Rede des Abgeordneten Christian Sterzig (Bündnis 90/Die Grünen)
zur Europadebatte im Deutschen Bundestag
Vom 18. Oktober 2001
Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen Nizza und Gent liegt New York.
Es ist heute in allen Beiträgen deutlich geworden, dass die Tagesordnung des bevor
stehenden Gipfels in Gent durch den 11. September natürlich verändert worden ist. Der
Euro, die Erweiterung und die Zukunftsdebatte - das alles sollte die Tagesordnung von Gent
prägen. Nun wird sicherlich ein Großteil dieses Treffens ganz im Zeichen der
europäischen und internationalen Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus stehen. Das
muss auch so sein; das erwarten sicherlich auch die Bürgerinnen und Bürger.
Dennoch sollten wir den Versuch unternehmen, innezuhalten und eine Zwischenbilanz über
das, was sich seit dem 11. September - auch für die EU - unter einem
integrationspolitischen Blickwinkel verändert hat, zu ziehen. Ich glaube, diese erste
Zwischenbilanz fiele ambivalent aus.
Zum einen gibt es durchaus neue Impulse für den Bereich Justiz und Inneres, nämlich zum
Beispiel das sehr heftige Bemühen um gemeinsame Lösungen zur Stärkung von Europol, das
sich in einigen Sondersitzungen des zuständigen Rates niederschlägt. Die weiteren
Stichworte wurden genannt: europäischer Haftbefehl, Eurojust, Zusammenarbeit in der
Flugsicherheit und Geldwäsche. All dies hat offensichtlich einen neuen Schub bekommen,
weil allen klar geworden ist, dass die Antwort auf die neuen Herausforderungen nach dem
11. September nicht allein national gegeben werden kann. Gerade im Sicherheitsbereich sind
europäische Antworten gefragt.
Zum anderen müssen wir aber feststellen, dass sich negative Wirkungen bemerkbar machen.
Im Augenblick wird darüber spekuliert, ob die Erweiterung der Europäischen Union so
vonstatten gehen könne, wie sie geplant war. Da müsse erst einmal abgewartet werden.
Hier gilt es, sehr deutlich dagegenzuhalten und klar zu machen, dass der
Erweiterungsfahrplan gerade jetzt eingehalten werden muss. Eine Verzögerung können wir
nicht hinnehmen. Wir können der Regierung dankbar dafür sein, dass sie mit der
Entschlossenheit nach Gent reisen wird, auch im Erweiterungsprozess keine Verzögerungen
auftreten zu lassen. Das beruhigt uns. Insofern erwarten wir von dem Gipfel in Gent, dass
die richtigen Signale gesendet werden.
Ich komme zum nächsten Bereich - auch er wurde schon angesprochen -, nämlich der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt sicherlich Anlass, mit einer gewissen
Sorge auf die Entwicklung zu schauen. In den letzten Wochen stand die nationale Außen-
und Sicherheitspolitik im Vordergrund. Wir müssen eine Renationalisierung sowie
Rebilateralisierung der Außen- und Sicherheitspolitik beobachten. Die EU hat es bislang
nicht geschafft, zu einem tragenden Faktor im Rahmen der internationalen Koalition gegen
den Terrorismus zu werden.
Ich glaube, dass wir das nicht dramatisieren müssen; wir dürfen es aber auch nicht
übersehen. Wenn wir uns anschauen, was die Bundesregierung in den letzten Tagen und
Wochen getan hat, zeigen sich uns besonders auch hier der Wille und die Entschlossenheit,
einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken und Auseinanderstrebendes wieder
zusammenzufügen. Dies wird sicherlich ein ganz beherrschendes Thema auf dem Gipfel in
Gent - er ist gerade dafür wichtig - sein.
