Rede des Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen Prof. Dr.
Kurt Biedenkopf (CDU) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
(Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat
vom 22. März 2002
Prof. Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen): Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Herr Präsident, ich möchte Ihnen zunächst sehr herzlich für die
liebenswürdigen Worte der Verabschiedung danken. Ich habe mich in diesem Hohen Hause
immer sehr wohl gefühlt. Nachdem ich die Veränderung überwunden hatte, die jeder Redner
im Bundesrat erfährt, nachdem er bisher nur in Parlamenten - im Bundestag oder im Landtag
- geredet hat, waren eine gute Atmosphäre und die Bemühungen der Länder um das
Gemeinwohl, die auch in der Ministerpräsidentenkonferenz zum Ausdruck kommen, ermutigend.
Sie, Herr Präsident, haben - und ich danke Ihnen dafür - meine Bemühungen um das Wohl
des Landes und um die Erörterung grundsätzlicher Fragen hervorgehoben. Das ist auch der
Grund dafür, dass ich mich in dieser Debatte zu Wort melde.
Ich möchte mich dabei auf zwei Aspekte des Gesetzes
zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung beschränken, und zwar auf die
arbeitsmarktpolitischen Aspekte. In diesem Bereich sind zwei Gesichtspunkte zu
unterscheiden: die Zuwanderung von Spezialisten und die Zuwanderung aus demografischen und
anderen Gründen in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Zuwanderung von Spezialisten findet bereits statt. Die Initiative, durch die so
genannte Green Card solche Zuwanderungen auf administrative Weise zu ermöglichen,
war verdienstvoll. Es war sinnvoll, das zu tun. Aber die Debatte über diese Fragen
ist nicht konsequent fortgeführt worden. Das Erste, was in der Debatte anklang, aber
bisher nicht zu wirklichen Konsequenzen geführt hat, ist die erstaunliche Tatsache, dass
Deutschland, das vor 70 Jahren noch ein führendes Wissenschaftsland der Welt war, mit
seinen 82 Millionen Einwohnern heute darauf angewiesen ist, Spezialisten zu importieren,
weil es offenbar nicht in der Lage war, selbst eine ausreichende Zahl von Spezialisten
heranzubilden.
Es hätte nahe gelegen, im Zusammenhang mit der Feststellung des Defizits eine breit
angelegte Kampagne in Deutschland in Gang zu setzen, die die Beurteilung und die
Diskussion der Frage zum Gegenstand hat, was die Ursachen für dieses Defizit sind. Die
Ursachen sind überwiegend, wenn nicht ausschließlich hausgemacht. Aber bis heute sind
keine durchgreifenden Konsequenzen erkennbar.
Unsere Hochschulen bewegen sich nach wie vor in einem engen Korsett der Reglementierung
durch Bund und Länder. Es findet zu wenig Wettbewerb statt. Es sind zu wenig
alternative Möglichkeiten der Entwicklung vorhanden. Entscheidende Zukunftsinvestitionen
fehlen. Die Einwerbung von Spezialisten zur Deckung solcher Defizite ist nicht nur keine
Lösung auf Dauer, sondern sie ist auch sehr problematisch.
Wir können zwar in Europa einwerben - später auch bei den Beitrittsländern -, aber die
Wirkung, wenn man dies zum dauerhaften Prinzip erklärt, wird sein, dass wir im
Wesentlichen dort einwerben, wo Spezialisten weniger verdienen und weniger Möglichkeiten
haben, d.h. in den Beitrittsländern und in den Schwellenländern. Was wir damit tun, kann
man zusammenfassend als Externalisierung politischer Kosten bezeichnen, die im
eigenen Land entstehen würden, wenn wir selbst große Anstrengungen unternähmen, die
Defizite zu beseitigen. Kurzfristig ist es akzeptabel, dass wir anwerben. Aber dafür
brauchen wir kein Gesetz. Langfristig ist es keine für Deutschland akzeptable Politik.
