Rede der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Steffi Lemke zum Antrag der Bundesregierung auf Einsatz
bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf
terroristische Angriffe gegen die USA und zum Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68
des Grundgesetzes
vom 16. November 2001
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Werte Kolleginnen und Kollegen! Zwei sehr grundsätzliche und weit reichende Fragen stehen
heute im Deutschen Bundestag zur Entscheidung an. Es geht um den Fortbestand einer
Regierungskoalition und um die Entsendung der Bundeswehr -out of area - zur Beteiligung am
Krieg gegen Terrorismus. Ich halte die Verknüpfung dieser beiden Fragen zwar für
zulässig, sie ist aber aus meiner Sicht nicht ziel führend.
(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Oh je!)
Sie erzwingt die Zustimmung von Abgeordneten, die Einwände in der Sachfrage haben, und
nimmt dem Parlament die Freiheit, unabhängig von der Sache über das Mandat zu
entscheiden. Eine getrennte Abstimmung hätte die positive Beantwortung der
Vertrauensfrage und somit die Aussprache des Vertrauens durch alle 47 Abgeordneten der
grünen Bundestagsfraktion - also einstimmig - ermöglicht.
Für eine Gruppe von Abgeordneten in meiner Fraktion stelle ich fest, dass der Dissens in
der Sache bestehen bleibt.
(Zuruf von der FDP: Aha!)
Der Krieg in Afghanistan dient unserer Ansicht nach nicht der zielgerichteten Bekämpfung
der Terroristen des 11. Septembers. Dem internationalen Terrorismus kann nicht mit
Streubomben unter Inkaufnahme von toten Zivilisten und der Zerstörung von Einrichtungen
des Internationalen Roten Kreuzes begegnet werden. Ich gehe davon aus, dass alle
Abgeordneten dieses Hauses den von mir eben geschilderten Faktoren kritisch
gegenüberstehen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Krieg in Afghanistan mag manche der militärischen Ziele erreicht haben. Durch die
Siege der Nordallianz ist er politisch aber nicht sinnvoller geworden. Noch immer fehlt
dem Krieg ein realistisches Konzept und es fehlt eine trag fähige politische Lösung für
die Zeit nach den Taliban. Es gilt, erst mühsam die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Genau das konnte und kann der Krieg nicht. Er droht die ethnische Spaltung des Landes noch
zu vertiefen.
Wir lehnen diesen Krieg und die Beteiligung der Bundeswehr nicht allein deshalb ab, weil
das aus unserer Sicht falsch ist, sondern auch, weil dies einen weiteren entscheidenden
Schritt zur Enttabuisierung militärischer Mittel dar stellt.
Sicherlich freuen sich alle Abgeordneten dieses Hauses über die Bilder aus Afghanistan,
die uns in den letzten Tagen erreicht haben, über die Frauen und Männer, die ihrer
Befreiung entgegensehen und sich einem anderen Leben zuwenden können. Ich beharre aber
darauf: Gerade wenn nach dem 11. September eine veränderte Situation in der
weltpolitischen Sicherheitslage eingetreten ist - dies ist hier überein stimmend
festgestellt worden -, muss Klarheit über die Art und Weise der Kriegführung sowie über
strategische und politische Ziele der Kriegführung bestehen. Dies ist davon zu trennen,
dass in Afghanistan seit Jahren ein grausames Regime herrscht.
Wir sehen die Aufgabe Europas in diesem Prozess darin, gemeinsam mit den Vereinigten
Staaten von Amerika eine zielgerichtete Antwort bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus zu finden, die wir bisher bei dem Krieg in Afghanistan nicht erkennen können.
Die acht Unterzeichner des Positionspapiers zu dem Krieg in Afghanistan, das vergangenen
Sonntag in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" veröffentlicht wurde,
haben gemeinsam eine Entscheidung getroffen, wie sie mit der Machtfrage, der
Vertrauensfrage, die heute im Parlament gestellt wird, umgehen. Wir haben entschieden, bei
der heutigen Abstimmung eine zahlenmäßige Halbierung der Stimmenanzahl vorzunehmen, um
die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers mit Ja beantworten zu können.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist sehr glaubwürdig!)
Wir beantworten eine Machtfrage strategisch, indem wir Ja zum Fortbestand der Koalition
und Nein zur Legitimation des Bundeswehrmandats sagen.
(Walter Hirche [FDP]: Gevierteiltes Gewissen! - Friedrich Merz [CDU/CSU]: Diese Rede muss
wirklich veröffentlicht werden!)
Die Beurteilung des Krieges in Afghanistan bleibt davon unberührt.
Das bisher zur Abstimmung stehende Bundeswehrmandat ist vermutlich von seinem
ursprünglichen Ziel her überholt. Es spräche deshalb manches dafür, es als
humanitäres, quasi polizeiliches Mandat umzuformulieren. Wir gehen davon aus, dass dieses
Mandat nicht militärisch, sondern zivil gedeutet wird. Das entspricht dem Willen nicht
nur vieler Abgeordneter, sondern auch der großen Mehrheit der Bevölkerung.
Nun komme ich zu zwei Fragen, die im Parlament gestellt worden sind: Erstens wurde
gefragt, ob die grünen Abgeordneten für dieses Abstimmungsverhalten eine Losentscheidung
getroffen haben. Ich sage Ihnen, dass ich mit meinem Mandat so verantwortlich umgehe, dass
ein solches Verfahren nicht gewählt worden ist. Es ist eine strategische Entscheidung,
die wir gemeinsam, ohne ein solches Verfahren, getroffen haben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme zu der zweiten Frage. Ich wende mich in diesem Zusammenhang an die Kollegen Gysi und Claus;
vielleicht kann man das aber auch gemeinsam mit Herrn Merz
und Herrn Glos besprechen, die heute ähnlich
erbärmliche Vorstellungen über die Frage, wie man mit der Bevölkerung über die
Situation diskutieren sollte, abgeliefert haben. Sie haben die Frage nach dem Rückgrat
gestellt. Ich muss Ihnen sagen, Herr Gysi und Herr Claus, über die Rückgratfrage diskutiere ich nicht mit
Leuten wie Ihnen. Sie sind dafür verantwortlich, dass ich als junger Mensch in der Schule
nicht darüber diskutieren konnte, was im Krieg zwischen der Sowjetunion und Afghanistan
passierte.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die rot-grüne Bundesregierung ist dafür verantwortlich, der Bevölkerung und dem
Parlament eine Diskussion über diese Fragen ermöglicht zu haben. Das unterscheidet uns
grundlegend von Ihnen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
An die andere Seite der Opposition gewandt, die in der Sachfrage eigentlich zustimmen
möchte, aber offen sichtlich strategisch entschieden hat, in der Machtfrage mit Nein zu
stimmen, sage ich: Ich finde es verantwortungslos, wie Sie mit der Frage, was in Afghanistan passiert und wie und mit welchen Zielen dort Krieg geführt wird,
umgehen. Sie haben hier bedingungslosen Gehorsam signalisiert.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist eine Unverschämtheit!)
Ich sage Ihnen, dass Bündnissolidarität gegenüber den Vereinigten Staaten keinen
bedingungslosen Gehorsam beinhalten kann, sondern einen verantwortlichen Umgang mit der
Frage erfordert, was zu einer zielgerichteten Bekämpfung des internationalen Terrorismus
notwendig ist und was nicht.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
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