Wir alle ahnen, dass hinsichtlich Afghanistans - nicht nur in Bezug auf die
augenblickliche Situation, sondern auch im Blick auf die Post-Taliban-Ära - besondere
Aufgaben auf die Europäische Union zukommen. Diese Diskussion hat begonnen. Die UNO mit
ihrer internationalen Präsenz, aber auch die EU wer den bei der zukünftigen Entwicklung
Afghanistans ein wichtiger Faktor sein.
Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die EU im Zusammenspiel mit
anderen internationalen Organisationen in erheblichem Umfang konfliktpräventive und
krisenbewältigende Potenziale einbringen kann. Sie kann damit zur Stabilisierung
beitragen. Wir haben das an der Entwicklung in Mazedonien gesehen. Wir beobachten
gespannt, ob das der EU und dem deutschen Außenminister auch im Nahen Osten gelingen
wird. Die Besinnung auf dieses Potenzial innerhalb der EU wird wichtig sein, um die EU zu
einem wesentlichen politischen Faktor in der Koalition gegen den Terrorismus zu machen.
Der Kanzler geht mit einem ratifizierten Nizza-Vertrag nach Gent. Dies ist wichtig, weil
wir hiermit ein deutliches Zeichen setzen. Der Vertrag, mit dem im Dezember des letzten
Jahres grünes Licht für die Osterweiterung gegeben wurde, signalisiert, dass wir in der
EU nicht nur erweiterungsbereit, sondern auch erweiterungsfähig sind und dass wir dafür
die notwendigen Reformen einleiten wollen. Nizza hat auch eine Zukunftsdebatte
eingeläutet. Das hat dazu geführt, dass in den letzten Wochen und Monaten viel mehr
über die Zukunft Europas geredet wurde als über den Nizza-Vertrag und die damit
verbundenen Veränderungen der europäischen Verträge.
Der Konvent hat in den letzten Wochen die Diskussionen bestimmt. Er soll in Laeken
offiziell ins Leben gerufen werden. Wir haben uns im Bundestag, vor allen Dingen im
Europaausschuss, sehr intensiv damit beschäftigt und Vorstellungen über die
Zusammensetzung eines solchen Konvents, seine Arbeitsweise und seine
Abstimmungsmechanismen vorgelegt. Ich glaube, wir sind hier ein gutes Stück
weitergekommen. Der Konvent wird vielleicht so etwas wie ein Nukleus von Institutionen
werden, der Integrationsentwicklungen weitertreiben kann. Wir können an dieser Stelle
durchaus daran erinnern, dass es die Bundesregierung war, die während der deutschen
Präsidentschaft den allerersten Konvent, den Grundrechtekonvent, entschlossen auf die
Schienen gesetzt hat.
Das Stichwort im Zusammenhang mit dem Konvent ist die Parlamentarisierung des
Integrationsprozesses. Wir plädieren als Parlamentarier für die Parlamentarisierung,
nicht weil wir glauben, wir würden grundsätzlich bessere Arbeit machen als Regierungen
oder Regierungsbeamte,
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Nicht so bescheiden, bitte!)
sondern weil wir glauben, dass eine parlamentarische Dominanz in dem Gremium die Arbeit
und die Debatten verändern und zur Entnationalisierung der Reformdebatte beitragen wird.
Die Zukunftsdebatten im Konvent werden sich dann nicht an nationalen Frontstellungen
orientieren, sondern an den Linien der politischen Großfamilien in Europa. Dadurch kann
es neue Impulse geben. Das ist der Hintergrund unseres Einsatzes für einen
arbeitsfähigen und parlamentarisch dominierten Konvent.
Noch ist nicht alles unter Dach und Fach. In Gent werden die Staats- und Regierungschefs
noch wichtige Debatten führen. Wir hoffen, dass von Gent die richtigen Signale
ausgehen, was die Handlungsfähigkeit der EU angesichts der Herausforderungen des 11.
September, was die Bestätigung des Erweiterungsfahrplans und schließlich was die
Reformfähigkeit der EU anbelangt. Da für wünschen wir dem Kanzler in den nächsten
Tagen in Gent eine glückliche Hand.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
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