Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD)
zum Informellen Treffen des Europäischen Rates in Gent am 19. Oktober 2001 und zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus
Vom 18. Oktober 2001
Gerhard Schröder, Bundeskanzler [SPD] (von der SPD sowie von
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer bemerkenswerten Rede
anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am vergangenen
Sonntag hat der Philosoph Jürgen Habermas die Hoffnung auf, wie er es genannt hat, eine
Rückkehr des Politischen zum Ausdruck gebracht,
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])
und zwar als weltweit zivilisierende Gestaltungsmacht. Ich denke, es gibt in unserer
jüngeren Geschichte wohl kaum ein Projekt, das diesem Wunsch so nahe kommt wie das
Projekt der europäischen Integration. Dieses Projekt ist die größte Erfolgsgeschichte
des 20. Jahrhunderts. Wir alle sind gefordert, es zu einer Erfolgsgeschichte auch des 21.
Jahrhunderts zu machen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Nach 1945 stand der unbedingte Wille im Vordergrund, die Geschichte der blutigen Kriege
auf unserem Kontinent zu beenden. Insofern war Europa die äußerst erfolgreiche Antwort
der Völker auf den Krieg. Darauf können wir stolz sein und wir sind es auch. Diese
Erfahrung wollen wir Europäer auch den anderen Völkern dieser Welt zur Verfügung
stellen.
Dabei wollen wir niemandem unsere bewährten Modelle der kooperativen Sicherheit, der
sozialen, politischen und wirtschaftlichen Integration auf drängen. Aber wir bieten diese
Erfahrungen anderen Nationen und anderen Regionen zur Auswertung an, damit auch sie
Strukturen der regionalen Stabilität, des Wohlstands und der Sicherheit aufbauen können.
Europa muss sich heute einer neuen Herausforderung stellen, einer Herausforderung, die zu
einer neuen Antriebskraft im Integrationsprozess werden kann und, wie ich meine, werden
muss. Ich meine die Friedenssicherung und die Herstellung von Sicherheit nicht nur auf
unserem Kontinent und an den Rändern der Europäischen Union. Ich meine die weltweite
Verantwortung Europas im Kampf gegen Hunger, Unterdrückung, Instabilität und
Terrorismus.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, wenn ich in der vergangenen Woche davon gesprochen habe, dass wir
uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen haben, schließt
dies ausdrücklich unser Engagement in und für Europa ein; denn dieses Europa muss in den
Krisen, die wir miteinander und mit unseren Freunden zu lösen haben, einen eigenen und
sichtbaren Beitrag zur Lösung leisten können. Dafür müssen wir uns einsetzen.
In diesem Zeichen wird auch das morgige Gipfeltreffen der Europäischen Union in Gent
stehen. Auch in Gent werden wir uns mit den terroristischen Angriffen auf die USA sowie
mit der Lage nach Beginn der militärischen Operationen in Afghanistan beschäftigen. Wir
werden dabei deutlich machen, dass diese militärischen Operationen völkerrechtlich
legitime und durch die Beschlüsse des Weltsicherheitsrates legalisierte Maßnahmen zur
Verteidigung unserer offenen und demokratischen Gesellschaften und zum Schutz des
internationalen Friedens sind.
Dabei ist klar: Die militärischen Maßnahmen sind nicht gegen das afghanische Volk oder
gar gegen den gesamten Islam gerichtet. Es geht eben nicht, wie häufig deutlich gemacht,
um den Kampf der Kulturen, sondern es geht um den Schutz auch unserer zivilisierten Art zu
leben gegen gesichts- und geschichtslose Barbarei.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Dass dazu auch die Bereitschaft zu militärischen Beiträgen zählt, habe ich vor diesem
Haus schon in aller Deutlichkeit klar gestellt. Ich füge hinzu: Wir sollten nicht
glauben, dass die bislang von uns geleistete Unterstützung schon alles wäre, was wir in
diesen Kampf einbringen können und was von uns erwartet werden wird. Die Einzelheiten
sind zu gegebener Zeit zu diskutieren und hier im Parlament zu entscheiden, wenn es verfassungsrechtlich geboten ist.
