Rede des Abgeordneten Michael Roth (SPD) zur Europadebatte im
Deutschen Bundestag
Vom 18. Oktober 2001
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In welch rasantem Tempo bewegt sich doch
Europa! Wir diskutieren heute über die Ratifizierung. Gestern hat das britische Unterhaus
den Ratifizierungsprozess abgeschlossen. Bei uns steht das heute an. Gleichzeitig werden
schon wichtige Weichenstellungen für die Zukunft Europas vorgenommen.
Zum Nizza-Vertrag gibt es viel Kritik, nicht nur bei der FDP, sondern auch bei uns, vor
allem bei den Europapolitikerinnen und Europapolitikern. Bei aller Kritik sollten wir
gleichwohl einen wesentlichen Aspekt nicht vergessen: Dieser Nizza-Vertrag macht die
Erweiterung der Europäischen Union endlich möglich. Er ist eine wesentliche Grundlage
für die nächsten Jahre der Beitrittsverhandlungen. Ohne den Nizza-Vertrag könnten die
Beitritte nicht so schnell erfolgen, wie wir alle im Deutschen Bundestag uns das
wünschen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Natürlich dürfen wir in unserer heutigen Debatte nicht versäumen, über den 11.
September zu sprechen; meine Vorrednerinnen und Vorredner haben das auch schon getan. Der
11. September ist für uns Europäerinnen und Europäer deshalb von so herausragender
Bedeutung, weil wir mit neuen zentralen Aufgaben konfrontiert werden. Bei uns in
Deutschland gibt es eine ernsthafte und auch notwendige Debatte darüber, ob wir uns und,
wenn ja, in welchem Umfang militärisch beteiligen und damit den Vereinigten Staaten und
dem Bündnis gegen den internationalen Terrorismus zur Seite stehen. Ich begrüße diese
Debatte. Wir dürfen aber nicht vergessen - ich finde es schade, dass das ein wenig in den
Hintergrund gerät -, dass wir als Bundesrepublik Deutschland im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus doch schon längst aktiv sind.
Ich hatte vor wenigen Wochen Gelegenheit, in den Vereinigten Staaten Gespräche zu
führen. Ich war überrascht davon, wie positiv das bundesdeutsche Engagement gewürdigt
wird. Meine Kolleginnen und Kollegen im Kongress haben anerkennend darauf hingewiesen,
dass die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland und der
Vereinigten Staaten hervorragend funktioniert. Die deutsch-britische Initiative, den
Finanzsumpf, aus dem sich alle diese Terrororganisationen, nicht nur al-Qaida,
finanzieren, endlich trockenzulegen, ist begrüßt worden. Das sind alles wichtige
Beiträge unseres Landes.
Wir führen eine ernsthafte Debatte darüber, wie wir die Entwicklungszusammenarbeit auf
neue Füße stellen. Auch das ist ein Punkt, bei dem wir endlich anerkennen müssen: Wir
werden mit nationalen Strategien allein diesen Kampf nicht erfolgreich werden führen
können. Es stellt sich die Frage, inwieweit wir Europa einbinden müssen. Dabei müssen
unsere nationalen Interessen zum Teil hintenanstehen.
Ich gehe auch davon aus, dass sich die Vereinigten Staaten mittelfristig zwar nicht aus
Europa zurückziehen werden. Sie werden sich aber aus Ermangelung an Alternativen auf den
asiatischen Bereich konzentrieren müssen. Sie werden sich auf die Stabilisierung von
Entwicklungsländern konzentrieren müssen, die noch keine intakte Demokratie haben, die
noch nicht über intakte rechtsstaatliche Strukturen verfügen. Deshalb wird es die
Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein, dafür zu sorgen, dass nicht nur die Teilung
Europas zwischen Ost und West überwunden wird, sondern dass auch der große
Versöhnungsauftrag in Südosteuropa erfolgreich auf den Weg gebracht wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir leisten dabei Erhebliches, nicht nur als Lead Nation jetzt bei der Mazedonienaktion.
Wir leisten Erhebliches in der Krisenprävention. Wir leisten auch Erhebliches bei der
Aufgabe, die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen zusammenzuführen. Das
ist der Lackmustest für Europa. Wenn wir diese Aufgabe im Balkan erfolgreich meistern und
zur Befriedung und Versöhnung beitragen, dann ist das auch ein Zeichen für die
Europäische Union: Deutschland kann und muss im internationalen Rahmen mehr Verantwortung
übernehmen.
