Rede des stellvertretenden Vorsitzenden des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union Dr. Jürgen Meyer (SPD) zur Europadebatte im
Deutschen Bundestag
Vom 18. Oktober 2001
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Hintze hat vorhin zunächst die Bundesregierung heftig
kritisiert
(Peter Hintze [CDU/CSU]: Zu Recht vor allen Dingen!)
und anschließend die Konventidee als einen bedeutenden Systemwechsel gefeiert, für den
wir uns, wie er sagte, gemeinsam einsetzen sollten. Das Zweite ist natürlich richtig;
aber es passt nicht ganz zum Ersten. Denn Sie haben ein wenig verdrängt, dass die
Konventidee eine Erfindung dieser Bundesregierung ist, die sie auf dem Kölner Gipfel
durchgesetzt hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir stimmen nachher über den Vertrag von Nizza ab. Dabei geht es zum einen um die in
diesem Vertrag versuchte Schaffung von Voraussetzungen für die Erweiterung der
Europäischen Union.
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Ja, das war nur ein Versuch!)
Zum anderen geht es darum, die dem Vertrag beigefügte Erklärung zur Zukunft der Union in
unsere künftigen Überlegungen aufzunehmen. Auf einen Satz gebracht: Ohne den
Nizza-Vertrag gäbe es das so genannte Post-Nizza-Verfahren nicht. Dies ist ein weiterer
gewichtiger Grund dafür, diesem Vertrag nachher zuzustimmen.
Wir sollten uns außerdem darauf besinnen - das haben die Redner der FDP zutreffend
hervorgehoben -, dass im Rahmen dieser Zukunftsdiskussion erkennbar wird: Es geht um eine
Themenerweiterung
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Richtig!)
und dabei genau um die Fragen, deren Beantwortung im Vertrag von Nizza aus meiner Sicht
zwar vorläufig gelungen ist, aber weiterentwickelt werden muss. Zum Beispiel ist die
Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen - da sind wir einer Meinung -
(Beifall des Abg. Dr. Helmut Haussmann [FDP])
ein Teil der Diskussion, die in der Zeit nach Nizza geführt werden muss.
Ich denke, wir sind auch einer Meinung, wenn ich feststelle, dass die Europäische Union
zur Verbesserung ihrer Handlungsfähigkeit nach außen und nach innen eine kohärente
Verfassung benötigt. Es ist eine Leistung der Bundesregierung, auf dem Gipfel von Nizza
auch dafür gesorgt zu haben, dass dies durch die Erklärung zur Zukunft der Union in das
Programm der Europäischen Union aufgenommen worden ist. Wir brauchen eine Verfassung auch
des halb, weil die Erweiterung der Europäischen Union durch die Aufnahme vieler neuer
Länder selbstverständlich mit der Gefahr der Stärkung zentrifugaler Kräfte verbunden
ist. Dieser Gefahr kann man nur begegnen, wenn man die Europäische Union gleichzeitig
vertieft. Darum geht es nicht zuletzt im Rahmen der Zukunftsdiskussion.
Vorhin ist mehrfach über den Konvent gesprochen worden. Deshalb gestatten Sie mir, dass
ich meine Redezeit dazu nutze, die Grundfragen, um die es bei dem künftigen Konvent geht,
zu skizzieren. Ich betone, dass mein Eindruck ist, dass wir uns dabei
fraktionsübergreifend einig sind und dass wir die volle Unterstützung der
Bundesregierung bei der überzeugenden Beantwortung von sechs Fragen haben:
Die erste Frage betrifft die Beteiligung der europäischen Öffentlichkeit an den
Diskussions- und Entscheidungsprozessen der Europäischen Union. Konstitutives Element der
Konventidee ist diese Einbeziehung der Öffentlichkeit, also auch die Einbeziehung der
Nichtregierungsorganisationen, der Zivilgesellschaft. Genau das hat der erste Konvent
versucht. Wir haben nicht nur öffentlich getagt, sondern auch anlässlich von Anhörungen
und einer Vielzahl von Veranstaltungen den Gedankenaustausch mit der Zivilgesellschaft
gesucht. Ich finde, die Zeit, in der europapolitische Weichenstellungen hinter
verschlossenen Türen erfolgten, muss vorbei sein. Das ist eine Begründung für die
Konventidee.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr wahr! Da
hat er Recht!)
Ich finde es auch gut, dass jetzt darüber diskutiert wird, zusätzlich zu diesem Konvent
ein Forum einzurichten, auf dem die Zivilgesellschaft zur Sprache bringen kann, was sie
für wichtig hält. Allerdings muss klar sein: Dieses Forum darf dem Konvent die
Verantwortung für die Erarbeitung von Vorschlägen für eine künftige Verfassung nicht
abnehmen.
