Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zum Informellen Treffen des Europäischen Rates in Gent am 19. Oktober 2001 und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus

Vom 18. Oktober 2001


Gerhard Schröder, Bundeskanzler [SPD] (von der SPD sowie von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer bemerkenswerten Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am vergangenen Sonntag hat der Philosoph Jürgen Habermas die Hoffnung auf, wie er es genannt hat, eine Rückkehr des Politischen zum Ausdruck gebracht,

(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

und zwar als weltweit zivilisierende Gestaltungsmacht. Ich denke, es gibt in unserer jüngeren Geschichte wohl kaum ein Projekt, das diesem Wunsch so nahe kommt wie das Projekt der europäischen Integration. Dieses Projekt ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wir alle sind gefordert, es zu einer Erfolgsgeschichte auch des 21. Jahrhunderts zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Nach 1945 stand der unbedingte Wille im Vordergrund, die Geschichte der blutigen Kriege auf unserem Kontinent zu beenden. Insofern war Europa die äußerst erfolgreiche Antwort der Völker auf den Krieg. Darauf können wir stolz sein und wir sind es auch. Diese Erfahrung wollen wir Europäer auch den anderen Völkern dieser Welt zur Verfügung stellen.

Dabei wollen wir niemandem unsere bewährten Modelle der kooperativen Sicherheit, der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Integration auf drängen. Aber wir bieten diese Erfahrungen anderen Nationen und anderen Regionen zur Auswertung an, damit auch sie Strukturen der regionalen Stabilität, des Wohlstands und der Sicherheit aufbauen können.

Europa muss sich heute einer neuen Herausforderung stellen, einer Herausforderung, die zu einer neuen Antriebskraft im Integrationsprozess werden kann und, wie ich meine, werden muss. Ich meine die Friedenssicherung und die Herstellung von Sicherheit nicht nur auf unserem Kontinent und an den Rändern der Europäischen Union. Ich meine die weltweite Verantwortung Europas im Kampf gegen Hunger, Unterdrückung, Instabilität und Terrorismus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wenn ich in der vergangenen Woche davon gesprochen habe, dass wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen haben, schließt dies ausdrücklich unser Engagement in und für Europa ein; denn dieses Europa muss in den Krisen, die wir miteinander und mit unseren Freunden zu lösen haben, einen eigenen und sichtbaren Beitrag zur Lösung leisten können. Dafür müssen wir uns einsetzen.

In diesem Zeichen wird auch das morgige Gipfeltreffen der Europäischen Union in Gent stehen. Auch in Gent werden wir uns mit den terroristischen Angriffen auf die USA sowie mit der Lage nach Beginn der militärischen Operationen in Afghanistan beschäftigen. Wir werden dabei deutlich machen, dass diese militärischen Operationen völkerrechtlich legitime und durch die Beschlüsse des Weltsicherheitsrates legalisierte Maßnahmen zur Verteidigung unserer offenen und demokratischen Gesellschaften und zum Schutz des internationalen Friedens sind.

Dabei ist klar: Die militärischen Maßnahmen sind nicht gegen das afghanische Volk oder gar gegen den gesamten Islam gerichtet. Es geht eben nicht, wie häufig deutlich gemacht, um den Kampf der Kulturen, sondern es geht um den Schutz auch unserer zivilisierten Art zu leben gegen gesichts- und geschichtslose Barbarei.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dass dazu auch die Bereitschaft zu militärischen Beiträgen zählt, habe ich vor diesem Haus schon in aller Deutlichkeit klar gestellt. Ich füge hinzu: Wir sollten nicht glauben, dass die bislang von uns geleistete Unterstützung schon alles wäre, was wir in diesen Kampf einbringen können und was von uns erwartet werden wird. Die Einzelheiten sind zu gegebener Zeit zu diskutieren und hier im Parlament zu entscheiden, wenn es verfassungsrechtlich geboten ist.

Dabei will ich gleich darauf hinweisen: Niemand in der Bundesregierung hat die Absicht, in irgendeiner Form das Parlament in seinen Entscheidungsmöglichkeiten zu umgehen. Öffentlich geäußerte Ermahnungen in dieser Richtung sind überflüssig; die Bundesregierung braucht sie nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben - das ist klar - eine schwierige und langwierige Auseinandersetzung vor uns, in der die militärische Komponente - das gilt es immer wieder deutlich zu machen -, übrigens auch nach Auffassung des amerikanischen Präsidenten, nur ein Teil, allerdings ein wesentlicher Teil ist.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten haben am 21. September einen umfangreichen EU-Aktionsplan beschlossen, der die großen und schwierigen Aufgaben benennt und ihnen gerecht wird. In Gent wird es darum gehen, Fortschritte bei der Umsetzung dieses Aktionsplans zu erzielen. Die Verabschiedung des Aktionsplans zeigt, dass sich auch Europa durch die Ereignisse des 11. September verändert hat.