Dabei will ich gleich darauf hinweisen: Niemand in der Bundesregierung hat die Absicht, in
irgendeiner Form das Parlament in seinen Entscheidungsmöglichkeiten zu umgehen.
Öffentlich geäußerte Ermahnungen in dieser Richtung sind überflüssig; die
Bundesregierung braucht sie nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben - das ist klar - eine schwierige und langwierige Auseinandersetzung vor uns, in
der die militärische Komponente - das gilt es immer wieder deutlich zu machen -,
übrigens auch nach Auffassung des amerikanischen Präsidenten, nur ein Teil, allerdings
ein wesentlicher Teil ist.
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten haben am 21. September einen
umfangreichen EU-Aktionsplan beschlossen, der die großen und schwierigen Aufgaben benennt
und ihnen gerecht wird. In Gent wird es darum gehen, Fortschritte bei der Umsetzung dieses
Aktionsplans zu erzielen. Die Verabschiedung des Aktionsplans zeigt, dass sich auch Europa
durch die Ereignisse des 11. September verändert hat.
Europa muss und wird auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zusammenwachsen. Nur wenn wir
gemeinsam Ressourcen bei Polizei und Justiz bereitstellen, können wir gewährleisten,
dass es in der Europäischen Union keine Verstecke für Terroristen und andere Straftäter
gibt. Alle Partnerregierungen haben klar erkannt, dass eine Intensivierung der
Zusammenarbeit von Polizei, Geheimdienst und Justizbehörden für Europa und für die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union unabdingbar ist.
Was 1999 auf dem Gipfel im finnischen Tampere begonnen wurde wird jetzt ausgebaut. So
werden wir die Befugnisse der europäischen Polizeibehörde Europol aus bauen und schon
bald ein Kooperationsabkommen zwischen Europol auf der einen Seite und den zuständigen
amerikanischen Behörden auf der anderen Seite schließen. Vor allem die
Finanzierungsquellen der Terroristen müssen ausgetrocknet werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Deshalb ist die Ausweitung der Geldwäscherichtlinie so wichtig. Natürlich muss sie auch
im Innern umgesetzt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg.
Roland Claus [PDS])
Herr Gerhardt, in Bezug auf das, was Sie in der letzten Debatte gesagt haben, habe ich bei
Hans Eichel nachgefragt.
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich auch!)
Er will Ihr Konto nicht führen - damit das klar ist. Dies soll weiterhin von Ihrer
Sparkasse gemacht werden.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Heiterkeit bei der
FDP - Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich habe mich schon bei ihm bedankt!)
Die terroristische Bedrohung ist aber auch eine Bewährungsprobe für die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Die diplomatischen Aktivitäten
der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten müssen sich zu einer schlüssigen außen-
und sicherheitspolitischen Gesamtstrategie zusammen fügen. Der allgemeine Rat, also die
Außenminister, haben gestern auf dem Weg dorthin Fortschritte gemacht.
Die erfolgreiche Einbindung Russlands in die Antiterrorallianz und die wichtige Rolle, die
der deutsche Außenminister und andere europäische Politiker im Nahostkonflikt spielen,
verdeutlichen das weltpolitische Potenzial der Europäischen Union und ihrer
Mitgliedstaaten, ein Potenzial, das noch mehr als in der Vergangenheit genutzt werden
muss.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Europa wird sich seiner Verantwortung stellen. Wir werden im Nahostkonflikt in enger
Abstimmung mit den USA - so ist es besprochen - weiterhin aktiv für den Frieden arbeiten.
Mit Bezug auf das gestrige Attentat will ich die Gelegenheit nutzen - ich denke, ich
spreche im Namen des gesamten Hohen Hauses -, dem Premierminister Israels, seiner
Regierung und den Angehörigen des ermordeten Ministers unser aller Beileid und unser
Mitgefühl auszusprechen. Bei all dem, was vor uns liegt und was wir an politischem Druck
auf beide Seiten entfalten müssen, ist für Deutschland nicht nur aus historischen
Gründen, sondern auch aus vielen anderen Gründen eines ganz klar: Das Lebensrecht
Israels in gesicherten Grenzen steht für uns außerhalb jeder Frage. Das war immer so und
das wird - ich denke, ich sage dies in unser aller Namen - auch so bleiben.