(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wir machen keinen runden Tisch!)
Die zweite Frage, um die es geht, ist eben auch mehrfach angesprochen worden. Es handelt
sich um die Beteiligung der Parlamente. Ich bin der Auffassung, dass für die Legitimität
einer Verfassung das Verfahren, in dem sie entwickelt wird, genauso wichtig ist wie der
Inhalt dieser Verfassung. In diesem Zusammenhang ist die Beteiligung der Parlamente
wichtig. Sie dient einmal der ständigen Kommunikation zwischen den Delegierten, die auch
Parlamentsabgeordnete sind, und ihren Parlamenten. Zum anderen wird dadurch der Einfluss
der Parlamente überhaupt erst ermöglicht und verstärkt.
Wenn Sie den Text der Grundrechte-Charta und die Entschließungen des Bundestages hierzu
nebeneinander legen, werden Sie feststellen, wie viel von diesen Entschließungen in den
Text der Charta eingegangen ist. Ich will in diesem Zusammenhang die Forderung, Vertreter
der Delegierten zu wählen, mit Nachdruck unterstützen. Dies erweitert die
Kommunikations- und Einflussmöglichkeiten des Parlaments, auch der Minderheit im
Parlament, und es ist eine vertrauensbildende Maßnahme gegenüber dem ganzen Parlament. -
Entschuldigen Sie, Herr Kollege Altmaier, wenn ich Sie hier als vertrauensbildende
Maßnahme in die Debatte einführe.
(Christian Schmidt [Fürth) [CDU/CSU]: Das stimmt fast immer! - Peter Altmaier [CDU/CSU]:
Ist entschuldigt!)
Schließlich behaupte ich, dass die Sprache der künftigen europäischen Verfassung die
Sprache sein muss, die Menschen verstehen. Wenn man die bisherigen europäischen Dokumente
etwa mit der Sprache der Grundrechte-Charta vergleicht, sieht man: Das ist eine Sprache,
die normale Menschen, die nicht juristisch ge- oder auch verbildet sind, verstehen
können. Auch dies muss eine künftige europäische Verfassung durch die Beteiligung von
Parlamentariern leisten.
Die dritte Frage, um die es geht, ist die der Optionen. Da scheint mir noch einiges unklar
zu sein. Selbstverständlich wird der künftige Konvent keine fertige Verfassung in dem
Sinne vorlegen, dass der Europäische Rat diese Verfassung nur noch abnicken könnte, und
selbstverständlich wird entsprechend dem Vorschlag der belgischen Präsidentschaft der
Konvent dort, wo es Kontroversen gibt, nicht nur einen Vorschlag machen, sondern es wird
dann einen Mehrheits- und einen Minderheitsvorschlag geben. Das sind Optionen, wie sie
übrigens auch in den sehr wichtigen Diskussionsgrundlagen, die Bundeskanzler Gerhard
Schröder, Außenminister Joschka Fischer und Bundespräsident Johannes Rau geliefert
haben, deutlich werden. Daran sieht man, dass Optionen wichtig sein können, um die
Diskussion zu beleben.
Aber es macht überhaupt keinen Sinn, vom Konvent Optionen in dem Sinne zu verlangen, dass
er sich nur zu ausgewählten Fragen äußert, etwa in der Form von Schulaufsätzen, die
dann von einem Lehrerkollegium zensiert und angenommen oder verworfen werden. Wer hält
eine solche Arbeit denn eigentlich für sinnvoll?
Ich behaupte sogar: Optionen in diesem Sinne sind sachlich gar nicht möglich. Ich nenne
als Beispiel die wichtige Frage der Kompetenzen. Wie kann man sich seriös zur Frage der
Kompetenzen äußern, ohne zu wissen, wer sie erhalten soll, ob das zum Beispiel neben dem
Europäischen Parlament eine zweite Kammer in Form einer Staatenkammer sein soll oder ob
es eine Abgeordnetenkammer als dritte Kammer sein soll? Das steht in unauflösbarem
Sachzusammenhang.
Oder wie kann man sich seriös zu der Frage der Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta
äußern, wenn man damit nicht Überlegungen verbindet, wie ein individuelles
Beschwerderecht für alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zum
Europäischen Gerichtshof aussehen und gestaltet werden soll? Das gehört zusammen.