Europa muss und wird auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zusammenwachsen. Nur wenn wir gemeinsam Ressourcen bei Polizei und Justiz bereitstellen, können wir gewährleisten, dass es in der Europäischen Union keine Verstecke für Terroristen und andere Straftäter gibt. Alle Partnerregierungen haben klar erkannt, dass eine Intensivierung der Zusammenarbeit von Polizei, Geheimdienst und Justizbehörden für Europa und für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unabdingbar ist.

Was 1999 auf dem Gipfel im finnischen Tampere begonnen wurde wird jetzt ausgebaut. So werden wir die Befugnisse der europäischen Polizeibehörde Europol aus bauen und schon bald ein Kooperationsabkommen zwischen Europol auf der einen Seite und den zuständigen amerikanischen Behörden auf der anderen Seite schließen. Vor allem die Finanzierungsquellen der Terroristen müssen ausgetrocknet werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb ist die Ausweitung der Geldwäscherichtlinie so wichtig. Natürlich muss sie auch im Innern umgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Roland Claus [PDS])

Herr Gerhardt, in Bezug auf das, was Sie in der letzten Debatte gesagt haben, habe ich bei Hans Eichel nachgefragt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich auch!)

Er will Ihr Konto nicht führen - damit das klar ist. Dies soll weiterhin von Ihrer Sparkasse gemacht werden.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Heiterkeit bei der FDP - Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich habe mich schon bei ihm bedankt!)

Die terroristische Bedrohung ist aber auch eine Bewährungsprobe für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Die diplomatischen Aktivitäten der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten müssen sich zu einer schlüssigen außen- und sicherheitspolitischen Gesamtstrategie zusammen fügen. Der allgemeine Rat, also die Außenminister, haben gestern auf dem Weg dorthin Fortschritte gemacht.

Die erfolgreiche Einbindung Russlands in die Antiterrorallianz und die wichtige Rolle, die der deutsche Außenminister und andere europäische Politiker im Nahostkonflikt spielen, verdeutlichen das weltpolitische Potenzial der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, ein Potenzial, das noch mehr als in der Vergangenheit genutzt werden muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Europa wird sich seiner Verantwortung stellen. Wir werden im Nahostkonflikt in enger Abstimmung mit den USA - so ist es besprochen - weiterhin aktiv für den Frieden arbeiten.

Mit Bezug auf das gestrige Attentat will ich die Gelegenheit nutzen - ich denke, ich spreche im Namen des gesamten Hohen Hauses -, dem Premierminister Israels, seiner Regierung und den Angehörigen des ermordeten Ministers unser aller Beileid und unser Mitgefühl auszusprechen. Bei all dem, was vor uns liegt und was wir an politischem Druck auf beide Seiten entfalten müssen, ist für Deutschland nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch aus vielen anderen Gründen eines ganz klar: Das Lebensrecht Israels in gesicherten Grenzen steht für uns außerhalb jeder Frage. Das war immer so und das wird - ich denke, ich sage dies in unser aller Namen - auch so bleiben.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir werden zusammen mit den Vereinten Nationen ein langfristiges Stabilisierungskonzept für Afghanistan erarbeiten und umsetzen müssen. Hier wird Europa und wurden nicht nur die Mitgliedstaaten als Verbündete der Vereinigten Staaten von Amerika eine wichtige Rolle zu spielen haben. Auch und gerade in der Frage, die man als den Post-Taliban-Prozess bezeichnet, muss die Stimme Europas hörbar und müssen Aktivitäten Europas sichtbar werden. Europa wird sich für eine dauerhafte Einbindung arabischer und islamischer Staaten in die Antiterrorallianz einsetzen müssen und dies auch tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich habe von unserer neuen Verantwortung in Europa, aber auch für Europa gesprochen. Der Prozess der ökonomischen Integration hat mit der Herstellung des größten gemeinsamen Marktes der Welt und der Einführung einer gemeinsamen Währung seinen - ich betone: vorläufigen - Abschluss gefunden. Heute durchzieht die Europäische Union ein dichtes Netz von Handelsbeziehungen, Direktinvestitionen und anderen Transaktionen. Ohne diese Verflechtung hätte Europa niemals eine so starke Position im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten oder auch Japan erlangen können.

