Rede des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zum Antrag der
Bundesregierung auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA und zum Antrag des
Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes
vom 16. November 2001
Gerhard Schröder, Bundeskanzler [SPD] (von der SPD sowie von
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die jüngsten Entwicklungen in
Afghanistan sind ermutigende Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In weiten Teilen des Landes sind die Menschen aus dem Würgegriff des menschenverachtenden
Talibanregimes befreit worden. Die Terroristen des Netzwerkes von Osama Bin Laden sind nun
auch in Afghanistan weit gehend isoliert und in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich
eingeschränkt.
Durch die militärischen Maßnahmen ist der Weg frei geworden für die humanitäre
Versorgung der Not leidenden afghanischen Bevölkerung. Gleichzeitig kann und muss jetzt
der Prozess einer dauerhaften Stabilisierung des Landes beginnen. Die Lage erlaubt und
erfordert es, nun rasch mit Gesprächen zu beginnen, die eine Regierungsbildung unter
Einschluss aller afghanischen Bevölkerungsgruppen ermöglichen sollen. Ich begrüße es
daher nachdrücklich, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, die
Vertreter der verschiedenen Fraktionen und ethnischen Gruppen an einen Tisch gebeten hat.
Die innere Einigung der Afghanen wird Voraussetzung für eine wirksame Hilfe beim
Wiederaufbau und bei der Stabilisierung des Landes sein.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Deutschland wird sich an dieser Hilfe substanziell beteiligen; denn wir sind als Teil der
Antiterrorkoalition diese Hilfe nicht nur dem afghanischen Volk, nein wir sind sie unserer
eigenen Glaubwürdigkeit im Kampf gegen den Terror schuldig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Uns sollte gleichwohl bewusst sein, dass die Erfolge, die wir erzielt haben, nur ein
Etappenziel sind. Die Befriedung Afghanistans, der Beginn eines Stabilisierungsprozesses,
an dessen Ende die Rückkehr Afghanistans in die Völkergemeinschaft stehen muss, das
wären Ergebnisse, auf die wir im Kampf gegen den internationalen Terror wirksam aufbauen
können. Das Ende dieses Kampfes wären sie allerdings nicht.
Der bisherige Verlauf dieser Auseinandersetzung zeigt uns auch, dass es richtig und
wichtig war, auf eine um fassende Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus zu setzen.
Dabei war es, wie ich meine, richtig, den militärischen Aspekt dieser Auseinandersetzung
nicht auszublenden. Wir haben stets betont, dass wir nicht allein und schon gar nicht
ausschließlich auf militärische Maßnahmen setzen. Aber es gibt Situationen, in denen
eine von allen gewollte politische Lösung militärisch vorbereitet, erzwungen und
schließlich auch durchgesetzt werden muss. Wer die Fernsehbilder von den feiernden
Menschen in Kabul nach dem Abzug der Taliban gesehen hat - ich denke hier vor allen Dingen
an die Bilder der Frauen, die sich endlich wieder frei auf den Straßen begegnen dürfen
-,
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der PDS)
dem sollte es nicht schwer fallen, das Ergebnis der Militärschläge im Sinne der Menschen
dort zu bewerten.
Ich denke, ich spreche im Namen des ganzen Hauses, wenn ich zum Ausdruck bringe, wie
erleichtert wir alle darüber sind, dass sich die Mitarbeiter von Shelter Now wieder in
Freiheit befinden.
(Beifall im ganzen Haus)
Aber machen wir uns keine Illusionen: Der Kampf gegen den Terror wird noch lange dauern
und wird uns einen langen Atem abverlangen. Schnelle Erfolge sind keineswegs garantiert.
Doch ist der Kampf zu gewinnen und wir werden ihn gewinnen, wenn wir alle Mittel, die
notwendig sind, aufeinander abgestimmt, aber eben auch konsequent einsetzen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Das betrifft zunächst die politisch-diplomatischen Mittel. Hier ist mit der Bildung einer
internationalen Antiterrorkoalition eine gute Grundlage gelegt worden. Ich selbst habe in
den vergangenen Wochen viele Gespräche mit zahlreichen Staats- und Regierungschefs
geführt. Auch erwähne ich hier ausdrücklich die intensiven Bemühungen des
Bundesaußenministers, gemeinsam mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern den
Friedensprozess im Nahen Osten wieder in Gang zu bringen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Die Außenpolitik dieser Regierungskoalition ist seit unserem Amtsantritt darauf
gerichtet, durch Herstellung ökonomischer, sozialer und materieller Sicherheit, durch
Förderung der Rechtsstaatlichkeit und regionaler Stabilitätsbündnisse, durch
Krisenprävention und Friedenssicherung zur Stabilität in der Welt beizutragen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wo es nötig und für uns objektiv möglich und vertretbar war, haben wir uns auch mit
militärischen Mitteln an Einsätzen der Staatengemeinschaft beteiligt, wie wir das zum
Beispiel auf dem Balkan tun. Wir werden dies auch in Zukunft fortsetzen. Niemals haben wir
dabei den Einsatz der Bundeswehr ohne begleitendes, nachhaltiges Engagement auf
politischem, ökonomischem und humanitärem Gebiet beschlossen.
