Rede des europapolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion Peter
Hintze zur Europadebatte im Deutschen Bundestag
Vom 18. Oktober 2001
Peter Hintze (CDU/CSU) (von Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall
begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesen kritischen Zeiten können
wir feststellen: Es ist ein Glück, dass wir die Europäische Union haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Helmut Haussmann [FDP])
- Jetzt kommt es erst, Herr Haussmann. - Angesichts
der mageren Ergebnisse von Nizza müssen wir allerdings auch feststellen, dass es ein Pech
ist, dass für die Vorbereitung der Regierungskonferenz zu diesem Vertrag die rot-grüne
Regierung verantwortlich war.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich halte es für kühn, dass unser jetzt abwesender Bundeskanzler Schröder heute Morgen
hier an dieser Stelle wichtige europäische Staatsmänner zitierte, die vor einem
Stillstand warnen. Lateinisch könnte man das fast als eine Contradictio in adjecto
bezeichnen. Wer nämlich einen Blick in den Vertrag von Nizza wirft, stellt auch bei
liebevollster Würdigung fest, dass wir einem Stillstand sehr nahe gekommen sind.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Der Versuch des Außenministers, den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU auf der Basis der
Agenda 2000 anzugreifen, ist wohl nur mit dem Motto "Angriff ist die beste
Verteidigung" zu erklären.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Untauglicher Versuch!)
Alle Experten wissen, dass die Agenda 2000 einen kläglichen Kompromiss auf kleinstem
Nenner, geprägt von Visionslosigkeit darstellt, der aufgrund von Erschöpfung hier in
Berlin geboren wurde. Sie geht einfach davon aus, dass die von allen Parteien im Hause
geforderte und gewünschte Osterweiterung möglichst nicht während der Laufzeit dieser
Agenda stattfindet, da sie diese Erweiterung nicht tragen könnte. Das ist die Wahrheit
bei diesem Thema, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Warum kommt unsere Regierung in Europa so schlecht voran?
(Günter Gloser [SPD]: Das ist eine Unterstellung! Das stimmt doch nicht!)
Es fehlt an politischen Köpfen, es fehlt an visionärer Kraft und es fehlt an dem, was
Europa im Kern immer vorangebracht hat, nämlich ein gutes deutsch-französisches
Verhältnis.
(Widerspruch bei der SPD)
Vor Berlin und vor Nizza wurde zu seiner Verbesserung recht wenig getan.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deswegen muss das Parlament die Sache selbst in die Hand nehmen. Der Europa-Ausschuss
unter Vorsitz von Friedbert Pflüger hat die Initiative ergriffen und ein Treffen mit der
Assemblée Nationale arrangiert. Die Frage des Verfassungsvertrages überlassen wir nicht
mehr Regierungskonferenzen, bei denen, wie Nizza gezeigt hat, wenig herauskommt, obwohl
sie bis zur Erschöpfung getagt haben. Das Parlament nimmt vielmehr seine Angelegenheiten
selbst in die Hand. Das wollen wir alle mittragen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Es soll ja immer mehr Freude über einen Sünder, der zurückkehrt, als über 99 Gerechte
herrschen. Wir haben heute vom Herrn Bundeskanzler gehört, dass er den Euro gut findet.
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Jetzt geht es los!)
Das finde ich ja gut. Darüber wollen wir uns nicht beschweren. Es war einmal anders, doch
sollen keinem die Fehler der Vergangenheit nachgetragen werden. Werfen Sie aber einmal
einen Blick in die Broschüren unserer Bundesregierung zum Euro! Da wird der Euro - das
ist prima - als starke, stabile und zukunftsweisende Währung kräftig gelobt; zugleich
wird aber der Eindruck er weckt, die wahren Väter, Begründer und Gestalter des Euro
seien der heute abwesende Herr Eichel und der jetzt abwesende Herr Schröder. Vom
Erstgenannten weiß ich nicht, wie er früher über den Euro gedacht hat, vom Zweiten
weiß ich es. Beide haben nichts für den Euro getan. Wenn einer etwas dafür getan hat,
dann waren das Theo Waigel und Helmut Kohl. Das muss hier heute einmal gesagt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Bundesaußenminister hat - in Antwort auf Herrn
Kollegen Haussmann - hier gesagt, die Staaten, die
als Beitrittskandidaten gelten, hätten das Ergebnis von Nizza begrüßt. Solch eine
Äußerung ist schon hart an der Grenze zum Zynismus. Was sollen diese Staaten denn
machen? Wir können sie für die schwachen Ergebnisse, die die 15 EU-Staaten - leider
unter unserer Nichtführung -
(Günter Gloser [SPD]: Das wird auch so bleiben!)
- zustande gebracht haben, doch nicht haften lassen. Natürlich freuen sich diese jungen
Demokratien darüber, dass die formale Erweiterungsfähigkeit hergestellt ist. Aber damit
einen Nachweis über die Qualität der eigenen Arbeit zu verbinden, das ist doch etwas zu
viel des Selbstlobes.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Wir stimmen dem Vertrag von Nizza aus zwei Gründen zu:
Erstens. Auch wir wollen, dass der Erweiterungsprozess vorangeht, dass Europa seinen
Stabilitätsraum vergrößert und dass wir die Herausforderungen dieser Welt gemeinsam
annehmen.
