Rede der Abgeordneten Andrea Nahles (SPD) zum Antrag der
Bundesregierung auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA und zum Antrag des
Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes
vom 16. November 2001
Andrea Nahles (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn alle Abgeordneten in diesem Hohen
Hause heute wie eine Dampfwalze über eine so schwerwiegende Entscheidung gerollt wären,
wie Sie es, Herr Glos, eben empfohlen haben, dann
müsste es einem wirklich angst und bange in Deutschland werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang
Zöller [CDU/CSU]: Ha, ha!)
Ich halte für meine Fraktion fest: Die Befragung des eigenen Gewissens und das kritische
Hinterfragen von Sachentscheidungen sind keine Schwäche, ganz besonders dann nicht, wenn
es um das Leben von Menschen geht. Im Gegenteil: Dass viele Abgeordnete die Entscheidung
nicht auf die leichte Schulter genommen haben, ist ehrenwert und auch notwendig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Eine Kultur des Zweifelns, wie Willy Brandt es ausgedrückt hat, muss Raum haben. Auch das
gilt es mit der heutigen Entscheidung zu erhalten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich sage aber auch: Gewissen ist auch auf die Überprüfung mit Argumenten angewiesen.
Deswegen haben wir heute zwei Gewissensentscheidungen zu treffen. Die eine Frage ist: Wie
wichtig und wie wertvoll ist der Fortbestand der rot-grünen Regierungskoalition? Die
andere Frage lautet: Wie entscheiden wir uns hinsichtlich des Einsatzes der deutschen
Streitkräfte?
Ich möchte zur ersten Frage festhalten: Politik kennt kein Vakuum. Räumen wir das Feld,
unser Land durch Reformen zu erneuern, wird es andere Konstellationen geben, von denen wir
sicher sein können, dass sie nicht in unserem Sinne Politik machen werden. Es ist
keinesfalls allein die offensichtliche politische Alternativlosigkeit der rot-grünen
Koalition, die uns zusammenhält. Ich möchte an einigen Punkten deutlich machen, dass
hier ein ganzes Projekt auf dem Spiel steht.
Was bedeutet Rot-Grün für die heute 20-Jährigen? Es ist das erste Mal, dass sie nach 16
Jahren Regierung Kohl eine alternative Politik erleben können, die neue Chancen für sie
geschaffen hat. Hier nenne ich zum Beispiel die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit mit
dem erfolgreichen JUMP-Programm.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Längst hat diese Generation gemerkt, dass die Ideologie des Neoliberalismus, die Sie hier
vertreten, weltweit in eine Sackgasse führt. Das möchte ich unterstreichen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Lachen bei der FDP)
Was bedeutet Rot-Grün für die heute 30-Jährigen, also für die Menschen meiner
Generation? Wir wollen eine friedliche, demokratische Gesellschaft, und zwar nicht nur
für uns - mit diesem Gedanken sind wir groß geworden -, sondern für die ganze Welt. Wir
wollen Verständigung zwischen den Kulturen. Wir wollen eine Politik, die, zum Beispiel im
Klimaschutz, nachhaltig ist. Das alles ist heute aktueller denn je.
(Beifall bei der SPD)
Was bedeutet Rot-Grün für die Ostdeutschen? Die Ostdeutschen haben die
"Weiter-so-Republik" à la Kohl 1998 abgewählt, weil sie sich erhofft haben,
gemeinsam mit uns die zweite Hälfte des Weges zur inneren Einheit selbstbewusst gehen zu
können.
(Beifall bei der SPD)
Was bedeutet Rot-Grün den Bewegungen, die dieses Projekt begründet haben, wie die
Friedens-, Antiatomkraft-, Studenten- und Frauenbewegung? Mit dieser rot-grünen Regierung
haben all diese Bewegungen Gestaltungsmacht bekommen. Das wollen wir auch fortsetzen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen sagt mein Gewissen Ja zu Rot-Grün.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Frage nach der Rolle Deutschlands hat sich nach 1989 neu gestellt. Die Frage, in
welchem Rahmen wir als Mitglied der NATO bereit sind, Militäreinsätze mitzutragen, hat
uns ereilt, bevor wir eine Verständigung über neue Leitlinien der deutschen
Außenpolitik gefunden hatten, nämlich bei den Auseinandersetzungen auf dem Balkan.