Heute Morgen waren dankenswerterweise auch einige Ländervertreter anwesend,
(Dr. Peter Struck [SPD]: Die machen schon Feierabend!)
jetzt sind sie leider nicht mehr da. Ich halte deren Anwesenheit auch für notwendig, weil
in Gent - der Bundeskanzler hat das angemerkt - über die Kompetenzverteilung zwischen den
verschiedenen politischen Ebenen gesprochen wird.
Es ist eine spannende Diskussion. Wir alle verbinden etwas mit den Begriffen
"Kompetenzenkatalog", "Kompetenzabgrenzung". Dieses Thema ist schon
für die politische Agenda der Zukunftsdebatte festgelegt worden. Wir haben aber nicht die
Frage erörtert, was dies für uns bedeutet. Wenn wir über
"Kompetenzabgrenzung" sprechen - vor allem einige Länder -, dann verstehen wir
da runter immer das Instrumentarium gegen den Moloch Brüssel, der alle möglichen
Kompetenzen an sich gesaugt, der Länder, aber auch die Nationalstaaten schwächer gemacht
hat.
Gegenwärtig führen wir eine ganz andere Diskussion. Wir führen eine Diskussion
darüber, mit welchen Instrumentarien wir die EU im Bereich der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik, im Bereich der Verteidigungspolitik oder im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit neu auszustatten haben. Das sind alles Aufgaben, die dazu
führen werden, dass die Instrumentarien von den Nationalstaaten auf die europäische
Ebene verlagert werden. Das geschieht nicht, weil wir das nur toll finden, sondern weil es
alternativlos ist. Die Nationalstaaten müssen enger zusammenrücken, um den Aufgaben
gerecht zu werden, über die wir heute schon häufig diskutiert haben.
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
In der Bundesrepublik Deutschland führen wir diese Debatte über die Kompetenzabgrenzung
gerade in eine andere Richtung, als sei sie ein Schutzmechanismus gegen Europa. Wir
müssen die Debatte in eine andere Richtung führen, nämlich in Richtung eines
partnerschaftlichen Verhältnisses zur Europäischen Union.
Die Agenda der Zukunftsdebatte nimmt Kontur an. Der Bundeskanzler hat schon einige Aspekte
angesprochen, die über das hinausgehen, was in Nizza vereinbart wurde, eben auch auf
Initiative der Bundesregierung. Wenn wir neue Handlungsoptionen für die Europäische
Union wünschen und diese einfordern, weil es keine Alternative dazu gibt, wenn wir
erfolgreich sein wollen, dann müssen wir ernsthafter darüber nachdenken, wie die
Institutionen in Europa handlungsfähiger gemacht werden können.
Handlungsfähigkeit erwächst auch aus dem, was wir den Organen und Institutionen, vor
allem dem Institutionendreieck "Gerichtshof, Kommission und Parlament",
zutrauen. Diesbezüglich müssen wir noch eine ganze Menge auf den Weg zu bringen. Es ist
eine große Erwartung, dass das Institutionendreieck neu austariert wird. Denn mehr
Kompetenzen für die EU sind für uns nur akzeptabel sein, wenn auch mehr Demokratie in
die europäische Ebene Einzug hält.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Im Zusammenhang mit der Agenda der Zukunftsdebatte möchte ich einen anderen Punkt
erwähnen, der heute leider ein wenig zu kurz gekommen ist: Ich habe in den letzten
Monaten häufig versucht, mit jüngeren Leuten, mit Schulklassen, mit Jugendgruppen, zu
sprechen und dabei war - ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Kolleginnen und
Kollegen - die Globalisierung immer wieder ein entscheidendes Thema.
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Ja, sicher! Richtig!)
Wenn es um dieses Thema geht, dann äußern junge Leute ihre Angst. Um darauf zu
reagieren, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir sagen: "Das interessiert uns
nicht, zur Globalisierung gibt es keine Alternative, Globalisierung ist ein Faktum, mit
dem wir uns abzufinden haben",
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Wir gestalten!)
oder wir versuchen, mit den Kritikern und Bedenkenträgern in einen Dialog einzutreten.
Ich erwähne das Thema Globalisierung vor allem im europäischen Kontext. Wenn mir junge
Leute sagen: "Na ja, die Europäische Union ist genauso der Büttel der
Globalisierung wie die Staaten auch", dann besorgt mich das schon. Wir engagieren uns
doch vor allem deswegen in der Europäischen Union, weil wir die europäische Integration
als die Antwort auf die Globalisierung sehen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir stehen natürlich auf der Seite derjenigen, die kritische Fragen haben, zum Beispiel:
Wie kann man in einer offenen Weltwirtschaft, in der in Bruchteilen von Sekunden
Billionenbeträge um die Welt fließen, soziale Standards, ökologische Standards,
Standards in der Entwicklungszusammenarbeit zimmern, sodass die Menschen dabei nicht auf
der Strecke bleiben? Wir versuchen, auf Fragen wie diese eine Antwort zu geben. Ich
möchte nicht, dass junge Leute irgendwann auf die Straße gehen, um gegen Europa, gegen
die Europäische Union und gegen unsere Integrationsidee zu demonstrieren. Vielmehr
müssten diejenigen, die der Globalisierung kritisch gegenüberstehen, Freundinnen und
Freunde der europäischen Idee und des europäischen Gedankens werden.
