Rede des Vorsitzenden der PDS-Fraktion Roland Claus zur Europadebatte im Deutschen Bundestag

Vom 18. Oktober 2001


Roland Claus (PDS):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundeskanzler Schröder hat das heute zu beratende Vertragswerk nach unserer Meinung zu Recht zu dem hier in der vergangenen Woche von ihm und dem Bundesaußenminister begründeten und verkündeten Ansatz einer grundsätzlichen Neuorientierung der deutschen Außenpolitik in Bezug gesetzt.

Wir widersprechen nicht der Auffassung, die Etappe der deutschen Nachkriegspolitik sei unwiederbringlich vorbei und Deutschland sei infolge der vollzogenen staatlichen Einigung in eine neue internationale Rolle hineingewachsen. Allerdings sagen wir: In einer solchen Situation gibt es verschiedene Möglichkeiten, die neue Verantwortung anzunehmen. Mir wird oft entgegengehalten, die Politik sei alternativlos. Ich sage Ihnen: Politik ist immer Menschenwerk und deshalb nie alternativlos. Es geht auch immer anders.

(Beifall bei der PDS)

Herr Bundeskanzler, Sie haben an verschiedenen Stellen wiederholt, dass es in dieser neuen Außenpolitik auch militärische Optionen geben müsse, und zugleich betont, dass diese keinen Vorrang haben dürften. Ich finde, Ihr aktuelles Handeln spricht eine andere Sprache. Im Herangehen an den Kampf gegen den Terrorismus ist es ja genau das Militärische, dem Sie den absoluten Vorrang einräumen. Andere Optionen der Problemlösung bleiben zurück. Des halb sagen wir Ihnen an dieser Stelle noch einmal und mit der notwendigen Klarheit: Wir sind gegen den Krieg in Afghanistan, weil sich viele unserer Befürchtungen leider bewahrheitet haben. Unschuldige leiden unter den Bomben; Flüchtlinge verhungern; das auch von der Bundesrepublik unterstützte Minenräumprogramm musste wegen der Bombardierungen abgebrochen werden. Wir müssen an dieser Stelle deutlich sagen und wiederholen: Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu gewinnen, ein Krieg jedoch nie.

(Beifall bei der PDS)

Da Sie, Herr Bundeskanzler, ausdrücklich und eindeutig Ja zu dem Krieg in Afghanistan gesagt haben, erwartet nun die Öffentlichkeit von Ihnen - ich denke: zu Recht -, dass Sie Klarheit im Hinblick auf eine eventuelle deutsche Beteiligung schaffen. Sie sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt deshalb zu Klarheit und Wahrheit verpflichtet, weil die Soldaten und ihre Angehörigen ein Recht darauf haben. Ich denke, Sie müssen in diesem Sinne auch Spekulationen aller Art entgegentreten, beispielsweise solchen, die Kollege Glos in diesen Tagen in die Öffentlichkeit getragen hat. Eines muss ich dazu noch erwähnen, Herr Bundeskanzler - es ist eine gewisse Pikanterie -: Solange die PDS noch bei den Unterrichtungen dabei war, haben alle dichtgehalten. Jetzt ist es anders. Das ist schon eine pikante Sache.

(Beifall bei der PDS - Dr. Peter Struck [SPD]: Ich gebe Ihnen Recht, Herr Kollege! Das muss auch Konsequenzen haben! Der Herr Glos ist ein Schwätzer!)

Das belegt: Der wirkliche Grund für unseren Ausschluss von den Unterrichtungen besteht nur darin, dass Sie in einer - das gebe ich zu - wichtigen Frage eine andere Meinung nicht ertragen können. Das ist so nicht hinzunehmen.

(Beifall bei der PDS)

In der Dominanz der Logik des Militärischen liegt auch das Problem, das wir für den europäischen Einigungsprozess sehen; denn indem Sie, Herr Bundeskanzler - ich glaube, hier liegt die Crux -, die neue außenpolitische Rolle aus dem NATO-Beistandsfall ableiten, definieren Sie das Neue über das militärisch Neue. Das ist in der Regel, wie wir finden, ein Zeichen für einen Mangel an Visionen und Politik. Wenn wir von einer Zäsur, von einer inhaltlichen Neubestimmung der Europa- und Außenpolitik, sprechen, dann geht es immer um die Substanz, die Richtung und die beabsichtigte Wirkung der Politik. Hier sind wir im Unterschied zur Bundesregierung der Meinung, dass die Europa- und Außenpolitik sehr viel mehr in ökonomischen und kulturellen Dimensionen gestaltet werden muss. Deutschland kann seiner gewachsenen internationalen Verantwortung und seinen eigenen staatlichen Interessen besser entsprechen, wenn es nicht auf die militärische Logik setzt. Deshalb haben wir die Anstrengungen des Bundesaußenministers für Friedenslösungen im Nahen Osten ausdrücklich unterstützt. Sie finden unsere Zustimmung.