Meine Bemerkungen beziehen sich zum Zweiten auf die Zuwanderung aus
arbeitsmarktpolitischen Gründen, die von der Wirtschaft gewünscht wird; diesem
Wunsch entspricht das Gesetz. Auch da scheint mir, dass eine ausreichende Debatte über
diesen langfristig wirksamen und in seinen Dimensionen möglicherweise tief greifenden
Einschnitt in unsere bisherige Entwicklung zu wenig geführt worden ist.
Zunächst einmal braucht man kein Zuwanderungsgesetz für die Mobilität in Europa.
Wir haben einen Arbeitsmarkt von 377 Millionen Menschen, in dem Freizügigkeit besteht.
Die Freizügigkeit wird sich im Laufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts
auf die Beitrittsländer erstrecken. Das bedeutet, Ende dieses Jahrzehnts - 2010,
2011, 2012 - werden weitere rund 100 Millionen Menschen der Europäischen Union
angehören, so dass wir eine Bevölkerung von fast 500 Millionen haben werden, in der ohne
Zuwanderungsgesetz Arbeitsmärkte angezapft oder
ausgeschöpft werden können, wenn es bei uns Defizite gibt. Das geschieht auch schon.
Das heißt, die Zuwanderung, von der hier die Rede ist, ist keine Zuwanderung aus dem
europäischen Kulturkreis. Diese Tatsache ist in der Debatte weitgehend unerörtert
geblieben. Sie hat aber enorme Konsequenzen.
Aus demografischen Gründen ist eine Zuwanderung nach Deutschland im
ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht notwendig. Wir haben im Augenblick mit
über 70% den höchsten Anteil der Erwerbsbevölkerung, den Deutschland im gesamten 21.
Jahrhundert haben wird. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Kinder
wesentlich zurückgegangen ist und die Zahl der Alten noch nicht sehr hoch ist. Das wird
sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verändern, dann allerdings mit erheblicher
Geschwindigkeit.
Es gibt aber keinen Zwang, die arbeitsmarktpolitisch motivierte Zuwanderung jetzt schon
und dann noch unter Bedingungen zur Entscheidung zu führen, die jedenfalls in den Augen
der Bevölkerung, die davon betroffen sein wird, wenig überzeugend sind.
Wiederum handelt es sich um hausgemachte Probleme. Selbstverständlich könnten wir
bei einer entsprechenden Reform des Arbeitsmarktes, bei einer entsprechenden Reform und
Veränderung der sozialen Systeme Arbeitsmarktpotenziale ausschöpfen, die es in
Deutschland gibt und die zurzeit nicht ausgeschöpft werden.
Das ist mit erheblichen politischen Kosten verbunden, und abermals neigen wir dazu, diese
Kosten zu externalisieren - diesmal auch auf die nachkommenden Generationen. Die
Europäische Union hat unsere Unbeweglichkeit in Deutschland kritisiert, die dazu führt,
dass wir unsere eigenen Potenziale nicht ausreichend ausschöpfen können.
Es ist aber nach meiner Auffassung unzulässig, ohne eine grundlegende Debatte mit
der Bevölkerung über die Frage, ob wir Einwanderung aus anderen Kulturkreisen nach
Deutschland in größerem Umfang befördern wollen, eine solche Entscheidung zu treffen.
Darum geht es nämlich; es geht nicht um die Zuwanderung aus dem europäischen
Kulturkreis. Ich habe schon gesagt, dass es auch hier keinen unmittelbaren Handlungsbedarf
gibt.
Wenn die Steuerung des Arbeitsmarktes auf der jetzigen Grundlage, von der Wirtschaft und
anderen erwünscht, so angelegt wird, müssen wir uns aber darüber im Klaren sein, dass
wir die damit verbundenen Probleme nicht nur ohne ausführliche Diskussion mit der
gegenwärtigen Erwerbsbevölkerung, sondern vor allen Dingen zu Lasten der nachkommenden
Generationen lösen wollen. Denn eine umfänglichere Zuwanderung aus Kulturkreisen, die
außerhalb Europas liegen, wird eine dauerhafte Veränderung in Deutschland zur
Folge haben. Das kann man akzeptieren, das kann man auch wollen, aber das muss man wissen.
