gewählt, um Schaden abzuwenden. Ein isoliertes Deutschland wäre ein schwerer Schaden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zur Vertrauensfrage!)

Deswegen brauchen der Bundeskanzler, der Außenminister und die Bundesregierung insgesamt in dieser Frage Klarheit. Deshalb ist es angemessen, dass Gerhard Schröder diese Frage mit der Frage nach dem Vertrauen zu ihm verbindet. Wer da von "Erpressung" redet,

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

der hat nicht verstanden, was außenpolitische Handlungsfähigkeit für unser Land bedeutet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jeder Kanzler hat sich in solch grundsätzlichen Fragen der Außenpolitik um eine möglichst breite Unterstützung des Hauses bemüht.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Humorist aus Uelzen!)

Ich erinnere an das zähe Ringen Adenauers um die Westbindung, an Willy Brandts Kämpfe um die Ostpolitik und an Helmut Schmidts Einsatz für den NATO-Doppelbeschluss.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Eine breite Mehrheit ist in solch grundsätzlichen Fragen wünschenswert; aber die eigene Mehrheit ist unerlässlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos [CDU/CSU]: Ausgerechnet Sie haben letzte Woche das Gegenteil gesagt, Sie und Herr Scharping!)

Es geht darum, dies festzustellen.

Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht des Kanzlers, sich dieser eigenen Mehrheit zu vergewissern. Keine Frage - ich will das gar nicht bestreiten -: Die Koalition ist in einer schwierigen Situation -

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Krise!)

dies deshalb, weil die einen mit ihrem Nein ihre Ablehnung der zu Ende gehenden Bombardierungen und die anderen mit ihrem Ja vor allem die Zustimmung zur Bündnissolidarität Deutschlands zum Ausdruck bringen wollen. Diese Solidarität ist zu wichtig, als dass es dem Kanzler oder seiner Fraktion gleich sein könnte, dass sie von einigen nicht so ganz wichtig genommen wird.

Die Bundesrepublik hat in mehr als 50 Jahren mit verschiedenen Regierungen und unterschiedlichen Koalitionskonstellationen gelebt. Aber sie hat nur leben und sich in Freiheit entfalten können, weil sie sich der Bündnissolidarität ihrer NATO-Partner als Konstante sicher sein durfte. Diese Konstante darf man nicht aufgeben, wenn erstmals von uns Solidarität eingefordert wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Erreichung dieses Ziels dient die Vertrauensfrage.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

Jeder muss sich bei seiner Entscheidung dessen bewusst sein. Natürlich muss er sich bewusst sein, dass er, wenn er mit Nein stimmt, nicht nur die Bündnissolidarität aufgibt, sondern das Regierungsbündnis gefährdet. Deshalb erkläre ich hier, dass alle Mitglieder der SPD-Fraktion heute mit Ja stimmen und dem Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen werden.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Erhard Eppler, nicht in Verdacht, ein Hurrapatriot zu sein,

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Machen Sie den nicht schlechter, als er ist!)

hat meiner Fraktion und der des Bündnisses 90/Die Grünen einen eindringlichen Brief geschrieben und bei aller Skepsis über das amerikanische Vorgehen in Afghanistan zur Zustimmung aufgefordert. Ich bitte alle, bei ihrer Entscheidung den letzten Satz des Briefes, ein Zitat Dietrich Bonhoeffers, zu berücksichtigen.

(Zuruf von der CDU/CSU: An uns hat er nicht geschrieben!)

Erhard Eppler hat es uns allen als Richtschnur für unsere Entscheidung am heutigen Tag ans Herz gelegt:
Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine künftige Generation weiterleben soll.

(Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Struck, Sie haben sich auf juristisches Glatteis begeben und sind wie üblich ausgerutscht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu der Frage des so genannten Rückholrechts muss etwas gesagt werden. Die Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr ist, wie auch das Bundesver fassungsgericht klargestellt hat, eine grundsätzliche exekutivische Angelegenheit, und das ist auch richtig so. Das bedeutet, dass die Zustimmung des Parlaments keine Initiativentscheidung ist, sondern nichts anderes als eine Entscheidung, das exekutivische Verhalten, die exekutivische Entscheidung zu legitimieren. Daraus ergibt sich, dass hier kein Rückholrecht besteht - vermutlich haben Sie Ihrer Fraktion dabei etwas Unrichtiges gesagt -

(Michael Glos [CDU/CSU]: Mit der Wahrheit hat er es nicht!)

im Sinne eines initiativen Tätigwerdens des Parlaments. Das ist der Grund, meine Damen und Herren, weshalb wir und der Vorsitzende unserer Fraktion sehr deutlich gemacht haben, dass die Bundesregierung selbst initiativ werden muss, dass es auch aus Respekt vor dem Parlament angeraten ist, diese Frage nach circa sechs Monaten auf Initiative der Regierung diesem Hohen Haus wieder vorzulegen.

Der Bundestag hat nur eine einzige Möglichkeit, selbst initiativ zu wer den; das ist - wenn Sie den juristischen Begriff verstehen, Herr Struck - die clausula rebus sic stantibus, wenn also die Grundlage der Zustimmung des Bundestages in evidenter Form verlassen worden ist. Das bedeutet wiederum, dass das Parlament dann natürlich seine eigene Zustimmung zurückziehen, verändern oder einschränken kann. Wenn Sie aber unter dem Stichwort der clausula rebus sic stantibus

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf von der SPD: Herr Professor!)

exekutivisches Verhalten hier kontrollieren wollen, dann gehen Sie einen gefährlichen Weg Ihrer eigenen Regierung gegenüber, einer Regierung, die das Vertrauen dieses Hauses in dieser Frage mit großer Mehrheit hätte bekommen können. Aber das haben Sie bekanntlich aus parteitaktischen, parteipolitischen Gründen verspielt.

Ich weise Sie noch einmal deutlich darauf hin: Sie haben hier versucht, die juristische Behauptung aufzustellen, dass es ein allgemeines Rückholrecht für dieses Haus gibt. Diese Aussage ist falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Struck, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.


Dr. Peter Struck (SPD): Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie sehr, aber ich finde, es war ein bisschen unangemessen, meine juristischen Qualitäten zu bewerten. Das gehört nicht in diese Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Sonst kann ich ja sagen: Sie sind Professor, ich bin promoviert, Herr Merz ist nicht promoviert. Wer hat denn dann wohl am meisten Recht?

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Scholz, um es kurz zu beantworten: Der ehemalige Verfassungsrichter Hans Hugo Klein, der heute mehrfach zitiert worden ist, hat genau zu diesem Thema Folgendes gesagt - jetzt zitiere ich wörtlich -:
Der Bundestag könnte jederzeit bestimmen, dass die Aktion einem Ende zuzuführen ist, etwa wenn die Opfer zu groß würden oder die Abgeordneten mehrheitlich zu der Überzeugung gelangten, dass das ganze Unternehmen keinen Sinn mehr macht.

Ich stelle hier fest, Herr Kollege Scholz, dass Ihre Rechtsauffassung nicht von dem ehemaligen Verfassungsrichter Hans Hugo Klein geteilt wird, der Mitglied Ihrer Fraktion war, und dass der Bundestag, wenn er denn will, natürlich jeder zeit eine Entscheidung über die Rückholung von Soldaten treffen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Dieses ist ja nicht das eigentliche Hauptproblem, das wir hier diskutieren. Es sollte aber festgehalten werden, dass selbstverständlich eine Bundesregierung, die von der Mehrheit des Parlaments gebeten wird, die Soldaten zurückzuholen, sie zurückholen würde. Der theoretische Popanz, den Sie hier auf bauen, ist doch absurd.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

 

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Anmerkung:
[1] Die Abgeordnete Christa Lörcher war am 15.11.2001 aus der SPD-Fraktion ausgetreten. Sie stimmte als fraktionslose Abgeordnete gegen den eingebrachten Antrag.


Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 202. Sitzung vom 16.11.2001 (Plenarprotokoll 14/202).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des Vorsitzenden der SPD-Fraktion Dr. Peter Struck zum Antrag der Bundesregierung auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA und zum Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes (16.11.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_struck_1116.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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