Aber Europa zeichnet weit mehr aus als wirtschaftliche Stärke, Leistungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsplätze. Europa ist mehr als ein Markt und - nach unserer Auffassung - auch mehr als ein geographischer Begriff. Europa ist auch ein Gesellschaftsmodell und eine Form des Zusammenlebens, die wir verteidigen und ausbauen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Europa ist auf die geistigen und sozialen Fundamente der europäischen Aufklärung gebaut und hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein reiches griechisches, römisches, jüdisches, christliches sowie islamisches Erbe angeeignet.

Wir in Europa haben nicht nur gelernt - das war vielfach schwierig genug -, Differenzen anzuerkennen. Wir haben auch gelernt, den Streit der Konfessionen und tief sitzende Rivalitäten oder gar Feindschaften der Nationalstaaten zu überwinden. Wir haben auch gelernt, Unterschiede als Bereicherung im friedlichen Miteinander und im Zusammenleben der Völker zu begreifen.

Europa steht für einen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Ausgleich. Der Gedanke der Teilhabe - der Teilhabe am Haben, aber auch am Sagen in der Gesellschaft - ist genuin europäisch. Aber erst durch die europäische Integration machen wir die Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität zu einem europäischen Modell, zu einer echten Wertegemeinschaft.

Gerade weil wir Europa als geschichtlich gewachsenes und kulturell an ziehendes Modell erhalten wollen, treten nicht nur wir Deutsche so vehement für die Vertiefung und die Erweiterung der Europäischen Union ein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben jetzt die einmalige Chance, unseren Kontinent wirklich zu einen und ihn - trotz aller aktuellen Schwierigkeiten, die wir miteinander überwinden werden - zu einem Ort dauerhaften Friedens und des Wohlergehens seiner Menschen zu machen. Doch das wird uns nur gelingen, wenn wir, begleitend zur Erweiterung der Union, das europäische Gesellschaftsmodell erhalten und - wo immer es geht und nötig ist - weiter ausbauen.

Darum betone ich noch einmal, dass wir im Kampf gegen den Terrorismus die Werte von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit um keinen Millimeter preisgeben dürfen. Ich betone auch, dass es in diesem Kampf keineswegs nur um Beistandsverpflichtungen von Freunden gegenüber den Vereinigten Staaten geht, sondern dass es - vor dem Hintergrund dessen, was ich gesagt habe - um die eigenen nationalen Interessen der Deutschen geht; denn wir sind am 11. September bei den Anschlägen in New York und Washington mit angegriffen worden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Deutlichstes Zeichen für die gewaltigen Fortschritte, die das europäische Integrationsprojekt in der Vergangenheit gemacht hat, ist die unumstößliche Tatsache, dass ab 1. Januar nächsten Jahres die 290 Millionen Bürgerinnen und Bürger in zwölf Mitgliedstaaten den Euro im wahrsten Sinne des Wortes in den Händen halten werden. Wir werden in Gent den Stand der Vorbereitung zur Einführung des Eurobargeldes zu erörtern und - wo nötig - Entscheidungen zu treffen haben. Bei dieser Frage - und nicht nur bei dieser - steht Deutschland gut da. Trotz der gewaltigen logistischen Herausforderung verlaufen Produktion und Ausgabe an die Banken nach Zeitplan. Befürchtungen, die Eurobargeldeinführung führe zu massiven Preissteigerungen, sind - so sieht es jedenfalls aus - unbegründet. Die Entwicklung der Inflationsraten widerlegt die Befürchtungen: Der An stieg der Lebenshaltungskosten der privaten Haushalte geht seit Mai wieder deutlich zurück; im September betrug die Preissteigerungsrate 2,1 Prozent.

Die Bundesregierung geht bei der Umstellung der DM-Preise auf Euro mit gutem Beispiel voran. Allein die Umstellung der Beträge in der Steuergesetzgebung wird die Bürger um jährlich bis zu 358 Millionen DM entlasten.

Der Deutsche Bundestag wird heute, wie ich hoffe, mit überwältigender Mehrheit dem Vertrag von Nizza zustimmen. Mit den institutionellen Reformen von Nizza wurden seitens der Europäischen Union die notwendigen Voraussetzungen für die Erweiterung geschaffen. Deutschland ist und bleibt einer der Motoren des Erweiterungsprozesses.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Na ja!)