Diese Veränderungen verteilen sich nicht gleichmäßig über das Land, sondern sie
erfolgen in den Ballungszentren, die in der Regel Ziel der Zuwanderung sind.
Ich halte es nicht für vertretbar, eine solche arbeitsmarktbedingte Zuwanderung ohne eine
wirkliche Aufklärung über diese Zusammenhänge jetzt in Kraft zu setzen.
Langfristig allerdings werden wir in Deutschland enorme demografische Probleme bekommen.
Ich darf mit Blick auf meine letzte Teilnahme im Bundesrat sagen:Wenn es eine wirkliche
Sorge gibt, mit der ich die aktive Politik verlasse - jedenfalls im Sinne der
institutionellen Politik -, dann auf Grund des Umstandes, dass wir bisher in Deutschland
nicht in der Lage gewesen sind, uns mit den langfristigen Veränderungen in unserem
Land als Folge der demografischen Entwicklung ernsthaft zu befassen.
Wir haben es in Ansatzpunkten zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Rentenreform getan.
Aber auch dort war die Debatte unzureichend. Wenn meine Enkel 40 Jahre alt sind, werden
40% der Bevölkerung in Deutschland über 60 Jahre alt sein. Wenn man von der erwachsenen
Bevölkerung, also 18 Jahre und älter, ausgeht, dann wird der so genannte Median - die
Hälfte der Bevölkerung jünger, die Hälfte der Bevölkerung älter - bei knapp 50
Jahren liegen.
Das ist eine fundamentale Veränderung nicht nur der Bevölkerung, sondern des gesamten
Lebens in unserem Land. Wir werden ein anderes Konsumverhalten haben. Wir werden andere
Infrastrukturmaßnahmen ergreifen müssen. Der Städtebau wird davon betroffen. Die
Investitionsbildung, die Konsum- und Investitionsverteilung des Volkseinkommens - alles
wird sich ändern.
Man sage mir bitte nicht, dass das alles noch 30 Jahre vor uns liege. Wir alle in diesem
Haus kennen die Gesetzmäßigkeiten langfristig angelegter politischer Entscheidungen. Es
dauert lange, bis man sich entschieden hat. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir bei der
Rentenreform endlich zu der Erkenntnis gekommen sind, dass man neben dem Umlageverfahren
auch ein anderes, nämlich ein kapitalfinanziertes Verfahren braucht, obwohl die
Entwicklung seit den 70er-Jahren vorhersehbar war.
Die Entwicklung, von der ich rede, ist vorhersehbar. Sie steht mehr oder weniger fest, und
es muss eine Debatte in unserem Land darüber geben, wie wir mit ihr langfristig fertig
werden wollen, ehe wir Teilbausteine, aus dem Zusammenhang herausgelöst, entwickeln, ohne
über die Konsequenzen der jeweils eingeschlagenen Wege zu diskutieren.
Wenn wir uns langfristig mit der demografischen Entwicklung auseinander setzen wollen,
dann ist Einwanderung notwendig, aber keine ausreichende oder alleinige Strategie, sondern
es müssen zwei weitere Dinge hinzutreten.
Zum einen müssen wir uns auf eine alternde Bevölkerung einrichten. Das
heißt aber vor allen Dingen: Zukunftslasten abbauen, nicht nur die Neuverschuldung. Die
kommenden Jahrgänge und die kommenden Generationen müssen entlastet werden. Wenn wir
wirklich ehrlich sind, müssen wir sagen, dass meine Enkel meinen Kindern keine Rente
bezahlen werden, wie sie heute im Umlageverfahren versprochen wird, weil sie es nicht
können, es sei denn, die jetzt aktive Generation bildet in großem Umfang Vermögen. Je
mehr die Vermögensbildung zur Kapitalintensivierung der Wirtschaft beiträgt, desto
besser kann man mit einer zahlenmäßig geringeren Arbeitsbevölkerung zurechtkommen. Das
geschieht aber nur sehr unvollkommen.