Nach diesem Selbstverständnis handeln wir auch heute im Kampf gegen den Terrorismus. Auch
in der Auseinandersetzung um Afghanistan hat unsere Hilfe für die Menschen in der
Krisenregion hohe Priorität.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
100 Millionen DM haben wir bereits für die humanitäre Hilfe bereitgestellt, um die
Bevölkerung vor dem drohenden Wintereinbruch wirksam zu unterstützen. Weitere 160
Millionen DM haben wir für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt. Dank der
militärischen Erfolge gegen die Taliban kann diese Hilfe jetzt dort, wo sie sehr dringend
gebraucht wird, so wirksam ankommen, wie es nötig ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Wir haben außerdem sehr zielstrebig sowohl die finanziellen wie auch die polizeilichen
Maßnahmen gegen den Terrorismus verstärkt. Es hat erste Fahndungserfolge und Festnahmen
von Verdächtigen aus dem Umfeld des Terrornetzes von Bin Laden gegeben. Bis heute sind
fast 200 Konten gesperrt worden, bei denen der Verdacht besteht, dass sie zu Transaktionen
für den Terrorismus benutzt wurden. Die Zusammenarbeit der in- und ausländischen
Nachrichtendienste ist schon innerhalb kürzester Zeit verbessert worden. Auch das sind
wichtige Fortschritte. Aber ich betone es noch einmal: Der Kampf gegen den Terror und die
terroristischen Netzwerke steht erst am Anfang.
Der Deutsche Bundestag hat heute Vormittag über den Antrag der Bundesregierung zur
Bereitstellung von Bundeswehreinheiten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus
zu beschließen. In Verbindung damit habe ich eine Abstimmung gemäß Art. 68 des Grundgesetzes
beantragt. Ich möchte Ihnen erläutern, was mich bewogen hat, diese Vertrauensfrage zu
stellen.
(Lachen bei der CDU/CSU)
Es geht, kurz gesagt, um die Verlässlichkeit unserer Politik,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)
um Verlässlichkeit gegenüber den Bürgern, gegenüber unseren Freunden in Europa und
gegenüber unseren internationalen Partnern.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Und dafür muss man die Vertrauensfrage stellen?)
Die heutige Entscheidung über die Bereitstellung von Bundeswehreinheiten im Kampf gegen
den Terrorismus stellt sicher eine Zäsur dar. Erstmals zwingt uns die internationale
Situation, zwingt uns die Kriegserklärung durch den Terrorismus dazu, Bundeswehreinheiten
für einen Kampfeinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebietes bereitzustellen. Für eine
Entscheidung von solcher Tragweite, auch für daraus vielleicht noch folgende
Beschlussfassungen des Deutschen Bundestages ist es nach meiner festen Überzeugung
unabdingbar, dass sich der Bundeskanzler und die Bundesregierung auf eine Mehrheit in der
sie tragenden Koalition stützen können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Wir Deutschen können der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus nicht ausweichen und wir
wollen das auch nicht. Der Deutsche Bundestag hat das nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck
gebracht, dass er für die Solidarität mit den Vereinigten Staaten ausdrücklich auch
"die Bereitstellung geeigneter militärischer Fähigkeiten" beschlossen hat.
Die Bundesregierung hat nun in der vergangenen Woche nach einer entsprechenden Anforderung der Vereinigten
Staaten den deutschen Solidarbeitrag und die Bereitstellung deutscher Streitkräfte
konkretisiert. Über diesen Antrag
ist heute Vormittag abzustimmen. Die Entscheidungen, die für die Bereitstellung deutscher
Streitkräfte zu treffen sind, nimmt niemand auf die leichte Schulter - auch ich nicht.