In Nizza und Göteborg haben wir einen sehr ehrgeizigen Fahrplan für die Erweiterungsverhandlungen verabschiedet. Bis Ende 2002 sollen die Verhandlungen mit jenen Beitrittskandidaten abgeschlossen werden, die bis dahin die Bedingungen für einen Beitritt erfüllen. Wir wissen, dass die Beitrittsverhandlungen gut vorankommen.

Das ist zweifellos ein großer Erfolg für Kommissar Verheugen, dem ich zu seiner Arbeit gratulieren möchte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für alle Beitrittskandidaten gilt auch weiterhin der Grundsatz, dass die Erfüllung der Beitrittskriterien unerlässliche Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist. Hier sind - auch das gilt es zu unterstreichen - weitere erhebliche Eigenanstrengungen aller Kandidaten erforderlich. Wir werden dabei allerdings auch in Zukunft jede nur erdenkliche Unterstützung geben.

Polen hat eine zentrale Stellung im Beitrittsprozess. Ich wünsche mir - ich weiß, dass ich damit nicht allein bin -, dass Polen zu den Ländern gehört, die als Erste der Europäischen Union beitreten können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der PDS)

Es ist ein sehr erfreuliches Zeichen, dass sich die neue Regierung in Warschau zum Ziel gesetzt hat, die für einen raschen Beitritt notwendigen Bedingungen zu erfüllen, also dem Verhandlungsprozess ihrerseits eine neue Dynamik zu geben.

Wenn alle 15 Mitgliedstaaten den Vertrag von Nizza ratifiziert haben, ist der Weg zu einer Europäischen Union mit dann fast 30 Mitgliedstaaten endgültig frei. Schon in Nizza war allerdings klar, dass weitere Reformen notwendig sein werden, Reformen in Richtung mehr Transparenz, mehr Effizienz und natürlich mehr Bürgernähe. Auf meine Initiative hin wurde in Nizza für das Jahr 2004 eine neue Regierungskonferenz vereinbart. Dieser Regierungskonferenz soll eine breite, eine umfassende Debatte über die Zukunft Europas vorausgehen, an der alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt werden müssen. Damit wird sichergestellt, dass sich die notwendigen Reformen stärker an den Bedürfnissen der Menschen als an den Vorgaben der Bürokratie orientieren.

Entscheidend ist für mich die parlamentarische Dimension in der jetzt zu führenden Reformdebatte. Daher wird der institutionelle Kern des Prozesses, der jetzt anläuft, ein Konvent sein, der sich aus den Beauftragten der Staats- und Regierungschefs sowie aus Vertretern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission zusammensetzt. Die Außenminister haben über die Ausgestaltung dieses Konvents bereits weitgehend Einigkeit erzielt. Wichtig ist, dass die Beitrittsländer von Beginn an ein geladen sind; denn es geht um unsere gemeinsame europäische Zukunft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Helmut Haussmann [FDP])

Dieser Konvent soll Reformoptionen erarbeiten. Die endgültige Entscheidung über die konkreten Reformen muss dann - so sieht es das europäische Vertragswerk vor - einer abschließenden Regierungskonferenz überlassen bleiben.

Zentrales Thema der Zukunftsdiskussion wird die Notwendigkeit einer für die Bürgerinnen und Bürger besser nachvollziehbaren Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Union von denen der Mitgliedstaaten sein müssen. Wir haben uns in Nizza darauf verständigt, neben der Kompetenzabgrenzung den künftigen Status der Grundrechte-Charta, die einfachere und verständlichere Gestaltung der Verträge und die Rolle der nationalen Parlamente auf der Regierungskonferenz zu behandeln.

Diese Themenliste bedarf wichtiger Ergänzungen. Das europäische System der Gewaltenteilung muss stärker an den Grundsätzen der demokratischen Legitimität, der Effizienz und der Transparenz ausgerichtet werden. Im Kern geht es um die alles entscheidende Frage, wie eine so groß gewordene Europäische Union politisch führbar gehalten bzw. gemacht werden kann. Für mich heißt das: Notwendig sind eine deutliche Stärkung der Exekutivrechte der Kommission und der Rechte des Europäischen Parlaments, auch im Haushaltsverfahren. Der Rat muss dort, wo er legislativ tätig ist, in Richtung einer europäischen Staatenkammer weiterentwickelt werden. Die belgische Präsidentschaft hat die Reformdiskussion mit großem Nachdruck und großem Engagement vorbereitet. Sie hat dabei den Respekt und die volle Unterstützung der Bundesregierung.