Wir müssen zum anderen die bescheidenen Möglichkeiten ausschöpfen, die wir haben, um
das Geburtenverhalten, d.h. die Familienbildung, zu fördern, damit Frauen und Männer
unter besseren Voraussetzungen, als es heute nach ihrer subjektiven Auffassung der Fall
ist, Kinder in die Welt setzen können.
Ich nenne drittens die Einwanderungsstrategie. Hierzu will ich zum Schluss sagen, dass wir
auch über die Integrationskosten auf andere Weise reden müssen. Es ist richtig,
dass sich Bund und Länder darüber unterhalten - um nicht zu sagen:streiten -, wer die
Kosten für den Deutschunterricht bezahlen soll. Aber es ist eine schlichte Illusion zu
glauben, dass die Frage der Integrationskosten damit erledigt wäre. Es gibt erhebliche
zusätzliche Integrationskosten, die in jeder Gemeinde und in jeder Stadt anfallen und die
nicht nur finanzieller, sondern auch emotionaler Art sind. Die deutsche Bevölkerung muss
bei der Integration mitmachen. Glauben wir doch bitte nicht, dass es, wenn wir 150 000 bis
200 000 Nettozuwanderungen haben, ohne die aktive Beteiligung der deutschen Bevölkerung
möglich ist, Integrationsleistungen zu erbringen, vor allem dann, wenn die Einwanderung
aus anderen Kulturräumen erfolgt! Wenn das aber nicht gelingt, wird es keine Integration
geben, sondern dann werden sich Cluster von Menschen gleichen Glaubens, gleicher
Hautfarbe, gleicher Herkunft bilden. Das ist im Grunde ein normaler Prozess; er stellt uns
aber vor völlig andere Integrationsaufgaben.
Meine Damen und Herren, es kann nicht angehen, dass deutsche Eltern nicht öffentlich
über die Frage reden und diskutieren dürfen, ob es sinnvoll ist, in einer Schulklasse
eine Mehrheit integrationsbedürftiger ausländischer Kinder zusammen mit einer Minderheit
deutscher Kinder zu unterrichten. Solange die Mehrheit der integrationsbedürftigen Kinder
das deutsche Niveau nicht erreicht hat, ist das nicht sinnvoll. Wir müssen uns also
darüber unterhalten, wie wir das in Zukunft organisieren wollen. Angesichts einer
zahlenmäßig kleiner werdenden Kinder- und Jugendlichengeneration haben wir die Aufgabe,
jedes Talent auszuschöpfen. Das heißt, wir müssen alles tun, damit die Kinder, die
jetzt in die Schule gehen und die in 10, 15 Jahren in die Schule gehen werden, jede nur
erdenkliche Ermutigung bekommen, das zu entwickeln, was in ihnen steckt. Das darf nicht
dadurch verbaut werden, dass man die Schule gleichzeitig als Integrationsort benutzt,
solange diejenigen, die zugewandert sind, noch nicht integriert sind. Das heißt, die
gesellschaftliche Integration kann in der Schule stattfinden, nicht aber die Schaffung der
Voraussetzungen für die gesellschaftliche Integration, soweit sie durch den Unterricht
vermittelt werden. Das muss auf andere Weise geschehen.
Ich habe das nur als ein Beispiel verwendet. Man hat es in Deutschland in der
Vergangenheit weitgehend abgelehnt, solche Fragen anzusprechen, weil man die Sorge hatte,
sich dem Vorwurf auszusetzen, man diskriminiere Ausländer. Wir diskriminieren Ausländer,
wenn wir über diese Fragen nicht diskutieren; denn dann verselbstständigen sie sich, und
wenn sie sich verselbstständigen, entziehen sie sich der gesetzlichen und der politischen
Regelung auf allen Ebenen.
Deshalb - Herr Kollege Schily, ich habe Ihnen das schon angekündigt - sehen wir uns,
sieht sich der Freistaat Sachsen außer Stande, dem heute vorgelegten Gesetz zuzustimmen.
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