Eine wesentliche Anforderung für die SPD wie auch für die Grünen war immer, dass bei
allen Militäreinsätzen das Völkerrecht eingehalten werden muss und dass die
Legitimation dieser Einsätze durch die Vereinten Nationen erfolgt. Dass der
Kosovo-Einsatz völkerrechtlich problematisch war, ist eine Hypothek, wodurch die
Entscheidungen in den letzten Monaten und Wochen für viele von uns nicht einfacher
geworden sind. Wir müssen das Völkerrecht angesichts der neuen Herausforderungen
weiterentwickeln. Solange das nicht geschehen ist, ist der UNO-Sicherheitsrat die
entscheidende Größe.
Der UNO-Sicherheitsrat hat jetzt, im Gegensatz zum Kosovo-Einsatz, den USA einstimmig das
Recht auf Selbstverteidigung zugebilligt. Ich habe mit Erstaunen festgestellt, dass dieser
Umstand in Teilen meiner Partei und der Bevölkerung nicht zur Kenntnis genommen wird. Aus
meiner Sicht kann man ein richtiges Argument nicht nur dann in Anspruch nehmen, wenn es
einen bestätigt. Man muss so konsequent sein, anzuerkennen, dass der Beschluss des
UN-Sicherheitsrates den Einsatz deutscher Soldaten in einer ganz anderen Weise
legitimiert, als das bei anderen Militäreinsätzen der Fall gewesen ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Auf die Frage des Einsatzes von Militär habe ich in diesen Tagen keine bessere Antwort
gefunden als die von Erhard Eppler: "Militär ist gefragt, wo die Polizei
überfordert ist." Ich füge an: Militär ist gefragt, aber auf Zeit und mit einem
klar umrissenen Ziel. Militär hat eine dienende Funktion, eingebettet in eine politische
Strategie. Deshalb sage ich Ja zur uneingeschränkten Solidarität mit dem amerikanischen
Volk. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einer bedingungslosen Unterstützung der
amerikanischen Militärstrategie. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass es mit dieser Bundesregierung keine Abenteuer geben wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ist ein weltweit anerkannter Grundsatz. Bilder
von getöteten Kindern oder der Einsatz von Streubomben haben Zweifel aufkommen lassen, ob
die Verhältnismäßigkeit bei allen, noch so gezielt platzierten Bombardements in den
letzten Wochen gewährleistet werden konnte. Deshalb ist es richtig, Bombardements immer
wieder auf den Prüfstand zu stellen.
Ich freue mich, dass die Entwicklung der letzten Tage die Hoffnung nährt, dass diese
Angriffe tatsächlich bald zu Ende gehen. Wir vertrauen keiner anderen Regierung so sehr
wie dieser, dass sie einer Ausweitung des Konfliktes entgegentritt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Nach Abwägung all dieser Argumente stimmen wir heute einstimmig zu.
Ich möchte aber doch erwähnen, dass es in der SPD auch eine Gruppe von Abgeordneten
gibt, die diesem Einsatz ablehnend gegenübersteht. Sie stimmen jedoch
heute alle mit Ja. Ich habe Achtung vor einer pazifistischen Position, die ihre
Politikfähigkeit beibehält.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In diesem Sinne und nach Abwägung dieser Argumente stelle ich fest: Das Gewissen sagt Ja
zu diesem begrenzten Militäreinsatz. Um das durchzusetzen - auch das ist ein Grund, mit
Rot-Grün weiterzumachen -, werden wir uns heute geschlossen zeigen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
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