Aber sie sind notwendig und deshalb müssen sie getroffen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir erfüllen damit die an uns gerichteten Erwartungen unserer Partner und wir leisten
das, was uns objektiv möglich ist und was politisch verantwortet werden kann. Aber mehr
noch: Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner
gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. Wir müssen erkennen: Nach den epochalen
Veränderungen seit dem Herbst 1989 hat Deutschland seine volle Souveränität
zurückgewonnen. Es hat damit aber auch neue Pflichten übernommen, an die uns die
Verbündeten erinnern. Wir haben kein Recht, darüber Klage zu führen. Wir sollten
vielmehr damit zufrieden sein, dass wir seit den epochalen Veränderungen 1989
gleichberechtigte Partner in der Staatengemeinschaft sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU
und der FDP)
Ich habe bewusst die Vertrauensfrage nach Art. 68
des Grundgesetzes und den Antrag über die Bereitstellung deutscher
Streitkräfte für den Kampf gegen den Terrorismus miteinander verknüpft. Denn der
Bundeskanzler kann seinem Amt und seiner Verantwortung für das Gemeinwohl nur dann
entsprechen, wenn seine Person und sein Programm das Vertrauen und die Zustimmung der ihn
tragenden Mehrheit des Hohen Hauses finden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sosehr ich die Bereitschaft der Oppositionsfraktionen begrüße, den
Bereitstellungsbeschluss als solchen mitzutragen, so deutlich wird doch am absehbaren Nein
der Opposition zur Abstimmung in der Vertrauensfrage, dass eine solche
Parlamentsmehrheit eben nicht in dem notwendigen Umfang belastbar ist
(Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU)
- meine Damen und Herren, Sie sollten zuhören und
- das füge ich hinzu - auch nicht sein kann. Dies ist doch völlig klar.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn Sie von der CDU/CSU in der Lage wären, zumindest so lange zu zuhören, bis ich
meinen Satz beendet habe, dann würden Sie verstehen, was ich meine.
(Lachen bei der CDU/CSU)
Intellektuell sollten Sie dazu in der Lage sein.
Ich erkenne ausdrücklich an - dies finde ich nicht zuletzt aus außenpolitischen und
internationalen Gründen richtig -, dass das Nein der Oppositionsfraktionen in der
Vertrauensfrage kein Nein zum Beschluss über die Bereitstellung deutscher Streitkräfte
ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU
und der FDP)
Es ist wichtig, dass dies zum Ausdruck gebracht wird. Denn damit ist klar, dass auch die
wichtigen Oppositionsfraktionen in diesem Hause die Entscheidung als solche mittragen,
wenn sie auch daran gehindert sind - das ist ein ganz normaler parlamentarischer Vorgang
-, in der Vertrauensfrage mit Ja zu stimmen. Sind Sie jetzt zufrieden, oder nicht?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU
und der FDP)
Meine Damen und Herren, der Antrag nach Art. 68
des Grundgesetzes - es ist mir wichtig, das zu
betonen - ist in unserer Demokratie ein verfassungsrechtlich und übrigens auch
verfahrenstechnisch eindeutig geregelter Vorgang im Verhältnis zwischen Bundeskanzler und
Parlament. Das gilt ausdrücklich auch für die Verbindung der Vertrauensfrage mit der
Abstimmung über eine Sachfrage.
So meint der ehemalige Verfassungsrichter Hans Hugo Klein, bei dem ich übrigens in
Göttingen Staatsrecht, nicht aber Politik gelernt habe
(Heiterkeit im ganzen Hause)
und der Politik auch leider auch nicht von mir gelernt hat, wie Sie wohl alle wissen: Die
Vertrauensfrage - ich zitiere - erlaubt es dem Bundeskanzler, die Belastbarkeit der ihn
tragenden parlamentarischen Mehrheit gerade auch im Zusammenhang mit einer konkreten
Sachentscheidung zu testen.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Erste Woche, erstes Semester!)
- Soweit Hans Hugo Klein, der Mitglied Ihrer Fraktion, Verfassungsrichter
(Michael Glos [CDU/CSU]: Guter Mann!)
und - wie gesagt - ein bedeutender Staatsrechtslehrer war, was man an seinen Schülern
sehen kann.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
- Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)
Insofern, meine Damen und Herren, habe ich kein Verständnis dafür, dass der eine oder
andere im Vorfeld von einer Einschränkung der Gewissensfreiheit durch ebendieses
Verfahren gesprochen hat.
(Dirk Niebel [FDP]: Das war Ströbele!)
Unser Grundgesetz ist eine vorbildliche
demokratische Verfassung. Wenn diese Verfassung
das heute gewählte Verfahren ausdrücklich vorsieht, dann doch wohl deshalb, weil eben
kein Widerspruch zwischen einer Abstimmung nach Art. 68 des Grundgesetzes
und der ebenso verbürgten und ebenso wichtigen Gewissensfreiheit besteht.
Meine Damen und Herren, genau in diesem Sinne bitte ich um das
Vertrauen des Deutschen Bundestages, um Vertrauen in Vernunft und Verlässlichkeit meiner
Politik und um Vertrauen in die weitere Arbeit dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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