(Beifall im ganzen Hause)
Wir werden zusammen mit den Vereinten Nationen ein langfristiges Stabilisierungskonzept
für Afghanistan erarbeiten und umsetzen müssen. Hier wird Europa und wurden nicht nur
die Mitgliedstaaten als Verbündete der Vereinigten Staaten von Amerika eine wichtige
Rolle zu spielen haben. Auch und gerade in der Frage, die man als den Post-Taliban-Prozess
bezeichnet, muss die Stimme Europas hörbar und müssen Aktivitäten Europas sichtbar
werden. Europa wird sich für eine dauerhafte Einbindung arabischer und islamischer
Staaten in die Antiterrorallianz einsetzen müssen und dies auch tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich habe von unserer neuen Verantwortung in Europa, aber auch für Europa gesprochen. Der
Prozess der ökonomischen Integration hat mit der Herstellung des größten gemeinsamen
Marktes der Welt und der Einführung einer gemeinsamen Währung seinen - ich betone:
vorläufigen - Abschluss gefunden. Heute durchzieht die Europäische Union ein dichtes
Netz von Handelsbeziehungen, Direktinvestitionen und anderen Transaktionen. Ohne diese
Verflechtung hätte Europa niemals eine so starke Position im Wettbewerb mit den
Vereinigten Staaten oder auch Japan erlangen können.
Aber Europa zeichnet weit mehr aus als wirtschaftliche Stärke, Leistungsfähigkeit,
Erfindergeist und Arbeitsplätze. Europa ist mehr als ein Markt und - nach unserer
Auffassung - auch mehr als ein geographischer Begriff. Europa ist auch ein
Gesellschaftsmodell und eine Form des Zusammenlebens, die wir verteidigen und ausbauen
wollen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dieses Europa ist auf die geistigen und sozialen Fundamente der europäischen Aufklärung
gebaut und hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein reiches griechisches, römisches,
jüdisches, christliches sowie islamisches Erbe angeeignet.
Wir in Europa haben nicht nur gelernt - das war vielfach schwierig genug -, Differenzen
anzuerkennen. Wir haben auch gelernt, den Streit der Konfessionen und tief sitzende
Rivalitäten oder gar Feindschaften der Nationalstaaten zu überwinden. Wir haben auch
gelernt, Unterschiede als Bereicherung im friedlichen Miteinander und im Zusammenleben der
Völker zu begreifen.
Europa steht für einen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen
Ausgleich. Der Gedanke der Teilhabe - der Teilhabe am Haben, aber auch am Sagen in der
Gesellschaft - ist genuin europäisch. Aber erst durch die europäische Integration machen
wir die Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus Individualität und
Solidarität zu einem europäischen Modell, zu einer echten Wertegemeinschaft.
Gerade weil wir Europa als geschichtlich gewachsenes und kulturell an ziehendes Modell
erhalten wollen, treten nicht nur wir Deutsche so vehement für die Vertiefung und die
Erweiterung der Europäischen Union ein.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben jetzt die einmalige Chance, unseren Kontinent wirklich zu einen und ihn - trotz
aller aktuellen Schwierigkeiten, die wir miteinander überwinden werden - zu einem Ort
dauerhaften Friedens und des Wohlergehens seiner Menschen zu machen. Doch das wird uns nur
gelingen, wenn wir, begleitend zur Erweiterung der Union, das europäische
Gesellschaftsmodell erhalten und - wo immer es geht und nötig ist - weiter ausbauen.