Zweitens. In einer letzten Erkenntnis am Schluss der Konferenz von Nizza hatten die
Staats- und Regierungschefs selber das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann.
Deswegen haben sie die Tür für einen Prozess zur Erarbeitung eines Verfassungsvertrages
geöffnet, wie wir ihn schon seit vielen Jahren gefordert haben. Wir hoffen nun, dass es
in einer guten Weise zu diesem Verfassungsvertrag kommt. Daran werden wir als Parlament
uns sicherlich beteiligen.
Was hier geschieht, ist von historischer Bedeutung, auch wenn es keine große öffentliche
Aufmerksamkeit erringt. Es findet ein Systemwechsel in der Europäischen Union statt. Nach
Jahren und Jahrzehnten endloser Regierungskonferenzen mit früher guten und zum Schluss
schwachen Ergebnissen kommt es durch den Systemwechsel zu einer Parlamentisierung des
europäischen Vertragsprozesses. Das ist gut und richtig.
Wir als Parlament müssen aufpassen - ich bin dem Kollegen Roth
dank bar, dass er das hier angesprochen hat -, dass die Regierungen das, was in Nizza in
Erschöpfung, aber richtig entschieden wurde, nicht durch die Steuerung dieses Prozesses
durch die Hintertür wieder einfangen. Darauf müssen wir aufpassen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es ist zu lesen, meine Damen und Herren, dieser Konvent solle von einem Präsidium
gesteuert werden. In ihm sollten wieder die Regierungsvertreter die Mehrheit haben und er
solle nur unverbindliche Optionen auf zeigen. Das Ganze sieht doch danach aus, als würden
einige ihre Entscheidung von Nizza schon fast wieder bereuen. Wir müssen aufpassen, dass
dieser Konvent so konstruiert wird, dass er für Europa einen Fortschritt bringt. Des
wegen müssen wir zusehen, dass bei der Besetzung des Konvents die politischen Kräfte
fair vertreten sind. Darüber hinaus müssen wir das Instrument, das wir beim
Grundrechtekonvent genutzt haben, nämlich mitberatungsberechtigte Stellvertreter zur
Verbreiterung der parlamentarischen Basis einzusetzen, auch bei diesem Konvent für die
Erarbeitung des Verfassungsvertrages nutzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zum Inhalt. Es gibt zwei große Kernpunkte, und zwar zum Ersten die Kompetenzabgrenzung
nach dem Subsidiaritätsprinzip und zum Zweiten eine echte Gewaltenteilung. Ich habe dem Bundeskanzler gut zugehört. Ich freue mich, dass er
einen Vorschlag von uns aufgegriffen hat, nämlich den, die undemokratischste und langsam
nicht mehr sehr effiziente Einrichtung der Europäischen Union, den Rat, im Rahmen dieses
Verfassungsprozesses zu reformieren. Unser Vorschlag geht dahin, klar zwischen einem
Legislativ rat und einem Exekutivrat zu unterscheiden. Der Legislativrat sollte als zweite
Kammer für die europäische Gesetzgebung zuständig sein, und zwar mit einer festen
Zusammensetzung und öffentlichen Tagungen. Der Exekutivrat sollte sich um die übrigen
Aufgaben kümmern. Beim Legislativrat sollten die Fachministerräte und die
Fachausschüsse sein. Dadurch würden wir verhindern, dass sich Europa ebenso wie
Nordkorea noch ein Parlament erlaubt, das im Geheimen tagt. Das gibt es sonst nirgendwo
mehr auf der Welt.