(Beifall bei der PDS)

Solche politisch-diplomatischen Schwerpunktsetzungen wollen wir aber auch in Europa. Die OSZE war willkommen als Instrument zur Überwindung der Blockkonfrontation. Seitdem wird ihre Bedeutung permanent zurückgenommen. Wer in der Öffentlichkeit kennt denn heute überhaupt noch die OSZE? Wer im Saal kann mir wichtige handelnde Personen der OSZE nennen? Sie werden merken, dass hier ein Problem liegt. Aber die OSZE wäre genau das Gremium, das die neue Architektur für Europa umreißen könnte.

Für Deutschland steht heute auf der Tagesordnung, das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes in Europa einzubringen, sich für eine tragfähige Sozialunion einzusetzen, so wie es auch der französische Premier vorgeschlagen hat.

(Beifall bei der PDS)

Wir wollen, dass die Gleichstellung von Männern und Frauen auf bestem europäischem Niveau durchgesetzt wird und nicht etwa nach einem - verzeihen Sie den Ausdruck - südeuropäischen Machogebot. Wir finden außerdem, dass Deutschland für den Prozess der kulturellen Annäherung in Europa viel mehr tun könnte. Wenn man die Fremdsprachkenntnisse in unserem Land als Beispiel nimmt, dann müsste man fast sagen: Deutschland ist kulturell nicht reif für den europäischen Prozess.

Die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU verläuft noch immer nach dem bekannten Prinzip: Der Westen hat das Geld, also bestimmt er über die Einbeziehung. Genau darin liegt das Problem, im Übrigen auch das Problem der ungelösten inneren Einheit. Wer "einbeziehen" sagt, der meint: Wir bestimmen die Regeln; wer sich daran hält, darf mitmachen. Diesen Geist des Nizza-Vertrages tragen wir nicht mit.

(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, Europa wäre für die ganze Welt attraktiver, wenn es vorleben könnte, dass die Blockkonfrontation durch ein gleichberechtigtes Zusammen leben von Ost und West überwunden ist; dass es im Angesicht der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus dem Schutzbedürfnis der Menschen gerecht geworden ist und die offene Gesellschaft bewahrt hat; dass es sich beispielhaft dafür einsetzt, in den armen Ländern für Wasser, Brot und Bildung zu sorgen; dass es eine internationale und multiethnische kulturelle Entspannungspolitik auf den Weg gebracht hat; dass es innerhalb seiner vereinten Staaten die Versprechen der Regierenden, zum Beispiel zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, zur Angleichung der Lebensverhältnisse und zur Senkung der Verschuldung, auch einlöst; dass es den religiös motivierten Bürgerkrieg in Nordirland durch vereinte Anstrengungen friedlich beendet hat; dass es auf den NATO-Partner Türkei friedensstiftend Einfluss nimmt und so das kurdische Problem auf gerechte Weise löst. Das alles ist nicht unmöglich. Es geht jedoch nicht, wenn dem Rückzug des Staates aus Kernbereichen seiner Verantwortung das Wort geredet wird oder weiter die Liberalisierung des Welthandels gefordert wird, wie es noch im Schröder/Blair-Papier heißt.

Das strategische Dilemma der europäischen Sozialdemokratie scheint mir darin zu liegen, dass sie für die entscheidenden europäischen Transformationsprozesse in die Verantwortung genommen ist, auf dem Weg, auf den sie sich jetzt begeben hat, aber zugleich ihre eigene Abwahl vorbereitet. Da ist es gut zu wissen, dass es noch immer eine gestärkte demokratisch-sozialistische Linke in Deutschland und Europa gibt.

(Beifall bei der PDS)

 

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Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 195. Sitzung vom 18. Oktober 2001 (Plenarprotokoll 14/195).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des Vorsitzenden der PDS-Fraktion Roland Claus zur Europadebatte im Deutschen Bundestag (18.10.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_claus_1018.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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