Rede der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen
Kerstin Müller zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag
vom 1. März 2002[1]
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deshalb
brauchen wir endlich ein Zuwanderungsgesetz, das
zugleich modern und humanitär ist und die Integration fördert. Ich möchte Sie alle noch
einmal daran erinnern: Das war vor einem Jahr bei den Kirchen, den Gewerkschaften und den
Arbeitgeberverbänden Konsens. Es war auch in diesem Hause Konsens. Auch die
Zuwanderungskommission der CDU, Herr Merz, unter
Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten räumte mit der alten Lebenslüge auf,
die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Wir alle kennen die Ergebnisse der
Süssmuth-Kommission, an der alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen beteiligt
waren.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist doch falsch! Das war keine von
den Parteien berufene Kommission!)
Ich möchte deshalb an dieser Stelle Frau Professor Dr. Rita Süssmuth noch einmal ganz
ausdrücklich danken. Diese Kommission hat unter ihrer Leitung den Weg für einen
parteiübergreifenden Konsens bereitet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Wenn Sie nun, Herr Merz und meine Damen und Herren von
der Union, heute diesen Gesetzentwurf ablehnen, dann ignorieren Sie nicht nur die
Beschlüsse Ihrer eigenen Partei. Sie machen vielmehr Folgendes: Sie verlassen damit den
Konsens, den wir vor einem Jahr in der Gesellschaft und in diesem Hohen Haus hatten. Sie
stellen sich damit ins gesellschaftliche Abseits.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie werden schon sehen, wer im Abseits steht, Frau Müller! Sie
werden bald die Regierung verlassen!)
Es ist Folgendes passiert: Ihre Partei, Herr Merz, die
CDU, ist mit dem Kanzlerkandidaten Stoiber endgültig auf CSU-Kurs eingeschwenkt, die als
einzige Partei in diesem Land noch nie ein Zuwanderungsgesetz wollte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Sie ignorieren die Forderungen der Wirtschaftsverbände. Sie stellen sich gegen die
Kirchen. Kardinal Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonfe-renz, und Präses
Kock, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, haben Sie gestern noch einmal
ausdrücklich davor gewarnt, das Thema zu einer Sache der Stammtische zu machen.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Haben Sie beim § 218 auch auf die Bischöfe gehört?)
Eine solche Auseinandersetzung ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen, wie Ihr
Kollege Heiner Geißler gesagt hat. Recht hat er. Aber genau das tun Sie, wenn Sie heute
dieses Gesetz ablehnen. Mit Stimmungsmache gegen die
hier lebenden Migranten und Flüchtlinge wollen Sie im Wahlkampf auf Stimmenfang gehen.
Sie stiften damit sozialen Unfrieden in dieser Gesellschaft. Das ist das Unverantwortliche
an Ihrem Verhalten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es ist auch in der Sache unbegreiflich. Wir haben allein 18 Änderungsanträge von Ihnen
aufgenommen. Wir haben elf zentrale Änderungsanträge des Bundesrates aufgegriffen. Wir
sind Ihnen damit noch einmal ein wirklich großes Stück entgegengekommen. Ich kann Ihnen
versichern: Das ist gerade uns Grünen nicht leicht gefallen. Aber wir haben gesagt: Im
Interesse der Sache wollen wir uns auf Ihre Vorschläge zubewegen, weil es uns wirklich
ein Anliegen ist, dass es noch in dieser Legislaturperiode ein Zuwanderungsgesetz gibt.
(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Gleich kommen mir die Tränen!)
Jetzt komme ich zu den Einzelforderungen, Herr Merz:
Sie und Ihre Partei haben gefordert, im Gesetz müsse das Ziel der Zuwanderungsbegrenzung
stehen. Hier habe ich das Papier von Herrn Bosbach. Exakt diese Formulierung haben wir in
das Gesetz übernommen.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Auf der Verpackung steht es!)
Zum Thema Arbeitsmarkt. Sie haben gesagt, wir sollen den Bedarf nicht an der regionalen
Lage des Arbeitsmarktes orientieren. Wir haben Ihre Forderung exakt in das Gesetz übernommen.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist falsch! Das wissen Sie auch!)
Herr Merz, Sie haben gesagt - das steht auch in diesem
Papier -, Sie wollen schärfere Kriterien für die Niederlassung ausländischer
Unternehmer. Ich habe Herrn Bosbach gestern Abend im ZDF zugehört: Sie fordern von einem
ausländischen Unternehmen für die Niederlassung 1 Million Euro und die Schaffung von
zehn Arbeitsplätzen. Auch diese Forderung haben wir exakt in das
Gesetz übernommen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist die einzige!)
Das sind Ihre drei Forderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
Herr Merz hat eben gesagt: Wir verabschieden uns von
der Anwerbestoppverordnung. Ich muss wirklich sagen: Das ist eine völlig verstaubte
Verordnung. Ihre Forderung, sie beizubehalten, ist abenteuerlich. Das wäre nämlich die
Rückkehr in die Gastarbeiterära der 60er-Jahre. Genau die wollen wir hinter uns lassen.
Wir wollen die Zuwanderung modern gestalten. Das ist der Kern des Gesetzes. Deshalb werden
wir daran natürlich nichts ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Ich komme zur Senkung des Nachzugsalters. Sie haben darauf bestanden, dass wir das
Nachzugsalter noch einmal absenken. Wir, die Grünen - die EU-Kommission im Übrigen auch
-, fordern, dass wir es heraufsetzen. Wir haben uns darauf verständigt, es auf zwölf
Jahre zu senken. Das ist aus unserer Sicht ein sehr weitreichendes Angebot, das bis an
unsere Schmerzgrenze geht. Das sage ich Ihnen ganz offen.