Darum betone ich noch einmal, dass wir im Kampf gegen den Terrorismus die Werte von
Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit um keinen Millimeter preisgeben dürfen. Ich
betone auch, dass es in diesem Kampf keineswegs nur um Beistandsverpflichtungen von
Freunden gegenüber den Vereinigten Staaten geht, sondern dass es - vor dem Hintergrund
dessen, was ich gesagt habe - um die eigenen nationalen Interessen der Deutschen geht;
denn wir sind am 11. September bei den Anschlägen in New York und Washington mit
angegriffen worden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Deutlichstes Zeichen für die gewaltigen Fortschritte, die das europäische
Integrationsprojekt in der Vergangenheit gemacht hat, ist die unumstößliche Tatsache,
dass ab 1. Januar nächsten Jahres die 290 Millionen Bürgerinnen und Bürger in zwölf
Mitgliedstaaten den Euro im wahrsten Sinne des Wortes in den Händen halten werden. Wir
werden in Gent den Stand der Vorbereitung zur Einführung des Eurobargeldes zu erörtern
und - wo nötig - Entscheidungen zu treffen haben. Bei dieser Frage - und nicht nur bei
dieser - steht Deutschland gut da. Trotz der gewaltigen logistischen Herausforderung
verlaufen Produktion und Ausgabe an die Banken nach Zeitplan. Befürchtungen, die
Eurobargeldeinführung führe zu massiven Preissteigerungen, sind - so sieht es jedenfalls
aus - unbegründet. Die Entwicklung der Inflationsraten widerlegt die Befürchtungen: Der
An stieg der Lebenshaltungskosten der privaten Haushalte geht seit Mai wieder deutlich
zurück; im September betrug die Preissteigerungsrate 2,1 Prozent.
Die Bundesregierung geht bei der Umstellung der DM-Preise auf Euro mit gutem Beispiel
voran. Allein die Umstellung der Beträge in der Steuergesetzgebung wird die Bürger um
jährlich bis zu 358 Millionen DM entlasten.
Der Deutsche Bundestag wird heute, wie ich hoffe, mit überwältigender Mehrheit dem
Vertrag von Nizza zustimmen. Mit den institutionellen Reformen von Nizza wurden seitens
der Europäischen Union die notwendigen Voraussetzungen für die Erweiterung geschaffen.
Deutschland ist und bleibt einer der Motoren des Erweiterungsprozesses.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Na ja!)
In Nizza und Göteborg haben wir einen sehr ehrgeizigen Fahrplan für die
Erweiterungsverhandlungen verabschiedet. Bis Ende 2002 sollen die Verhandlungen mit jenen
Beitrittskandidaten abgeschlossen werden, die bis dahin die Bedingungen für einen
Beitritt erfüllen. Wir wissen, dass die Beitrittsverhandlungen gut vorankommen.
Das ist zweifellos ein großer Erfolg für Kommissar Verheugen, dem ich zu seiner Arbeit
gratulieren möchte.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Für alle Beitrittskandidaten gilt auch weiterhin der Grundsatz, dass die Erfüllung der
Beitrittskriterien unerlässliche Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der
Europäischen Union ist. Hier sind - auch das gilt es zu unterstreichen - weitere
erhebliche Eigenanstrengungen aller Kandidaten erforderlich. Wir werden dabei allerdings
auch in Zukunft jede nur erdenkliche Unterstützung geben.
Polen hat eine zentrale Stellung im Beitrittsprozess. Ich wünsche mir - ich weiß, dass
ich damit nicht allein bin -, dass Polen zu den Ländern gehört, die als Erste der
Europäischen Union beitreten können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU,
der FDP und der PDS)
Es ist ein sehr erfreuliches Zeichen, dass sich die neue Regierung in Warschau zum Ziel
gesetzt hat, die für einen raschen Beitritt notwendigen Bedingungen zu erfüllen, also
dem Verhandlungsprozess ihrerseits eine neue Dynamik zu geben.
