Rede des Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann (FDP) zur
Europadebatte im Deutschen Bundestag
Vom 18. Oktober 2001
Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 11. September hat leider auf brutale
Weise klar gemacht, dass der schrecklichsten Bedrohung unserer Freiheit durch
internationalen Terrorismus nicht mehr im Alleingang begegnet werden kann. Auch die
einzige verbliebene Supermacht, die USA, wendet sich von Unilateralismus, von
Alleingängen ab und sucht die globale Partnerschaft. Diese große Chance, die Amerikaner
in gemeinsame, multilaterale Lösungen einzubinden, dürfen wir Europäer nicht
verspielen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Nizza - darum geht es ja heute - war leider ein absolutes Negativbeispiel. In Nizza hat
sich noch einmal das alte Denken durchgesetzt; es gab keine Kompromissbereitschaft, keine
Bereitschaft für gemeinsame Lösungen. Alle Regierungen gingen nach Hause, um dort
nationale Egoismen zu begründen, und keine Regierung, auch nicht die deutsche, hat in
Nizza dafür gesorgt, dass es einen Fortschritt hinsichtlich gemeinsamer Lösungen,
Mehrheitsentscheidungen und einer stärkeren Rolle des Europäischen Parlamentes gab.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir stimmen dem Bundeskanzler gerne darin zu, dass die Europäische Union das
Erfolgsprojekt des 20. Jahrhunderts war. Aber um diese Erfolgsgeschichte im neuen
Jahrhundert fortzuschreiben, muss man mehr tun als das, was in Nizza geschehen ist. Es ist
richtig, dass der Bundeskanzler Europa heute als Wirtschaftsmacht rühmt, und es ist auch
gut, dass er von seiner früheren Bezeichnung der europäischen Währung als
"kränkelnde Frühgeburt" abgegangen ist. Er bezeichnet sie heute als
deutlichstes Zeichen für den gewaltigen europäischen Fortschritt.
Wir sollten an einem solchen Tage auch nicht vergessen, dass der Euro fast stillschweigend
und leider unbemerkt seine erste internationale Bewährungsprobe mit großem Erfolg
bestanden hat.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir hätten nach dem Terroranschlag mit 15 nationalen Kleinwährungen in Europa heute
große Probleme; wir hätten einen Auf- und Abwertungswettlauf. Ins besondere die deutsche
Exportwirtschaft würde bei ihren Exportbemühungen innerhalb von Europa schwer
geschädigt.
Insofern, Herr Finanzminister, sollte die Bundesregierung vor Einführung des Bargeldes
jede Gelegenheit wahrnehmen, darzustellen, dass die erste internationale Bewährungsprobe
auf hervorragende Weise gelungen ist. Deshalb sollten Sie, Herr Finanzminister, auch die
für den 1. Januar geplanten Steuererhöhungen, wie die Erhöhung der Tabaksteuer,
zurückstellen; denn nicht die Umstellung auf den Euro erhöht die Preise, sondern die
Bundesregierung tut das, indem sie zum Zeitpunkt der Euroeinführung die Verbrauchsteuern
erhöht. Das ist schlecht für die Akzeptanz dieses wichtigen europäischen Symbols.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zweiter Punkt. Es ist gut, dass der Bundeskanzler die Europäische Union nicht nur als
Wirtschaftsmodell sieht, sondern sie als ein genuines Gesellschaftsmodell bezeichnet. Auch
hier hat sich vielleicht nicht nur die Rhetorik, sondern auch die Einstellung der
europäischen Sozialisten geändert. Vor dem 11. September gab es ja häufig die
verächtliche Formulierung, auch von Grünen: Wir wollen keine amerikanischen
Verhältnisse in Europa. - Diese Aussage zeugt von Arroganz. Wir Europäer haben
überhaupt keinen Anlass, uns über das amerikanische Gesellschaftsmodell zu erheben, ganz
im Gegenteil. Die Solidarität und die Bereitschaft, mit anderen Ländern
zusammenzuarbeiten, die Amerika im Moment zeigt, haben die Europäer in Nizza nicht
bewiesen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deshalb sollten wir mehr tun, Herr Schlauch. Wir sollten die Steuern senken. Wir sollten
die Arbeitsmärkte flexibilisieren. Denn Deutschland ist in zwischen das
Wachstumsschlusslicht in Europa. Dies ist gewiss kein solidarischer Beitrag zur
Weltwirtschaft.