Meine Damen und Herren, in dieser Woche hat eine Reihe verdienter, bedeutender Europäer, unter ihnen Jacques Delors, Jean-Luc Dehaene, Mario Soares, Felipe Gonzalez, Giuliano Amato und die ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, einen Appell für Europa vorgestellt. Einer der Kernsätze in diesem Appell lautet - ich zitiere -: Europa ist nur einer wirklich ernsthaften Gefahr ausgesetzt: dem Stillstand.

Diesem Satz, denke ich, kann man zustimmen. Ich betone aber ausdrücklich: Es gibt diesen Stillstand nicht und es darf ihn auch nicht geben, im Gegenteil: Wir haben die Kraft und den Willen, unser europäisches Projekt zu verteidigen, und gleichzeitig werden wir weiter nach Wegen für eine bessere und eine menschlichere Zukunft suchen. Wir sind bereit, Europa zu einem internationalen Akteur mit globalem Einfluss zu machen, und dies für unsere gemeinsamen Ziele: Frieden, gerechte Verteilung des Wohlstands, Solidarität, Demokratie, Menschenrechte und Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Identitäten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben vor - ich bin sicher, dass es gelingt -, das Gipfeltreffen von Gent zu einem wichtigen Markstein auf dem Weg zu diesen Zielen zu machen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Dieses Dokument ist Bestandteil von
Zur documentArchiv.de-Hauptseite

Weitere Dokumente finden Sie in den Rubriken


19. Jahrhundert

Deutsches Kaiserreich

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Bundesrepublik Deutschland

Deutsche Demokratische Republik

International

 

Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 195. Sitzung vom 18. Oktober 2001 (Plenarprotokoll 14/195).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zum Informellen Treffen des Europäischen Rates in Gent am 19. Oktober 2001 und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (18.10.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_schroeder_1018.html, Stand: aktuelles Datum.


Diese Dokumente könnten Sie auch interessieren:
Resolution des UN-Sicherheitsrats 1368 (12.09.2001)
Statement of the North Atlantic Council concerning the terroristic attacks against the United States of America (12.09.2001)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (12.09.2001)
Gemeinsame Erklärung Der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Der Präsidentin des Europäischen Parlaments, Des Präsidenten der Europäischen Kommission Und des Hohen Vertreters für die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (14.09.2001)
Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten (19.09.2001)
Address by the President of the United States to a Joint Session of Congress and the American People (20.09.2001)
Resolution des UN-Sicherheitsrats 1373 (28.09.2001)
NATO Speech Statement by the Secretary General of NATO Lord Robertson (02.10.2001)
Reden zur Europadebatte im Deutschen Bundestag vom 18.10.2001: Friedrich Merz (CDU), Günter Gloser (SPD), Dr. Helmut Haussmann (FDP), Joschka Fischer [Bundesaußenminister] (Bündnis 90/Die Grünen), Roland Claus (PDS), Michael Roth (SPD), Peter Hintze (CDU), Christian Sterzig (Bündnis 90/Die Grünen), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Uwe Hiksch (PDS), Dr. Jürgen Meyer (SPD) und Christian Schmidt (CSU)
Reden zum Thema "Sicherheit 21 - Was zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus jetzt zu tun ist" vom 18.10.2001: Wolfgang Bosbach (CDU), Ute Vogt (SPD), Dr. Max Stadler (FDP), Wolfgang Wieland [Justizsenator von Berlin] (Bündnis 90/Die Grünen), Petra Pau (PDS), Ursula Mogg (SPD), Jörg Schönbohm [Innenminister von Brandenburg] (CDU), Dr. Ludger Volmer [Staatsminister im Auswärtigen Amt], Otto Schily [Bundesinnenminister] (SPD), Dr. Günther Beckstein [Staatsminister des Innern von Bayern] (CSU) und Hermann Bachmaier (SPD)
Erklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zur Bereitstellung militärischer Kräfte für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus (06.11.2001)
Erklärung des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld zur Bitte um militärischen Beistand Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus (06.11.2001)
Antrag der Bundesregierung auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA (07.11.2001)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus (08.11.2001)
Reden zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom 08.11.2001: Friedrich Merz (CDU), Gernot Erler (SPD), Dr. Guido Westerwelle (FDP), Joschka Fischer [Bundesaußenminister] (Bündnis 90/Die Grünen), Roland Claus (PDS), Rudolf Scharping [Bundesverteidigungsminister] (SPD) und Michael Glos (CSU)


Dieses Dokument drucken!
Dieses Dokument weiterempfehlen!
Zur Übersicht »Bundesrepublik Deutschland (BRD)« zurück!
Die Navigationsleiste von documentArchiv.de laden!


Letzte Änderung: 03.03.2004
Copyright © 2001-2004 documentArchiv.de