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Müssen!)
Dafür gemeinsam zu kämpfen, wäre eine lohnende Aufgabe.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Die Europapolitikerinnen und Europapolitiker haben sich in den vergangenen Monaten sehr
engagiert und sehr leidenschaftlich um die Parlamentarisierung des verfassunggebenden
Prozesses bemüht. Dabei war das Thema Konvent oder, wie der Kollege Gloser sagte, die "K-Frage" ein wichtiger
Bestandteil. Die vergangenen Wochen haben manche notwendige Frage aufgeworfen. Wir sollten
die heutige Debatte ruhig einmal zum Anlass nehmen, uns wirklich darüber zu freuen, dass
wir bei der Konventsidee so weit gekommen sind.
Diejenigen von uns, die mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten
gesprochen haben, vor allem mit den Briten, werden noch vor einem halben Jahr oder vor
einem Dreivierteljahr wahrscheinlich gesagt haben: Na ja, das kann irgendwie nicht
funktionieren; die Briten sind total dagegen und debattieren darüber völlig
leidenschaftslos. Dass wir jetzt so weit sind, ist sicherlich auch ein Ergebnis des
partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung.
Dafür möchte ich allen Beteiligten einmal ganz herzlich danken!
Einige Fragen sind noch zu klären. Manche haben beispielsweise die Frage aufgeworfen, wie
die Beitrittsländer beteiligt werden. Es ist ein toller Erfolg, wenn die Beitrittsländer
ebenso wie die jetzigen Mitgliedstaaten beteiligt werden. Wenn die entsprechenden Länder
die jeweiligen Verträge unterzeichnet haben und der EU beigetreten sind, dann werden sie,
auch was das Stimmrecht angeht, gleichberechtigt sein.
Es gibt eine Debatte über die Dauer des Konvents. In der britischen Debatte wurde immer
von "firewall", also von einem möglichst großen Abstand zwischen der Arbeit
des Konvents und der Aufnahme der Tätigkeit der Regierungskonferenz, gesprochen. All das
ist kein Thema mehr. Wenn sich das durchsetzt, was die belgische Präsidentschaft
vorgeschlagen hat, dass nämlich darüber der Konvent selbst entscheiden möge, dann wäre
das ein großer Erfolg. Wir haben ein gutes Zeichen gesetzt, wenn die kritischen Debatten
über das Präsidium, also über das Moderationsgremium des Konvents, zur Folge haben,
dass es sich um ein zuvorderst parlamentarisches Gremium handelt, das sich maßgeblich aus
Repräsentantinnen und Repräsentanten des Europäischen Parlamentes und der nationalen
Parlamente zusammensetzt.
Wir sollten den Fehler nicht machen, uns nur auf die Debatte zwischen den deutschen
Europapolitikerinnen und Europapolitikern zu konzentrieren; vielmehr müssen wir auch auf
die Debatte in anderen Mitgliedstaaten schauen und daraus Konsequenzen ziehen.
Wir sollten auch einen zweiten Fehler nicht machen: Es ist gegenwärtig sehr einfach und
billig - ich verspüre das bei den Kolleginnen und Kollegen der Opposition -, die
Bundesregierung anzuklagen, weil sie sich nicht engagiert für etwas einsetzt, wofür wir
doch eigentlich alle sind. Einer solchen Strategie stehe ich mit sehr großen Vorbehalten
gegenüber. Die eigentliche Aufgabe des Konvents wird nämlich von uns, den
Parlamentarierinnen und Parlamentariern, bewältigt werden müssen. Es reicht nicht aus,
wenn wir die Debatte über die Parlamentarisierung des verfassungsgebenden Prozesses
ausschließlich und alleine den Europapolitikern der Fraktionen überlassen. Diese Aufgabe
muss gemeinsam von allen Fraktionen, von allen Kolleginnen und Kollegen geschultert
werden. Von einem Erfolg des Konvents haben wir alle etwas: starke handlungsfähige
Parlamente, engere Zusammenarbeit, mehr Demokratie, hoffentlich auch
mehr Transparenz in Europa. Das nutzt allen. Hoffentlich vermag Gent dazu einige wichtige
Beiträge zu leisten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
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