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])
Wir sollten mehr tun, um der Welt und den Amerikanern auch ökonomisch zu helfen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Blenden wir zurück zum Vertrag von Nizza! Ich zitiere den Bundeskanzler. In seiner Regierungserklärung vor dem Hohen Haus am 28.
November 2000, also vor etwa einem Jahr, hat er ausgeführt: Ein Festhalten am bisher
geltenden Einstimmig keitsprinzip wäre, insbesondere für den Fall der Erweiterung der
Europäischen Union, gleichbedeutend mit einer Selbstblockade der Europäischen Union.
Deshalb ist es ... wichtig, - so der Bundeskanzler vor Nizza - in einer erweiterten Union
Beschlüsse so weit wie möglich mit qualifizierter Mehrheit fassen zu können.
Dem konnten wir nur zustimmen. Jedoch kam die Bundesregierung mit leeren Händen aus Nizza
zurück, was diesen entscheidenden Punkt angeht.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!)
Trotz all dieser Versäumnisse werden wir als FDP-Fraktion dem Vertrag von Nizza
zustimmen. Dafür haben wir vor allem drei Gründe:
Erstens. Wir verlassen uns auf die Zusage der Bundesregierung, das Mandat von Laeken auf
die für uns essenziellen Punkte auszuweiten: mehr Durchsichtigkeit, eine stärkere Rolle
des Europaparlaments und der nationalen Parlamente und vor allem einen stärkeren Einstieg
in das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen; denn ohne Mehrheitsentscheidungen wird die
Erweiterung nicht funktionieren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zweitens. Wir wollen keinerlei Verzögerungen bei der Osterweiterung. Wir haben begriffen,
dass der Vertrag von Nizza - zwar mehr in einem formalen Sinne, Herr Gloser, und noch
nicht inhaltlich ausreichend - das Tor zur Erweiterung aufstößt. Das ist aus Sicht
unserer Schwester- und Bruderparteien in Osteuropa enorm wichtig.
Drittens. Wir stimmen zu, weil wir ebenfalls den Weg für den für uns Liberale so
entscheidenden Verfassungsprozess öffnen wollen. Darauf wird meine Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger noch eingehen.
Aber nochmals, damit dies ganz klar ist: Noch nie wurde dem Deutschen Bundestag ein so
schlechter Europavertrag zur Abstimmung vorgelegt.
(Zuruf von der FDP: Das ist leider wahr!)
Ich darf noch einmal den von mir hochgeschätzten sozialdemokratischen früheren
Präsidenten des Europaparlamentes Hänsch zitieren: Seit vielen Jahrzehnten gab es in
Europa keinen so miserablen Vertragsentwurf.
(Beifall des Abg. Uwe Hiksch [PDS] - Zuruf von der FDP: Wo er Recht hat, hat er Recht!)
Meine Damen und Herren, trotz dieser Probleme verhalten wir uns in der Opposition anders
als die Grünen damals, die ja dem Vertrag von Maastricht nicht zugestimmt haben. Wir
werden diesem wichtigen Vertrag trotzdem zustimmen. Auf die Liberalen ist auch in der
Opposition europapolitisch Verlass.
(Beifall bei der FDP)
Herr Bundeskanzler, Sie erwähnen zu Recht den Appell verdienter Europäer einschließlich
Helmut Kohls und Helmut Schmidts: Europa ist nur einer wirklich ernsthaften Gefahr
ausgesetzt, dem Stillstand. - Leider war Nizza Stillstand, in Teilgebieten sogar
Integrationsrückschritt. Sorgen Sie daher in Gent und in Laeken für
europäischen Fortschritt! Dabei haben Sie die volle Unterstützung meiner Fraktion.
Danke schön.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
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