Der Rat muss als Gesetzgebungsgremium in Zukunft öffentlich tagen. Er muss von den
Bürgern anerkannt werden und muss zur Rechenschaft gezogen werden können. Das würde
auch unsere parlamentarische Mitwirkung stark erleichtern. Wir sitzen im Europaausschuss
oder im Plenum zusammen, geben der Regierung Dinge mit auf den Weg und wissen gar nicht,
wie das Ergebnis zustande gekommen ist. Hier benötigen wir mehr Transparenz. Das bedeutet
mehr Demokratie in Europa.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nun beschäftigen sich viele in diesen Tagen zu Recht mit der inneren und äußeren
Sicherheit; dies zeigten heute auch alle Reden. Eines müssen wir in diesem Zusammenhang
jedoch kritisch feststellen: Vor zehn Jahren wurden in Maastricht die Voraussetzungen für
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie für eine gemeinsame Innen- und
Rechtspolitik geschaffen. In der faktischen Realisierung dieser Dinge sind wir weitgehend
stecken geblieben. Es ist eben von Tampere gesprochen worden. Das Lastenheft von Tampere
aus dem Jahr 1999 ist ziemlich lange liegen geblieben. Gestern hatten wir in einer
öffentlichen Sitzung des Europaausschusses den Präsidenten von Europol, Herrn Storbeck,
zu Gast, einen erstklassigen Mann, der aus dem deutschen Bundeskriminalamt kommt. Er sagte
uns, er freue sich, dass er nun Unterstützung erfahre, wäre aber froh, wenn diese
Unterstützung über den jeweiligen Anlass hinaus auf Dauer angelegt wäre, denn so
schnell könne man beispielsweise Aktivitäten zur Terrorismusbekämpfung aus dem Stand
heraus nicht aufbauen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Zur äußeren Sicherheit. Aus meiner Sicht ist es jetzt das Gebot der Stunde, die
europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die heute bloß auf dem Papier steht,
mit Leben zu erfüllen. Hier muss etwas geschehen und hier hat Deutschland eine
Führungsaufgabe. Das geht natürlich nicht, indem man auf der einen Seite die Bundeswehr
austrocknet und auf der anderen Seite Deklarationen abgibt, in denen steht, was man
vielleicht gemeinsam tun könnte. Nein, wir müssen unsere Streitkräfte in die Lage
versetzen, die Aufgaben, die sie wahrnehmen müssen, auch wahrnehmen zu können. Das gilt
in materieller ebenso wie in rechtlicher und in mentaler Hinsicht; Letzteres bedeutet,
dass wir uns hinter ihren Auftrag stellen. Außerdem müssen wir die in Europa vorhandenen
Synergien nutzen. Einen zaghaften Anfang gibt es mit den Krisenreaktionskräften als
integrierte Streitkräfte. Ich stelle mir vor, dass diese Krisenreaktionskräfte im Laufe
der nächsten zehn Jahre so, wie wir von CDU und CSU es in einem gemeinsamen Papier
beschrieben haben, zu einer handlungsfähigen europäischen Armee weiterentwickelt werden,
die wichtige Aufgaben wird übernehmen können.
Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angeht, so ist Mazedonien der einzige
Fall, bei dem ich von ganzem Herzen mit dem Außenminister übereinstimme. In Mazedonien
hat die Europäische Union erstmals mit Erfolg Verantwortung übernommen und hier ist sie
in der Lage gewesen, eine aktuelle Krise zu entschärfen. Dies sage ich trotz aller noch
bestehenden Probleme.
Es stellt einen guten Beitrag für das Bündnis dar, dass wir in Südosteuropa, auf dem
Balkan, die Vereinigten Staaten von Amerika stärker entlasten und die Aufgabe, die sich
in unserem eigenen Hause, in Europa, stellt, selber in die Hand nehmen. Dazu muss aber die
Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union effektiver gestaltet werden. Im
Moment haben wir ein Nebeneinander von rotierenden Ratsvorsitzenden, von Herrn Solana, der
eine sehr gute Arbeit leistet, und von Herrn Patten, der ebenfalls eine sehr gute Arbeit
macht. Nun geht Herr Hombach in die Privatwirtschaft, was uns die Chance gibt, eine
weitere Parallelstruktur aufzulösen und Aufgaben an die Kommission zurückzuverlagern.
All diese außen- und sicherheitspolitischen Funktionen müssen in einer europäischen
Exekutive zusammengefasst werden, damit das, was Europa tun könnte, von Europa auch
geleistet werden kann, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich komme zum Schluss. Frieden wird es in den kritischen Regionen der Welt, aber auch in
unserem europäischen Haus auf Dauer erst dann geben, wenn die Menschen in den jeweiligen
Regionen selber Träger des Friedens sind. Daher brauchen wir eine Friedensordnung für
Südosteuropa. Die Kollegen Lamers, Hedrich und ich haben dazu einen Vorschlag gemacht,
der auch in den eigenen Reihen heftig diskutiert worden ist. Uns geht es nicht um
Einzelheiten des Vorschlags, auch nicht um den Namen "Südosteuropäische
Union", sondern um die Idee: Wir brauchen eine regionale Zusammenarbeit im Hinblick
auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, die Schaffung eines
Infrastrukturnetzes und das gemeinsame Bestehen von Herausforderungen, eine
Zusammenarbeit, die einen Energieverbund und wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht und
durch die Minderheiten geschützt werden. Dazu bedarf es einer europäischen Perspektive,
die den Menschen in der Region klar macht, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand
nehmen können und wir sie dabei nicht alleine lassen.
Die Lösung für den Balkan kann nicht darin bestehen, dort auf 100 Jahre Soldaten zu
stationieren. Die Lösung für den Balkan muss vielmehr darin liegen, den Menschen und
Völkern auf dem Weg zu Frieden, Stabilität und Prosperität zu helfen und ihnen so eine
europäische Perspektive zu geben. Dazu wollen wir die geeigneten Strukturen schaffen.
Dazu brauchen wir einen europäischen Verfassungsvertrag und eine klare Gewaltenteilung.
Die CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause ist bereit, in der parlamentarischen Begleitung des
Post-Nizza-Prozesses daran konstruktiv mitzuwirken.
Wir stimmen dem Vertrag von Nizza heute zu, weil wir damit weiter
gehen und nicht stehen bleiben. Stillstand wäre das Schlimmste. Europa braucht ein
stärkeres Zusammenwirken, um den Herausforderungen der Welt begegnen zu können.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
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