(Rüdiger Veit [SPD]: Und darüber hinaus!)
Sie empören sich jetzt darüber, dass im Einzelfall auch ein Kind zwischen zwölf und 18
Jahren nachziehen kann, wenn es das Kindeswohl - das muss man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen -, die familiäre Situation und die Integrationsperspektive - diese drei
Voraussetzungen müssen vor liegen - erfordern. Ich möchte wissen, wie Sie das Ihrer
Klientel vermitteln wollen. Das ist inhuman und familienfeindlich. Herr Sterzinsky hat zu
Recht gesagt, dass Ihre Nachforderung bei diesem Punkt eine Schande für diese
Gesellschaft ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Herr Merz, gerade haben Sie wieder gesagt, dass mit
dieser neuen Vorschrift dem Kindernachzug Tür und Tor geöffnet würden. Auch heute gibt
es im Gesetz bereits eine Ermessensvorschrift. Der
kleine Unterschied besteht darin, dass das relevante Alter im heute geltenden Gesetz 16
Jahre ist.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Frau Müller, Sie wissen doch, dass es keine Verbesserung ist!)
- Natürlich ist es eine. - Sie haben weder im Bundestag noch im Bundesrat eine Mehrheit,
um das Nachzugsalter zu senken. Wir machen Ihnen einen Vorschlag zur Senkung des
Nachzugsalters.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Mit neuen Ausnahmegenehmigungen!)
Sie sind dagegen, weil es eine Ermessensvorschrift ist. Das versteht in der Gesellschaft
niemand mehr. Jeder weiß, dass Sie dieses Gesetz
einfach nicht wollen und deshalb Vorwände suchen, um es abzulehnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger [FDP])
Sie und Herr Innenminister Schönbohm - er ist anwesend - haben gefordert, dass sich der
Bund stärker an den Integrationskosten beteiligen soll. Das machen wir, und zwar in einem
Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel. Dies steht auch genauso in dem Papier von
Herrn Bosbach. Nun sagen Sie, dass Ihnen das nicht reicht. Sie müssen einen Vorschlag
machen, wie wir es finanzieren sollen. Seit Herr Stoiber aus Bayern Kanzlerkandidat ist,
macht er ausschließlich Vorschläge, deren Realisierung etwas kostet, sagt aber nie, wie
man sie finanzieren soll. Die Länder und wir haben diese finanziellen Spielräume nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Ich komme zur Genfer Konvention. Wir haben in dem Gesetz
noch ein mal klargestellt, dass wir, wie es die Genfer Konvention vorsieht, die nicht
staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung anerkennen. Damit weiten wir die
Zuwanderung nicht aus und wir schaffen auch keine neuen Asylgründe, wie Sie immer wieder
demagogisch behaupten. Die Flüchtlinge erhalten ein gesichertes Aufenthaltsrecht, wie es
auch in allen anderen europäischen Ländern üblich ist; mehr nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es geht dabei um schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Es geht um die
Genitalverstümmelungen an Frauen. Ich will Ihnen wirklich eines sagen: Hören Sie endlich
auf, das Schicksal verfolgter Frauen für Ihre Agitation in dieser Gesellschaft zu
missbrauchen! Die Frauen in Ihrer Partei sind doch auch dafür, dass wir dort etwas tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS - Friedrich Merz [CDU/CSU]:
Demagogie! Unglaublich!)
Wir machen Ihnen heute ein sehr weitreichendes und letztes Kompromissangebot. Wenn es
Ihnen um die Sache ginge - das geht es Ihnen aber nicht -, müssten Sie heute zustimmen.
Wir haben heute im Deutschen Bundestag die Chance auf einen wirklich historischen
Kompromiss. Ich appelliere an die Sachorientierten und Vernünftigen in der Union: Opfern
Sie einen Konsens in der Zuwanderung nicht einem kurzsichtigen wahltaktischen Kalkül!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Eines möchte ich hier noch einmal sagen, weil viele darüber geschrieben haben: Sie
irren, wenn Sie glauben, dass man nach einer Wahlschlacht um die Zuwanderung - die wird
es, wenn Sie es ablehnen, geben - in der folgenden Legislaturperiode wieder bei null
anfangen könne.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bei unter null!)
Das glaube ich nicht. Wenn das Gesetz jetzt
scheitert, dann ist die Chance auf ein Zuwanderungsgesetz in dieser Gesellschaft auf Jahre
hinaus verspielt. Für das, was dann passiert, tragen Sie die Verantwortung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mein
Gott! - Michael Glos [CDU/CSU]: Immer noch besser als dieses Gesetz!)
Herr Schönbohm, zum Schluss möchte ich noch einmal an die Länder appellieren. Wir haben
alle Forderungen, die Herr Ministerpräsident Stolpe in seiner Rede am 20. Dezember vor
dem Bundesrat aufgezählt hat, in dem Gesetzentwurf berücksichtigt. Ich betone: alle. Ich
gehe davon aus, dass Ministerpräsident Stolpe nicht einfach Reden hält, die er nicht mit
Ihnen abgestimmt hat; denn Sie hier haben ja ein gutes Verhältnis zueinander. Ich möchte
gerne, dass Sie dazu Stellung nehmen. Wir haben alle Forderungen aufgenommen. Deshalb
appelliere ich an die Länder: Folgen Sie nicht dem Blockadekurs von Herrn Stoiber, nehmen
Sie Ihre Verantwortung wahr und stimmen Sie am 22. März diesem Gesetzentwurf zu, und zwar
im Interesse der Flüchtlinge und Migranten und im Interesse des sozialen Friedens in
diesem Land!
Danke schön.
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
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