Ich will dazu ausdrücklich feststellen: Wer in diesen Tagen von der Bedeutung einer
europäischen Werteordnung spricht, muss sich selbstverständlich dafür einsetzen, dass
diese Werteordnung, wie sie in der Grundrechte-Charta formuliert ist, verbindlich wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die vierte Frage ist die nach dem Präsidium. Der künftige Präsident soll vom
Europäischen Rat ernannt werden. Ich fände es schöner, wenn er durch Wahl des Konvents
bestätigt würde. Wichtiger aber ist mir, dass der Konvent nicht entsprechend einem
Vorschlag, der wohl von einer Regierung stammt, die früher einmal die Präsidentschaft
inne hatte und gegen den Konvent war, durch eine Troika erweitert wird, also durch
Regierungsvertreter der jeweiligen, der vorangegangenen und der nächsten
Präsidentschaft. Diese Troika, die zu einem Präsidium von sieben oder acht Mitgliedern
führen und eine Minderheit der Parlamentsvertreter zur Folge haben würde, stößt auf
dreifache Kritik: Erstens. Die Minderheit der Parlamentarier wäre in einem solchen
Präsidium ihres Einflusses weitgehend beraubt. Zweitens. Dieses so ausgestaltete
Präsidium würde sich zu einer Art Oberkonvent entwickeln, neben dem der eigentliche
Konvent nur noch wenig zu melden hätte. Drittens. Die Besetzung des Präsidiums wäre
wechselnd, abhängig von dem Zufall, wer während der Arbeitszeit des Konvents das
Präsidium zuletzt hatte, gerade hat oder zu künftig haben wird.
Deshalb sage ich: Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben eine Bevormundung des
Konvents durch eine Steuerungsgruppe abgelehnt. Jetzt ein großes Präsidium zu
installieren, das eine Steuerung in den Konvent implantiert, hieße, auf einen Schelmen
zwei draufzusetzen. Das ist kein guter Weg.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Fünftens. Ich möchte eine kurze Bemerkung zu den Bewerberländern machen. In diesem
Punkt sind wir uns völlig einig. Ich danke der Bundesregierung für ihre Haltung, dass
die Bewerberländer stärker als im ersten Konvent berücksichtigt werden sollen. Sie
sollen nicht nur Beobachter sein. Man kann nicht den künftigen Mitgliedern der
Europäischen Union sagen: Hier ist eine Verfassung, deren Entstehung ihr beobachten
konntet, nun gilt sie für euch. - Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Deshalb sollten
die Bewerberländer zumindest beratende Stimme, Rederecht und Antragsrecht bekommen. Ich
freue mich über jede Stärkung der Mitwirkungsrechte der Bewerberländer, die demnächst
in Laeken durchgesetzt werden kann.
Sechstens. Ich komme zum Zeitfaktor: Es mag richtig sein, dem Konvent eine Frist zu
setzen, innerhalb deren er seine Arbeit abschließen muss. Dies entspräche dem Motto:
Ohne Zeitdruck passiert in der Europäischen Union wenig. Aber wenn diese Frist
beispielsweise ein Jahr beträgt, dann sollte ein Zwischenbericht vorgelegt werden. Dieser
Zwischenbericht sollte von den Parlamenten und in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
Die Beiträge sollten in den Schlussbericht eingehen. Der Konvent sollte zudem die
Möglichkeit haben, zumindest über das Präsidium mit dem Europäischen Rat zu
kommunizieren. Dies ist nicht möglich, wenn er vorher aufgelöst wird. Er sollte also
nicht durch Zeitablauf in ein tiefes Loch fallen, sondern auch 2004 seinen Einfluss
geltend machen können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mein Eindruck ist, dass wir - Parlament und Bundesregierung - in diesen Verfahrensfragen
im Wesentlichen einer Meinung sind. Diese Verfahrensfragen sind wichtig; denn hier geht es
um gelebte Demokratie in Europa. Wir sollten uns in der Sachdebatte nicht vorzeitig auf
einen bestimmten Text festlegen; denn erfahrungsgemäß - das hat der erste Konvent
gezeigt - kommt man dadurch mit den anderen Delegierten, die einen Text aus ihrer Sicht
vorlegen, nicht zu einer Übereinstimmung. Wichtig ist, dass die De legierten im Konvent
aufeinander zugehen und unterschiedliche Verfassungstraditionen und so etwas wie die
gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Europäischen Union berücksichtigen.
Wir haben von der Bundesregierung durch die Vorschläge, die ich er wähnte, schon jetzt
sehr gute Beratungsgrundlagen. Ich freue mich, dass der Konvent als Einrichtung ein
Konsensthema ist. Die noch offenen Fragen sollten in Laeken vernünftig geregelt werden.
Ich vertraue darauf, dass sich die Vernunft durchsetzt.
Lassen Sie uns auch bei der Vorbereitung des Europäischen Rates 2004 und bei den
notwendigen Weichenstellungen für die Zukunft der Europäischen Union
erneut mehr Demokratie wagen!
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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