Wenn alle 15 Mitgliedstaaten den Vertrag von Nizza ratifiziert haben, ist der Weg zu einer
Europäischen Union mit dann fast 30 Mitgliedstaaten endgültig frei. Schon in Nizza war
allerdings klar, dass weitere Reformen notwendig sein werden, Reformen in Richtung mehr
Transparenz, mehr Effizienz und natürlich mehr Bürgernähe. Auf meine Initiative hin
wurde in Nizza für das Jahr 2004 eine neue Regierungskonferenz vereinbart. Dieser
Regierungskonferenz soll eine breite, eine umfassende Debatte über die Zukunft Europas
vorausgehen, an der alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt werden müssen. Damit wird
sichergestellt, dass sich die notwendigen Reformen stärker an den Bedürfnissen der
Menschen als an den Vorgaben der Bürokratie orientieren.
Entscheidend ist für mich die parlamentarische Dimension in der jetzt zu führenden
Reformdebatte. Daher wird der institutionelle Kern des Prozesses, der jetzt anläuft, ein
Konvent sein, der sich aus den Beauftragten der Staats- und Regierungschefs sowie aus
Vertretern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Europäischen
Kommission zusammensetzt. Die Außenminister haben über die Ausgestaltung dieses Konvents
bereits weitgehend Einigkeit erzielt. Wichtig ist, dass die Beitrittsländer von Beginn an
ein geladen sind; denn es geht um unsere gemeinsame europäische Zukunft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Helmut Haussmann
[FDP])
Dieser Konvent soll Reformoptionen erarbeiten. Die endgültige Entscheidung über die
konkreten Reformen muss dann - so sieht es das europäische Vertragswerk vor - einer
abschließenden Regierungskonferenz überlassen bleiben.
Zentrales Thema der Zukunftsdiskussion wird die Notwendigkeit einer für die Bürgerinnen
und Bürger besser nachvollziehbaren Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Union
von denen der Mitgliedstaaten sein müssen. Wir haben uns in Nizza darauf verständigt,
neben der Kompetenzabgrenzung den künftigen Status der Grundrechte-Charta, die einfachere
und verständlichere Gestaltung der Verträge und die Rolle der nationalen Parlamente auf
der Regierungskonferenz zu behandeln.
Diese Themenliste bedarf wichtiger Ergänzungen. Das europäische System der
Gewaltenteilung muss stärker an den Grundsätzen der demokratischen Legitimität, der
Effizienz und der Transparenz ausgerichtet werden. Im Kern geht es um die alles
entscheidende Frage, wie eine so groß gewordene Europäische Union politisch führbar
gehalten bzw. gemacht werden kann. Für mich heißt das: Notwendig sind eine deutliche
Stärkung der Exekutivrechte der Kommission und der Rechte des Europäischen Parlaments,
auch im Haushaltsverfahren. Der Rat muss dort, wo er legislativ tätig ist, in Richtung
einer europäischen Staatenkammer weiterentwickelt werden. Die belgische Präsidentschaft
hat die Reformdiskussion mit großem Nachdruck und großem Engagement vorbereitet. Sie hat
dabei den Respekt und die volle Unterstützung der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, in dieser Woche hat eine Reihe verdienter, bedeutender Europäer,
unter ihnen Jacques Delors, Jean-Luc Dehaene, Mario Soares, Felipe Gonzalez, Giuliano
Amato und die ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, einen Appell für
Europa vorgestellt. Einer der Kernsätze in diesem Appell lautet - ich zitiere -: Europa
ist nur einer wirklich ernsthaften Gefahr ausgesetzt: dem Stillstand.
Diesem Satz, denke ich, kann man zustimmen. Ich betone aber ausdrücklich: Es gibt diesen
Stillstand nicht und es darf ihn auch nicht geben, im Gegenteil: Wir haben die Kraft und
den Willen, unser europäisches Projekt zu verteidigen, und gleichzeitig werden wir weiter
nach Wegen für eine bessere und eine menschlichere Zukunft suchen. Wir sind bereit,
Europa zu einem internationalen Akteur mit globalem Einfluss zu machen, und dies für
unsere gemeinsamen Ziele: Frieden, gerechte Verteilung des Wohlstands, Solidarität,
Demokratie, Menschenrechte und Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Identitäten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben vor - ich bin sicher, dass es gelingt -, das Gipfeltreffen
von Gent zu einem wichtigen Markstein auf dem Weg zu diesen Zielen zu machen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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